Freytags-Frage
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Moral und Marktwirtschaft – kann das gutgehen?

Westliche Politiker ringen um den richtigen Umgang mit Lieferkettengesetzen. Dabei unterläuft ihnen nur allzu schnell ein folgenschwerer Fehler.

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Das deutsche Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, auch Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz genannt, ist nun zwei Monate in Kraft. Ähnliche Gesetze in anderen Ländern haben bereits eine längere Geschichte. Insgesamt nehmen die Bemühungen der westlichen Gesetzgeber, die heimischen Unternehmen zu disziplinieren und ihnen die Einhaltung von Menschenrechten, Arbeits- und Umweltstandards entlang ihrer kompletten Wertschöpfungskette nahezulegen, wenn nicht vorzuschreiben, Fahrt auf. In der Europäischen Union (EU) schreiten die Überlegungen zu einer europäischen Lieferkettenrichtlinie voran.

Gerade sozialdemokratische Politiker sind fest davon überzeugt, dass man die Unternehmen disziplinieren muss, damit diese die Einhaltung universeller Menschenrechte entlang ihrer Lieferketten beachten. Zu diesem Thema fand in Berlin jüngst eine Konferenz statt, die diesen Vorstellungen recht zu geben scheint. Es wird von Ausweichreaktionen, Verlagerung der mit dem Monitoring der Lieferketten verbundenen Kosten auf Zulieferer oder Konsumenten oder dem Rückzug aus als besonders schwierig angesehenen Standorten berichtet. Das scheint denjenigen Recht zu geben, die ein moralisches Defizit auf Märkten und im generellen Verhalten von Unternehmen sehen.

Dies ist eine einseitige und deshalb inkorrekte Perspektive. In Deutschland gibt es über eine Million Unternehmen, die sowohl für den Inlandsmarkt als auch für den Export produzieren und die ihre Vorleistungen aus der ganzen Welt beziehen. Die meisten von ihnen pflegen sehr gute Beziehungen zu ihren Mitarbeitern und Zulieferern. Sie sind sehr daran interessiert, die universellen Menschenrechte sowie Arbeits- und Umweltstandards einzuhalten. Das machen sie einerseits, weil es den moralischen Vorstellungen der Unternehmenseigner und -leitungen entspricht, andererseits weil es die Kundschaft erwartet.

Und damit sind wir beim Thema. Der Markt als Institution im doppelten Sinne – zum Ersten als Ort der Begegnung und des Austauschs und zum Zweiten als Regelwerk, innerhalb dessen dieser Austausch stattfindet – ist genauso wenig im Grundsatz moralisch oder unmoralisch wie die Marktakteure. Sie verhalten sich so, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet. Denn genau diese Gesellschaft ermöglicht ihnen die Umsätze und Gewinne, die sie und ihre Mitarbeiter brauchen. Im Sinne von Adam Smith kann man sogar davon sprechen, dass die Marktteilnehmer sich der Moral der Gesellschaft anpassen, zumindest in der mittleren bis langen Frist. Sie verdienen nämlich ihre Einkommen nur dann, wenn ihre Güter und Dienstleistungen den Qualitätsansprüchen der Kunden genügen. Hinzu kommen ihre eigenen Ansprüche an Qualität, die sie dazu bewegen, gute Produkte herzustellen und anzubieten. Zu guter Qualität gehört in einer wohlhabenden Gesellschaft zunehmend auch die Art und Weise, wie etwas hergestellt wird.

Dazu braucht es im Prinzip nicht eines erzieherisch tätigen, sozusagen schubsenden (Nudge) Staates. Viele Akteure sind intrinsisch motiviert. Diese intrinsische Motivation wird durch positive Anreize, wie Umsatzsteigerungen, gestärkt. Ob allerdings eine negative extrinsische Motivation denselben Effekt wie die eigenen Ansprüche und Gewinnmöglichkeiten haben, kann nicht sicher gesagt sein. Es könnte auch das Gegenteil passieren. Die oben angesprochene Tagung befasst sich zum Teil mit Ausweichstrategien.

Insofern wäre es in einer erstbesten Welt, in der die Einhaltung der Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit für Regierungen überall ist, überhaupt nicht nötig, den Unternehmen Vorschriften zur Beachtung der Menschenrechte entlang ihrer Wertschöpfungsketten zu machen. Es wäre in ihrem Interesse, weil sämtliche Mitarbeiter und Kunden es durchsetzen wollten. Aber die Welt ist nicht perfekt. Die meisten Regierungen verweigern ihren Bürgern die Einhaltung der Menschenrechte.

Dies hat die Regierungen des Westens dazu gebracht, ihren international tätigen beziehungsweise indirekt mit ausländischen Partnern verbundenen Unternehmen Vorschriften darüber zu machen, wie sie die Einhaltung der Menschenrechte entlang ihrer Lieferkette einfordern sollten. Sie sprechen damit die Falschen an. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass Unternehmen für das Fehlverhalten von Regierungen verantwortlich gemacht werden – dies gilt selbst dann, wenn Unternehmen so groß sind, dass sie Fehlverhalten von Regierungen provozieren können; Staaten sind souverän und können Unternehmen disziplinieren. Aus Sicht der westlichen Gesetzgeber ist es allerdings der Weg des geringsten Widerstandes. Sie können ihre Zustimmung zu universellen Menschenrechten dokumentieren, was auch ihre Wähler überzeugen könnte. Gleichzeitig müssen sie ihre steinzeitliche Entwicklungszusammenarbeit und die Entwicklungs- und Schwellenländer benachteiligende Handelspolitik nicht aufgeben. Aktionismus ersetzt hier kluge Politik.

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So betrachtet erscheint die Lieferkettengesetzgebung des Westens in einem ganz anderen Licht. Denn nun kann man zu dem Schluss gelangen, dass die Märkte und ihre Teilnehmer im Grundsatz moralischer handeln als ihre Regierungen. Letztere verschieben Verantwortung – von staatlichen Stellen zu privaten Unternehmen – und bedienen weiterhin mit höchst zweifelhaften und gegen die Ärmsten der Welt diskriminierenden Methoden starke Interessengruppen im Inland. Vielleicht sollten sich alle, die die Einhaltung der Menschenrechte wirklich wollen, noch einmal zusammensetzen und über effektive und faire Instrumente nachdenken.

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