Freytags-Frage
Quelle: dpa

Wer profitiert von steigenden Armutszahlen?

In Deutschland leben weiterhin zu viele Menschen in relativer Armut. Manche behaupten nun, es würden immer mehr werden. Das stimmt allerdings nicht. Wer also profitiert von dieser Behauptung?

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In einer reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik sollte Armut eigentlich kein Thema sein. Dennoch besteht das Armutsproblem seit Jahrzehnten, und ein signifikanter Anteil der Deutschen lebt in relativer Armut. Die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Armut ist deshalb von Bedeutung, weil absolut arme Menschen hier nicht überleben könnten und weil nicht zuletzt deshalb absolute Armut hier aufgrund der Sozialpolitik nicht vorkommt. Relative Armut wird in der Regel bei 60 Prozent des verfügbaren Durchschnitts-Nettoeinkommen der Bevölkerung angesetzt. Dies ist eine Konvention, die hier nicht infrage gestellt wird.

Relative Armut hat jedoch als Konzept einen Nachteil, weil Armut auch dann konstant bleibe, wenn sich sämtliche Realeinkommen verdoppelten und bisher Arme sich einen guten Lebensstandard leisten können. Weil alle anderen Bürger auch ihren Lebensstandard „verdoppelten“, bliebe der Abstand bestehen und die relative Position verbesserte sich nicht.

Dies zu beachten, ergibt einerseits Sinn, da die relative Position eines Menschen in der Gesellschaft sicherlich wichtig für das individuelle Wohlbefinden ist. Zum anderen muss allerdings beachtet werden, dass Armutsbekämpfung in erster Linie der Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards dienen sollte und nicht auf relative Positionierung achten sollte. Dies ist die Aufgabe unter anderem der Bildungspolitik und der Arbeitsmarktpolitik.

Das sehen naturgemäß nicht alle Akteure der Sozialpolitik so, was man sehr gut an der Reaktion auf die letzten statistischen Erhebungen erkennen kann. Denn das Statistische Bundesamt weist in neuen Auswertungen eine geringere Armut als im Jahr zuvor aus, und zwar nach allen denkbaren Kriterien. Im Jahr 2016 lebten demnach etwa 500.000 Menschen weniger als im Jahr zuvor in armen Verhältnissen. Das sind gute Nachrichten, zeugen sie doch davon, dass die gute wirtschaftliche Situation sich auch bei den Beziehern niedriger Einkommen und Sozialleistungen positiv niederschlägt.

Das heißt aber überhaupt nicht, dass die Gesellschaft sich zurücklehnen sollte. Jeder Arme ist einer zuviel. Das heißt aber auch nicht, dass man eine Verbesserung nicht würdigen oder sie gar skandalisieren sollte. Dennoch klagen Vertreter der Linken, der Grünen und der Sozialverbände über die rekordverdächtige Armut und rufen lauthals nach mehr Geld für die Armen, vermutlich über ihre Budgets. Gelegentlich ist sogar von feudalistischen Verhältnissen in der Republik die Rede, in der einige Superreiche auf Kosten aller anderen in Saus und Braus lebten. Weiter weg von der Realität kann man kaum liegen.

Damit ist ein bereits ein Problem angerissen, dass in der Sozialpolitik im Grundsatz besteht und das die übertriebenen Formulierungen der Akteure der Sozialpolitik wenigstens zum Teil erklären kann. Daneben mag man anerkennen, dass es sie ehrlich belastet, von Armut zu hören. Das geht anderen – zum Beispiel Wirtschaftspolitikern –  aber auch so, was regelmäßig nicht anerkannt wird.

Die Logik des Systems

Das fundamentale Problem ist, dass Akteure der Sozialpolitik immer vom Elend anderer leben – das ist die Logik des Systems. Wenn alle Menschen in Deutschland einen Arbeitsplatz hätten, der ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen könnte, wäre Sozialpolitik weitgehend überflüssig. Das wäre gut für die Würde der Betroffenen, weil sie für sich selber einstehen könnten und weil ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eine ganz andere wäre. Das wäre aber auch ein enormer Effizienzgewinn für die Volkswirtschaft, weil die Jobs in der Sozialpolitik eher als den Transaktionskosten einer Gesellschaft als dem produktiven Zweig der Wirtschaft zuzurechnen sind, zumindest rein technisch gesprochen.

Zusammengefasst wäre die Abwesenheit von Armut also sowohl aus humanitärer also auch aus rein wirtschaftlicher Perspektive ein Gewinn für die Gesellschaft. Sie wäre aus Sicht der heute in der Sozialpolitik Tätigen nicht so zweifelsfrei positiv zu bewerten.

Man hat dann auch den Eindruck, dass die Akteure der Sozialpolitik das ganz anders sehen. Sie scheinen sich geradezu nach Armut zu sehnen, die ihnen Jobs, Verantwortung und – nicht zu vergessen – Einfluss über die Armen gibt. Immer wieder haben sich Sozialminister stolz geäußert, wenn das Sozialbudget gestiegen ist. Dies signalisiert aber – wie oben argumentiert – eigentlich das Gegenteil von gesellschaftlichem und damit sozialem Fortschritt.

Vor diesem Hintergrund muss man die Skandalisierungen und Übertreibungen von sozialpolitisch engagierten Politikern oder Wohlfahrtsverbänden kritisch sehen. Sie treiben die Menschen den Populisten in die Arme, weil die übertriebenen Thesen selber populistisch sind, denn unausgesprochen wird eine korrumpierte und selbstsüchtige Elite für das Elend verantwortlich gemacht – die Wahrheit ist viel komplexer und hat mit vielen Versäumnissen zu tun.

Besser wäre es hingegen, Sozialpolitik mit Augenmaß und dem Gefühl für die Realitäten zu betreiben. Der Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat in dieser Woche mit Recht darauf hingewiesen, dass mehr Geld das Problem nicht löst. Es geht vielmehr um Bildung und Teilhabe. Wenn sich die Sozialpolitik hier mehr engagieren und weniger skandalisieren würde, wäre der Wunsch ihre Vertreter nach Armutsbekämpfung glaubwürdiger.

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