Familie und Beruf Früh an fangen

Andere Länder machen vor, wie sich Familie und Beruf zusammenbringen und die vorschulische Bildung verbessern lassen. Die Initiativen der Bundesregierung sind nur ein Anfang. 

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Wenn es um die Betreuung ihrer Kinder geht, ist Monika Heil froh, dass sie im Ausland lebt. Für ihren Arbeitgeber, einen internationalen Lebensmittelkonzern, arbeitete die promovierte Ernährungswissenschaftlerin bereits in Frankreich und der Schweiz – und jetzt in Moskau. Ihr Fazit: „Nirgendwo ist es so schwierig, Job und Kinder zu vereinbaren wie in Deutschland.“ 

Mit Schrecken erinnert sich die Mutter von zwei Kindern an die Zeit, als sie nach Deutschland zurückkam und erfolglos einen Krippenplatz für ihren damals sechs Monate alten Jüngsten in Kelkheim bei Frankfurt suchte: „Da musste ich mir Fragen anhören, warum ich denn ganztags arbeiten möchte.“ Entnervt engagierte sie schließlich eine Kinderfrau und holte sich ein Au-Pair in den Haushalt. 

Ähnliche Erfahrungen machte die neue Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU), die von 1992 bis 1996 im kalifornischen Silicon Valley lebte, wo ihr Ehemann an der Universität Stanford forschte. „Ohne die kinderfreundliche Atmosphäre bei der Arbeit, auf der Straße, in den Supermärkten“, so die Ministerin, „hätte ich nie gewagt, sieben Kinder zu bekommen.“ 

Was anderswo reibungslos funktioniert, ist in Deutschland immer noch ein Problem: Familie und Beruf lassen sich hier nur schwer miteinander vereinbaren. „Wer mit Kindern in Deutschland berufstätig sein will, braucht viel Fantasie, Kreativität, Managementfähigkeiten und starke Nerven“, sagt Christine Henry-Huthmacher, Koordinatorin für Frauen und Familienpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung. 

Das will die neue Bundesregierung nun ändern. Mit einer Milliarde Euro jährlich will die große Koalition von 2007 an ein Elterngeld finanzieren, um im ersten Jahr nach der Geburt den Verdienstausfall bis maximal 1800 Euro monatlich abzufedern. Weitere 460 Millionen Euro sind vorgesehen, damit doppelverdienende Eltern den Aufwand für die Kinderbetreuung als Werbungskosten bei der Einkommensteuer abziehen können. Darüber hinaus will der Bund den Kommunen jährlich 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung stellen, um bis 2010 eine flächendeckende Betreuung auch von Kleinstkindern sicherzustellen. 

Immer lächelnd, aber hart in der Sache geht Familienministerin Ursula von der Leyen keinem Streit aus dem Weg. Der Krach mit Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) um mehr Geld für die Kinderbetreuung war nur der Anfang. „Wir müssen unsere Einstellungen und Klischees überprüfen“, sagt von der Leyen, die sich nichts weniger vorgenommen hat, als » die Familienpolitik „vom Rand in die Mitte einer zukunftsorientierten Gesellschaftspolitik zu rücken“. Der Ministerin geht es um die „kulturelle Akzeptanz, dass Mütter arbeiten und Kinder in der Gesellschaft willkommen sind“. 

Sie weiß allerdings auch, dass sie nicht erfolgreich sein kann, wenn es ihr nicht gelingt, auch die Unternehmen einzubinden: „Aus dem ,nice to have‘ von familienfreundlichen Arbeitsplätzen muss ein ,must be‘ werden.“ 

Familienpolitik hat auf einmal einen hohen Stellenwert auf der Agenda – sowohl bei der Union als auch bei den Sozialdemokraten. Beide haben ihr Herz für die Familie entdeckt und wetteifern mit Vorschlägen, wie Frauen mit staatlicher Hilfe Kinder und Beruf in Einklang bringen können. „Es ist höchste Eisenbahn, dass das Thema ,Familie‘ jetzt endlich breit diskutiert wird“, sagt auch Bundespräsident Horst Köhler und fordert von den Politikern Mut für „weitere Anstrengungen“. 

