Wie soll man einen politischen Diskurs führen mit einer Frau, die nie sagt, was sie eigentlich will und wofür sie steht? Von ihrem Herausforderer sollte man eigentlich erwarten, dass er das Spiel verdirbt. Was könnte wohl seine einzige Chance sein, wenn nicht dies: Die Merkelsche Nebelwerfer-Taktik durch furchtlose Beleuchtung der Wirklichkeit zu kontern. Ganz wie es der sozialdemokratische Urvater Ferdinand Lasalle empfahl: „Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! … Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."
Aber was tut Schulz? Auf dem derzeit zentralen, wohl alle Deutschen umtreibenden Politikfeld, der Einwanderung, unterscheidet sich der Spitzenkandidat der SPD von den Positionen der Kanzlerin nur in Details, die kaum der Rede wert sind. In seiner groß angekündigten Rede über Integration in der vergangenen Woche fordert Martin Schulz am Schluss, "für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft gemeinsam [zu] kämpfen ... Ohne ... Illusionen". Dabei wimmelt es in der Rede des Parteivorsitzenden und Möchtegern-Kanzlers von Illusionen. Das betrifft nicht nur die Einwanderungswirklichkeit, sondern auch den politischen Gegner. Vor allem, wenn er „konservativen Politikern“ (er meint offenbar die CDU und CSU) vorwirft, die „Realität“ zu „negieren“, nämlich dass wir eine „Einwanderungsgesellschaft“ seien.
Wo sind denn „diese konservativen Politiker“? Schulz wünscht sich offenbar einen Gegensatz der Vergangenheit zurück. Er würde wohl gerne gegen eine Union von Dregger und Strauß antreten. Schulz muss sich eine CDU herbeireden, die es nicht mehr gibt, um dann als vermeintliches Gegenmodell seine SPD-Positionen („bessere Chancen, mehr Beteiligung und den Abbau der Diskriminierung“) zu präsentieren – obwohl die kaum von denen der wirklichen, heute existierenden Merkel-CDU zu unterscheiden sind.
Beide, Merkel und Schulz, sind sich nämlich vor allem in einer Sache einig, die angesichts der Migrationswirklichkeit von grundlegender Bedeutung ist. Sie meinen offenbar, dass die fundamentale Unterscheidung zwischen Staatsbürger, also Staatsvolk, und allen anderen Menschen verwischt werden sollte. Beide, Merkel und Schulz und generell viele Spitzenpolitiker, sprechen seit einiger Zeit in auffälliger Weise nicht mehr von „den Deutschen“, aber auch nicht von „Bürgern“, sondern unbestimmt von „den Menschen“. In einem ihrer wohl bleibenden Zitate unterschied Merkel dabei zwischen denen, „die schon länger hier leben“, und denen, „die neu hinzugekommen sind“.
In seiner Berliner Integrationsrede betonte Schulz, er „möchte der Kanzler aller Menschen in Deutschland sein“ und mache „keine Unterschiede wie die Unionsparteien zwischen … Staatsbürgern und denjenigen, die den deutschen Pass nicht besitzen“. Wobei er das Wort Staatsbürger, das für alle politische und Demokratietheorie von zentraler und positiver Bedeutung ist, betont verächtlich aussprach. Der „deutsche Pass“ sei, so Schulz, nur „ein wichtiges Zeichen, für die Menschen, die zu unserem Land dazugehören möchten“.
Wie auch immer diese Wahlen ausgehen werden, egal ob weiterhin Merkel oder demnächst Schulz Deutschland regieren wird: Es wird ein Mensch sein, der zwar schon länger hier lebt, dem dabei aber offenbar das Bewusstsein dafür abhanden gekommen ist, dass ein demokratischer Staat auf Staatsbürger angewiesen ist, für die ihre Staatsbürgerschaft mehr ist als ein „Pass“. Und vor allem das Bewusstsein dafür, dass Wahlen keine Feierstunde der Parteienherrschaft sind, sondern ein Bürgerrecht darauf, dass ihre Interessen wahrgenommen werden.