In Zeiten sogenannter Fake News kann man sich nicht mehr auf die schöne Formel des Nullmediums von Hans Magnus Enzensberger zurückziehen. Enzensberger argumentiert in seinem Artikel vom Mai 1988 damit, dass Fernsehen eben nicht der Manipulation dienen kann, weil der Zuschauer sich dieser durch Abwahl jederzeit entziehen könne. Wörtlich schreibt er: „Der Zuschauer ist sich völlig darüber im klaren, daß er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation, und in dieser Überzeugung läßt er sich nicht erschüttern. Gerade das, was ihm vorgeworfen wird, macht in seinen Augen den Charme des Nullmediums aus.“ Der Artikel erschien vor der Rechtschreibreform.
Das Problem ist aber, dass Enzensberger davon ausging, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer auch Leserinnen und Leser sind und sich ihre Informationen aus gedruckten Werken holen, während sie sich vom Fernsehen nur unterhalten lassen (was ja keine Schande ist). Das entspricht der Realität nur zum Teil. Selbst der Präsident der größten Volkswirtschaft der Welt soll stolz darauf sein, nicht zu lesen (er soll es aber können). In den Vereinigten Staaten spielen die großen Fernsehsender bei Wahlen sicherlich eine große Rolle. Die Verbreitung von anspruchsvollen Tageszeitungen ist eher niedrig.
Bezogen auf die heutige Situation der Medien muss man daraus den Schluss ziehen, dass das Fernsehen mehr als ein Nullmedium ist. Es wird zur Informationsbeschaffung von vielen Bürgern genutzt. Solange es eine Auswahl gibt, kann man damit argumentieren, dass sich Qualität und die Wahrheit im Wettbewerb durchsetzen werden.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
In der Türkei scheint das nicht mehr zu gelten. Die Regierung ist dabei, die Printmedien gleichzuschalten, und das Fernsehen scheint bereits fest in der Hand der Regierung zu sein. Das gilt auch für die Sender, die der türkischen Diaspora vorgesetzt werden. Inwieweit dies zu erfolgreichen Manipulationen zum Beispiel der türkischstämmigen oder türkischen Bevölkerung in Deutschland führt, kann nicht beurteilt werden. Es steht immerhin fest, dass die Zustimmung des Präsidenten in bei Türken, die in Deutschland lebe höher ist als bei Türken in der Türkei.
Vor diesem Hintergrund muss der Vorschlag des Grünen-Parteivorsitzenden Cem Özdemir beurteilt werden, im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einen Sender für die türkische und türkischstämmige Bevölkerung hierzulande einzurichten. Özdemir schwebt natürlich ein Sender vor, der dem Bildungsauftrag des ÖR folgt und die Welt in ihren Facetten und nicht nach dem Gusto der herrschenden Regierung berichtet beziehungsweise Information zurückhält oder verfälscht. Obwohl die Qualität des ÖR in Deutschland keineswegs überragend ist, kann man den Nachrichten- und Kultursendungen doch einiges abgewinnen. Zweifelhafter sind da schon die vielen Shows, die schlechte, weil nur noch jubilierende Sportberichterstattung und die vielen Regionalsender.
Ein Sender für die russischstämmige Bevölkerung?
Insofern ist ein neuer türkischsprachiger Sender mit entsprechenden Inhalten und guter journalistischer Qualität eine sehr gute Idee. Der Sender könnte einige unabhängige türkische Journalisten, die den „Säuberungen“ der türkischen Regierung zum Opfer gefallen sind, einstellen und ein ausgewogenes Nachrichten-, Kultur- und Sportprogramm für die türkische Diaspora anbieten. Dieser Sender muss sich gar nicht als Gegenprogramm zu türkischen Sendern inszenieren. Man kann einfach ein qualitativ hochwertiges Programm anbieten, das für sich selber spricht.
Man kann mit dieser Idee sogar noch weitergehen. Denn auch das hier zu empfangende russische Fernsehen bietet weniger Information als Propaganda an. Ein Sender für die russischstämmige Bevölkerung könnte das Programmangebot des ÖR genauso abrunden wie einer für die Bevölkerung aus den Konfliktstaaten des Nahen Ostens. Auch diese Menschen habe ein Recht darauf, adäquat informiert zu werden. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Rundfunkgebühr von jedem Haushalt zu entrichten ist. Insofern sollte jeder Haushalt auch einen potentiellen Gegenwert erhalten. Vor dem Hintergrund, dass Integration sowohl eine Holschuld für die Migranten als auch unsere Bringschuld ist, ist es eigentlich erstaunlich, dass nicht schon längst jemand auf die Idee gekommen ist. Wenn das Programm sich etabliert hat, können immer mehr deutschsprachige Inhalte angeboten werden. Für überzeugte Journalisten und Fernsehmacher muss das doch eine großartige Herausforderung sein.
Finanziert werden können solche Programme durch Umschichtungen. Immerhin stehen dem ÖR etwa acht Milliarden Euro Gebührenaufkommen zur Verfügung. Dies wird für viele Redundanzen ausgegeben. Kaum jemand dürfte es bemerken, wenn einige der teuer produzierten – und oft albern deutsch wirkenden – Regionalkrimis aus Istanbul, Island oder Frankreich sowie einige der zahlreichen Fernsehshows im Programm fehlen würden. Auch auf die unkritische Olympiaberichterstattung ohne jeden Bezug zur Korruption oder zum Doping lässt sich bestimmt verzichten. Es gibt sicher noch mehr Überflüssiges als diese – zugegeben – subjektive Auswahl.
Cem Özdemir hat einen großartigen Vorstoß unternommen. Man kann nur hoffen, dass er aufgegriffen wird und dass sich genug Enthusiasten finden lassen, die ein solches Programm erstellen wollen.