Damit steht vor allem die Union vor einem Kulturbruch. Denn noch hängen viele Konservative einem gesellschaftlichen Leitbild aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an, das Mütter idealisiert, die zu Gunsten ihrer Kinder auf den Beruf verzichten. Das Kindergeld hat für sie vor allem die Funktion, die dadurch entstehenden sozialen Härten abzumildern. 

Bei diesem traditionellen Verständnis von Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist es nur konsequent, dass sich Staat und Gesellschaft weit gehend aus der Betreuung der Kinder heraushalten. Wollen Mütter dennoch ihrem Beruf nachgehen, wird das Problem der Kinderbetreuung in den individuellen Verantwortungsbereich der Eltern abgeschoben. 

Trotz Kritik an dem traditionellen Frauenbild hatte auch die rot-grüne Bundesregierung nur wenig an diesem Zustand geändert. Für Gerhard Schröder, ganz deutscher Macho, war Frauen- und Familienpolitik eh nur „Gedöns“. Und die sozialdemokratische und grüne Frauenbewegung fokussierte sich vor allem auf die Selbstverwirklichungschancen der Frau und ihre Karrieremöglichkeiten im öffentlichen Dienst – Kinder spielten nur eine geringe Rolle. 

An den strukturellen Defiziten konnten auch die Vorstöße der früheren Familienministerin Renate Schmidt und die Erhöhung des Kindergeldes nur wenig ändern. Familienpolitik galt als eine Form der Sozialpolitik und wurde auf staatliche Transferzahlungen (Erziehungs- und Kindergeld) sowie Steuersubventionen (Kinderfreibeträge) reduziert. 

Diese Melange aus konservativem „Die Frau gehört ins Haus“-Standpunkt und linker Frauenemanzipation („Mein Bauch gehört mir“) hat ein gesellschaftliches Klima zu verantworten, in dem Kinder allenfalls als Kosten und Karrierebremse vorkamen. So klagen heute noch immer Frauen darüber, dass es ihnen schwer gemacht wird, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Es fehlt an geeigneten Betreuungsangeboten, oder, wenn es sie gibt, sind die Öffnungszeiten von Kitas und Kindergärten zu starr und entsprechen nicht dem Arbeitsrhythmus. Deutschland wurde so mit einer Geburtenrate von 1,36 Prozent zum Schlusslicht in Europa. Von den deutschen Frauen zwischen 34 und 40 sind 30 Prozent kinderlos, von den Akademikerinnen sogar über 40 Prozent – doppelt so viel wie in Frankreich. 

Noch immer bleibt ein Großteil der Frauen, werden sie Mütter, notgedrungen zu Hause. In rund der Hälfte aller Familien mit Kindern unter sechs Jahren verdient allein der Mann. Und wenn sie doch mit Kindern im Vorschulalter einen Job ausüben, dann zu knapp 80 Prozent in Teilzeit (siehe Tabelle Seite 29). Insgesamt arbeiten in Deutschland nur 66 Prozent aller Frauen – deutlich weniger als in Schweden oder in den USA, wo der Anteil der berufstätigen Frauen bei 77 beziehungsweise 69 Prozent liegt (siehe Grafik). 

Inzwischen beeinträchtigt der Rückgang der Geburtenrate und die mangelhafte Integration der Mütter ins Arbeitsleben unser Wirtschaftswachstum, weil der Anteil der verfügbaren Arbeitskräfte abnimmt (siehe Konjunkturkommentar Seite 39). Eine moderne Familienpolitik hat insofern nichts gemein mit einer Sozialpolitik, die mithilfe von Umverteilung soziale Nötebeseitigen will. Sie ist vielmehr wichtiger Teil einer auf Wachstum orientierten Wirtschaftspolitik. 

