Gastbeitrag zum toten Jungen von Bodrum „Manchmal braucht es das Bild, um aufzurütteln“

In der Flüchtlingskrise sorgen Bilder des ertrunkenen Jungen Kurdi für Aufsehen. Sie zu zeigen, sei richtig, meint der Medienwissenschaftler Pörksen. In seinem Beitrag erklärt er, was solche Schockfotos bewirken können.

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Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. (Foto: Uni Tübingen)

Es ist ein Bild, das erschüttert. Ein kleiner Junge am Strand der türkischen Stadt Bodrum, das Gesicht den heranspülenden Wellen zugewandt. Nach dem ersten, flüchtigen Blick könnte man meinen, dass sich hier ein kleines Kind zu nah ans Wasser gelegt hat, einfach um das Meer zu schmecken. Kinder machen so etwas. Aber dieses Kind, Aylan Kurdi, drei Jahre alt, ist tot, gestorben auf der Flucht vor dem Terror im syrischen Kobane, ertrunken auf der Suche nach einer besseren Zukunft.

Es ist die dramatische Dokumentation eines Opferschicksals, das wir hier sehen – wer könnte unschuldiger sein als ein dreijähriger Junge? Es ist ein Symbolbild der Flüchtlingskrise. Und es ist ein Schandbild, das die unterlassene Hilfeleistung der europäischen Wertegemeinschaft belegt. Dieses Bild bohrt sich durch den mentalen Schutzwall der Verdrängung, der wir uns schuldig gemacht haben.

Nun gibt es eine Debatte im Journalismus und in den sozialen Netzwerken darüber, ob man ein solches Foto überhaupt zeigen darf. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die, den Pressekodex in der Hand, sagen, dass hier die Würde eines Toten verletzt wird und ein solches Foto womöglich nur Sensationsinteressen bedient. Auf der anderen Seite finden sich jene, die dieses Bild für ein Dokument der Zeitgeschichte halten und an die Informationspflicht des Journalismus erinnern.

Für beide Positionen lassen sich Argumente finden, und es wäre ein Ausdruck von Dummheit, so zu tun, als gebe es in einer ethisch-moralischen Debatte klare, selbstverständlich gültige Maximen, eindeutige Schwarz-Weiß-Positionen und als sei im Sinne letzter Eindeutigkeit eigentlich alles klar. Nein, klar und selbstverständlich ist nichts. Eben deshalb muss man diskutieren. Und der aktuell laufende Bilderstreit im Journalismus ist schon ein Wert an sich, weil Redaktionen von der „Bild“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“, vom „Handelsblatt“ bis zum „Stern“ ihre Maßstäbe offenlegen, ihre Entscheidung erklären und begründen müssen.

Das ist, im Übrigen, ohnehin die einzige Möglichkeit, die Journalisten und allen, die verlinken und posten, in der gegenwärtigen Mediensituation bleibt: die transparente Begründung des eigenen Vorgehens, nicht aber die Verhinderung von Öffentlichkeit. Denn wer wollte ein Foto unterdrücken, das längst global zirkuliert? Wer wollte tatsächlich unter den heutigen Bedingungen effektive Bildkontrolle praktizieren? Das ist vorbei, denn wir leben im Zeitalter der barrierefreien Ad-hoc-Publikation, der weitgehend unkontrollierten Streuung von Daten und Dokumenten.


„Bilder können politisch werden und eine andere Praxis initiieren“

Publikationsentscheidungen offenbaren heute nur noch, wie man sich die öffentliche Sphäre eigentlich wünscht, nicht aber, wie sie faktisch ist. Und doch: Das Foto des ertrunkenen Aylan Kurdi ist ein Bild, das wir anschauen müssen. Denn Bilder können, richtig verstanden und eingeordnet, durchaus politisch werden und nach der ersten Schockwirkung eine andere Praxis initiieren.

Das Foto des entsetzlich verletzten neunjährigen Mädchens, das vor einer Napalm-Wolke flieht, hat die Wahrnehmung des Vietnamkrieges verändert.

Die Menschen, die in einem letzten Akt der Verzweiflung, aus den brennenden Twin-Towers am 11. September 2001 in den sicheren Tod springen, haben die Grausamkeit des Terrors in einem einzigen Bild verdichtet.

Der „Kapuzenmann“ aus Abu Ghraib und der nackte Häftling, der von der Soldatin Lynndie England an einer Hundeleine über den Gefängnisboden gezerrt wird, hat die Weltgemeinschaft entsetzt – und dabei geholfen, die Folter zu beenden. Und nur am Rande: Dass das einzelne Bild sehr viel direkter und unmittelbarer zu wirken vermag, wird gerade am Folterskandal von Abu Ghraib deutlich. Die Verbrechen waren nämlich bekannt, noch bevor die Bilder und Beweisfotos publiziert wurden, die die Haupttäter stolz angefertigt hatten.

In aus dem Gefängnis geschmuggelten Notizen beschrieb schon vor der Veröffentlichung der Fotos und Foltervideos eine inhaftierte Frau, dass mehrere weibliche Gefangene vergewaltigt worden und nun schwanger seien. Sie bat irakische Widerstandsgruppen darum, das Gefängnis zu bombardieren, um ihre Schande auszulöschen. Tatsächlich schockiert hat aber nicht die Erzählung dieser Frau, der man zunächst nicht wirklich glaubte (ihr Bericht wurde später offiziell bestätigt). Wirklich schockiert haben die Fotos und Foltervideos, die unmittelbare Dokumentation des Leidens. Man mag die „visuelle Natur“ des Menschen beklagen, aber manchmal braucht es das Bild, um aufzurütteln.

Natürlich, wir können nachlesen, dass 350.000 Menschen seit Jahresbeginn versucht haben, über das Mittelmeer zu fliehen. Natürlich, wir können wissen, dass rechtsextremistische Idioten in Deutschland und anderen Ländern zündeln, den Hass schüren. Aber die 350.000 sind eine abstrakte Zahl und die Wiederkehr der Fremdenfeindlichkeit ist für die meisten Menschen in diesem Land doch ziemlich weit weg.

Das Bild von Aylan Kurdi hingegen ist auf brutale Weise konkret und im Gegensatz zum Geschriebenen nicht widerspruchsfähig, nicht diskursiv. Man kann sich ihm nicht entziehen. Es ist keine Behauptung, die sich mit sophistischer Raffinesse wegdiskutieren ließe. Es ist ein Beweis für die Unmenschlichkeit vor unserer Haustür.

Bernhard Pörksen, 46, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun das Buch „Kommunikation als Lebenskunst“ im Carl-Auer-Verlag.

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