Damit Familienpolitik Wachstum fördert, muss sie nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern auf drei Ebenen ansetzen: 

Bessere finanzielle Förderung von Eltern: Um die Geburtenrate zu erhöhen, sind gezielte Hilfen nötig, um die Kosten für die Kinder zu senken. Durch eine Steigerung der familienpolitischen Leistungen um ein Prozentpunkt des Bruttoinlandsproduktsist nach einer neuen Studie des Münchner Ifo-Instituts „eine Erhöhung der Fertilitätsrate um etwa 0,2 Kinder je Frau erreichbar“. Allerdings sagt die Höhe der Gelder noch nichts über ihren effizienten Einsatz. So lobt die Studie Frankreich dafür, dass dort das Kindergeld für das dritte Kind sehr viel höher ausfällt als für die ersten zwei, was die „Mitnahmeeffekte“ gering hielte (siehe Kasten Seite 30). Für Deutschland dagegen empfiehlt die Studie die Abschaffung des Ehegattensplittings, das Ehepaaren unabhängig von der Kinderzahl gewährt wird. Würde das daraus freiwerdende Geld dagegen in entsprechend höhere Kinderfreibeträge oder ein höheres Kindergeld fließen, würde dies die „Fertilitätsrate erhöhen“. 

Bessere Kinderbetreuung: Damit die Frauen nach der Geburt eines Kindes nicht an den Herd abgedrängt werden, sondern in den Beruf zurückkehren können, sind mehr Krippen und Kindergärten notwendig. Wissenschaftlern der OECD zufolge beeinflusst kein Faktor die Berufstätigkeit von Frauen so stark wie das Angebot „an bedarfsgerechten und verlässlichen Betreuungsmöglichkeiten“. Wobei nicht Aufbewahrungsanstalten gefragt sind, sondern dabei das kindgemäße Lernen gefördert werden sollte. 

Auch die Unternehmen müssen mitspielen: Sie müssen die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen so gestalten, dass sie auch für Frauen mit Kindern infrage kommen. 

Mit ihrem Milliarden-Programm für das Elterngeld und den Steuererleichterungen hat Ministerin von der Leyen auf der Ebene der individuellen Förderung einen wichtigen Schritt getan, um durch gezielte Finanztransfers das Kinderkriegen wieder attraktiver zu machen. Daran ändert auch der Zoff zwischen den Koalitionspartnern in der vergangenen Woche nichts. Unterschiedliche Wertvorstellungen der Koalitionspartner und populistische Profilierungsgelüste sorgten dafür, dass die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten trotz des bescheidenen Volumens von 460 Millionen Euro auf einmal zum heißumkämpften Politikum hochkochte. 

Die Koalition hatte auf ihrer Klausurtagung Anfang Januar beschlossen, dass Doppelverdienerpaare bis zu 4000 Euro an Betreuungsaufwand als Werbungskosten von der Steuer abziehen dürfen, und zwar für 7- bis 14-jährige Kinder ab dem ersten Euro, für jüngere Kinder aber erst ab 1000 Euro. 

Keine Woche später forderte der SPD-Vorstand auf seiner Klausur in Mainz die Absetzbarkeit schon ab dem ersten Euro auch für die Jüngsten – um das soziale Profil der SPD als Anwalt der kleinen Leute zu schärfen. Die CSU dagegen will, dass auch Eltern mit nur einem Verdiener in den Genuss der Steuervergünstigungen kommen sollen – gemäß ihrem konservativen Leitbild, dass sich Mütter ausschließlich um die Kinder zu kümmern haben. Dieser Argumentation schloss sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag dieser Woche an. 

Wichtiger als dieser kleinliche Streit wird sein, wie von der Leyen mit der zweiten Herausforderung klarkommen wird: mehr Betreuungsmöglichkeiten zu fördern. Hier liegt Deutschlands hauptsächliches Defizit. „Wir sind ein Kinderbetreuungs-Entwicklungsland“, sagt Karen Pfundt, Autorin des Buches „Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben“. 

Zwar haben inzwischen fast 90 Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen einen Kindergartenplatz, nachdem 1996 ein Rechtsanspruch darauf eingeführt wurde. Doch für jüngere Kinder sieht es nach wie vor schlecht aus: Nur für zehn Prozent der Kinder unter drei Jahren gibt es einen Krippenplatz. In Westdeutschland werden sogar nur drei Prozent aller Kleinkinder in Krippen betreut. Hortplätze für die Sechs- bis Elfjährigen gibt es nur für fünf Prozent der Schulkinder. Im Osten ist die Betreuungsstruktur, ein Relikt aus DDR-Zeiten, zwar deutlich besser – doch unter dem Diktat leerer öffentlicher Kassen wird auch dort gespart. 

Selbst wenn die Eltern einen der knappen Betreuungsplätze ergattert haben, löst das nur ein Teil ihres Problems. Denn in der Regel, klagt Barbara Locher-Otto, Vorsitzende des Verbandes berufstätiger Mütter, „sind die Öffnungszeiten viel zu unflexibel“. Im Westen schließen 76 Prozent aller Kindergärten um die Mittagszeit – was selbst eine Teilzeitstelle häufig unmöglich macht. Kindertagesstätten machen um fünf Uhr dicht, freitags oft schon zwei Uhr. Locher-Otto: „Das geht an den Realitäten der heutigen Arbeitswelt völlig vorbei.“ 

So bleibt den meisten Eltern nur Eigeninitiative: Sie engagieren Tagesmütter und Au-Pairs, verplanen Großeltern oder gründen Elterninitiativen zur Betreuung ihres Nachwuchses. Wer es sich leisten kann, beschäftigt eine sozialversicherte Kinderfrau – in Deutschland ein teures Vergnügen: „Eine Frau, die selber arbeiten geht, muss anschließend fast ihr ganzes Nettoeinkommen an die Kinderfrau abliefern“, sagt die Berliner Ökonomin und Buchautorin Bärbel Kerber. 

Voll Neid blicken deutsche Mütter denn auch ins Ausland. In Frankreich gibt es ein flächendeckendes Netz von Krippenplätzen und Ganztagsschulen. In Schweden und Dänemark werden 50 beziehungsweise 64 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren in staatlichen Einrichtungen oder von kommunal beschäftigten Tagesmüttern betreut. Die Öffnungszeiten sind an die Arbeitszeiten der Eltern angepasst. In Großbritannien haben 34 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Krippenplatz. 

Doch andere Länder halten nicht nur ein besseres Betreuungsangebot bereit, sie haben auch die besseren pädagogischen Konzepte dafür entwickelt. In Amerika etwa können die Kleinen bereits ab dem dritten Lebensjahr die so genannte „Pre School“ besuchen, wo ihnen die Lehrer Lesen und Schreiben beibringen. In den Niederlanden beginnt die Schulpflicht nicht wie in den meisten deutschen Bundes- » ländern erst mit dem sechsten, sondern bereits mit dem fünften Lebensjahr. Und in Frankreich besuchen alle Kinder ab drei Jahren die so genannte Ecole Maternelle, wo sie nach Lehrplan Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. So können die meisten Sechsjährigen beim Übergang in die Grundschule bereits lesen und schreiben. 

In Deutschland jedoch steht noch immer die bloße Aufbewahrung der Kinder im Mittelpunkt, ihre Bildung kommt fast überall zu kurz. Gerade mal ein Drittel der deutschen Kindertagesstätten leistet gute Arbeit, hat der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tietze von der Freien Universität Berlin in einer Studie herausgefunden. 

Zwar hat die damalige Bundesregierung 1996 einen gesetzlichen Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz geschaffen, den Kommunen dafür aber keine Finanzmittel zugewiesen. Die Städte und Gemeinden halfen sich damit, dass sie den einzelnen Einrichtungen mehr Kinder zuschoben. Kamen zuvor meist zwischen 15 und 20 Kinder auf einen Betreuer, sind Gruppen mit 25 Kids heute die Regel. 

Ein vernünftiges Arbeiten mit den Kindern ist so kaum möglich. Euphemistisch bezeichnen viele Kita-Leiterinnen ihr Konzept als „freies Spielen“, was allzu oft heißt: Die Kinder können tun und lassen, was sie wollen. Manche Kindergärten haben die Trennung in Gruppen gleich ganz aufgehoben – das spart Personal. 

Blockiert aber auch Chancen. Denn in kaum einer anderen Phase ihrer Entwicklung sind Kinder so aufnahmefähig und wissbegierig wie bis zum sechsten Lebensjahr. Dabei geht es nicht um Pauken, sondern darum, die Neugier und den Forscherdrang der Kinder spielerisch zu nutzen und ihren Sprachschatz zu vergrößern. 

Dazu müsste allerdings das Personal in den Kindertagesstätten besser ausgebildet werden. „Deutschland ist eines der wenigen Länder, die keine akademische Ausbildung für Erzieherinnen im Vorschulbereich verlangen, sondern nur eine Fachschule“, beklagt Michael Kloss, Bildungsexperte bei McKinsey. Kloss plädiert stattdessen für ein dreijähriges Bachelor-Studium. 

Mit höherer Qualifikation müssten dann aber auch die Gehälter des Kita-Personals angehoben werden. Geschätzte Mehrkosten: 2,3 Milliarden Euro. Zudem sollte, wie in anderen Ländern, die Zuständigkeit für Kitas, Kindergärten und Krippen nicht beim Familienministerium, sondern beim Bildungsressort liegen. 

Immerhin hat der Pisa-Schock einige Politiker wachgerüttelt. So hat inzwischen Hessen einen Lernplan auf den Weg gebracht, in dem für Kindertagesstätten Bildungsziele festgeschrieben sind. Der Kita-Lernplan ist mit den Curricula der Grundschulen abgestimmt. „In Deutschland ist die Trennung zwischen Kindergärten und Grundschulen immer noch viel zu starr“, sagt der Erziehungswissenschaftler Wassilios Fthenakis. 

Um die Zahl der Betreuungsplätze und die Qualität des Angebots zu steigern, sind gewaltige Investitionen nötig. Gerade mal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wendet Deutschland derzeit für die vorschulische Betreuung und Bildung auf. Die OECD hält ein Prozent für angemessen. In Frankreich liegt die Quote immerhin bei 0,7 Prozent (siehe Grafik Seite 26). » 

Die Unternehmensberatung McKinsey hat ausgerechnet, dass jedes Jahr zusätzlich 6,5 Milliarden Euro ausgegeben werden müssten, um Betreuung und Bildung von Kindern im Vorschulalter spürbar zu verbessern. Allein 2,1 Milliarden Euro wären nötig für den Ausbau des Angebots für unter Dreijährige, um jedem vierten Kind in dieser Altersgruppe einen Betreuungsplatz zu verschaffen. 

Die Investitionen würden langfristig Früchte tragen. So kommt eine Untersuchung über den ökonomischen Nutzen von Kindertagesstätten, die die Stadt Zürich in Auftrag gab, zu dem Ergebnis: Pro investierten Franken fließen mittelfristig vier Franken an die Gesellschaft zurück. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat errechnet: Wenn nur 1000 Akademikerinnen mit Kleinkind dank eines ganztägigen Betreuungsplatzes einen gut bezahlten Job annehmen können, fließen rund acht Millionen Euro mehr an Einkommensteuer und 10,4 Millionen Euro mehr an Sozialversicherungsbeiträgen. Das zusätzlich eingestellte Betreuungspersonal würde nochmals 600 000 Euro an den Fiskus und zwei Millionen Euro an die Sozialkassen zahlen. Demgegenüber stehen höhere Lohn- und Betriebskosten der öffentlichen Hand von neun bis zehn Millionen Euro – unter dem Strich also ein lohnendes Geschäft für die Gesellschaft. 

Das belegt auch eine Modellrechnung der Prognos AG für das Bundesfamilienministerium. Danach könnte eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Bruttoinlandsprodukt im Zeitraum von 2006 bis 2020 um 248 Milliarden Euro steigern, die Produktivität der Erwerbstätigen um 1,6 Prozent erhöhen und rund 221 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Die Arbeitslosenversicherung würde kumuliert 54 Milliarden Euro einsparen. Vor allem aber dürften laut Prognos bis zum Jahr 2020 fast 990 000 Kinder mehr geboren werden – und die Geburtenrate in Deutschland auf 1,56 Geburten pro Frau ansteigen. 

Auch die Wirtschaft würde von mehr Familienfreundlichkeit profitieren. Studien belegen, dass in den Unternehmen nicht nur die Fluktuation sinkt. Arbeitnehmer, die ihre Kinder gut versorgt wissen und flexible Arbeitszeitregelungen nutzen können, „haben geringere Fehlzeiten, entwickeln eine höhere Produktivität und fühlen sich dem Unternehmen stärker verbunden“, wirbt der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, für eine familienfreundlichere Personalpolitik im eigenen Lager: „Das führt zu Kostensenkungen.“ 

So überrascht es nicht, dass auch die Wirtschaft das Thema entdeckt hat. Immer mehr Unternehmen richten eigene Kindertagesstätten ein. Der Arzneimittelhersteller SchwarzPharma betreibt seit Ende 2003 einen Betriebskindergarten auf dem Werksgelände in Monheim. Unternehmenschef Patrick Schwarz-Schütte, selbst Vater von vier Schulkindern, war aufgefallen, dass „junge, gut ausgebildete, engagierte und erfolgreiche Mitarbeiterinnen plötzlich aus dem Unternehmen verschwanden“. Jetzt können sie ihre Kinder ab dem Alter von vier Monaten im Kinderhaus Mäuseturm ganzjährig von 7 bis 18 Uhr betreuen lassen. Zwei amerikanische Erzieherinnen sorgen für einen zweisprachigen Alltag der 45 Kinder. Seit vergangenem Jahr bietet das Unternehmen zusätzlich eine Betreuung von Schulkindern in den Sommerferien an. 

Der Schwarzwälder Sensorenhersteller Sick beteiligt sich an einem Kinderhaus in der Gemeinde Waldkirch und hat dort 15 Kita-Plätze für seine rund 1200 Mitarbeiter am Stammsitz reserviert. Zudem bietet das Familienunternehmen, das im vergangenen Jahr unter die zehn besten deutschen Arbeitgeber gewählt wurde, an den Nachmittagen auf dem Werksgelände eine Hausaufgabenbetreuung für Schulkinder ab sechs Jahren an. Seit August vergangenen Jahres könnenEltern ihre Kinder mit in die Kantine zum Essen nehmen. „Wenn Sie als Mittelständler qualifizierte Mitarbeiter gewinnen wollen, müssen Sie ein familienfreundliches An-gebot haben“, sagt Sick-Personalchef Rudolf Kast. 

Die Stadt Stuttgart versucht sogar, mit einer familienfreundlichen Kommunalpolitik ihre Attraktivität als Wirtschaftsstandort zu erhöhen. „Wir wollen die kinderfreundlichste Stadt in Deutschland werden“, postuliert Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Kinderspielplätze statt Parkplätze, Seniorenheime verbunden mit Kindertagesstätten – das sind nur einige Beispiele, wie Schuster ein kindergerechtes Umfeld schaffen will (siehe Interview Seite 28). 

Überrascht erlebt der umtriebige Kommunalpolitiker, „wie engagiert die Wirtschaft mitzieht“. Zahlreiche Unternehmer wie der Verleger Stefan von Holtzbrinck, in dessen Verlagsgruppe auch die WirtschaftsWoche erscheint, bringen sich im Kuratorium Kinderfreundliches Stuttgart ein und schieben dort etwa Musikpatenschaften für Kindergärten an. Ihr Engagement im Kuratorium begründet die Vorsitzende der Geschäftsführung des Maschinenbauers Trumpf, die vierfache Mutter Nicola Leibinger-Kammüller: „Wir können es uns heute schon aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht mehr leisten, auf gut ausgebildete Frauen zu verzichten.“ 

Auf das Engagement der Wirtschaft hofft auch Ministerin von der Leyen. Zusammen mit dem Chef der Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants, Burkhard Schwenker, stellte sie vergangenen Dienstag das Programm „Erfolgsfaktor Familie, Unternehmen gewinnen“ vor. Ein Baukasten, in dem Personalverantwortliche praxisnahe Konzepte finden von flexiblen Arbeitszeitregelungen bis zu Leitfäden für den Wiedereinstieg nach der Elternzeit. Bis zum Jahresende sollen für dieses Programms 1000 Unternehmen gewonnen werden. 

Unternehmensberater Schwenker setzt dabei nicht auf Gutmenschentum, sondern auf das Eigeninteresse der Unternehmen: Es rechne sich, die teuer ausgebildete Humanressource nicht zu verlieren. Integrierte Mütter zeichneten sich zudem durch höhere Motivation und Einsatzbereitschaft aus und brächten durch die Kindererziehung oft mehr Sozialkompetenz und Managementfähigkeiten ein. Schwenker: „Der Erfolgsfaktor Familie wird von den Unternehmen bisher unterschätzt.“ 

matthias.kamp@wiwo.de, bert losse,christian ramthun | Berlin, annette ruess 

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