Offiziell sind sich Union und SPD eigentlich einig über die letzte größere Rentenreform in dieser Legislaturperiode: die Angleichung von ost- und westdeutschem Rentenrecht, fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit. So hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles es zumindest verkündet, als sie Anfang Januar ihren mit dem Kanzleramt abgestimmten Referentenentwurf an die Verbände schickte.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Doch der Wirtschaftsflügel der Union will sich weiterhin nicht abfinden mit Nahles’ Plan, den aktuellen Rentenwert in Ostdeutschland bis 2020 stufenweise auf Westniveau anzuheben. Während im Gegenzug der nur für Ostdeutschland geltende Höherwertungsfaktor schrittweise abgeschafft würde.
Er könne die Koalition nur davor warnen auf diese Weise die Ostrentner noch weiter im Vergleich zu den Rentnern im Westen zu begünstigen, teilte am Montag der Wirtschaftsrat der CDU mit. „Bereits heute liegen die gesetzlichen Renten im Osten im Schnitt um über 20 Prozent höher als im Westen – und das bei niedrigeren Lebenshaltungskosten“, begründete der Generalsekretär des Wirtschaftsrates, Wolfgang Steiger den Vorstoß.
Schuld sei die Rentenpolitik der Vergangenheit. Sie habe dafür gesorgt, „dass für Durchschnittslöhne der 1980er-Jahre im Osten dreimal so viele Rentenpunkte wie im Westen gutgeschrieben werden. Jetzt die Ostrenten noch zusätzlich anzuheben, „vergrößert die Ungerechtigkeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung“, so Steiger.
Die Kritik klingt abenteuerlich. Heute kann sich fast niemand mehr vorstellen, dass es einen so eklatanten Unterschied in der Rentenberechnung für ein und denselben Beruf zwischen Ost und West gab. Doch genau so war es: Bei der Wiedervereinigung lag das Lohnniveau in den neuen Bundesländern nur bei 40 Prozent der Westlöhne. Wer damals in Rente ging, hätte von einer auf Basis dieser Niedriglöhne berechneten Rente nicht leben können.
Also entschied die Politik, die Differenz zwischen dem Lohnniveau in West und Ost bei der Berechnung der Renten durch einen Höherwertungsfaktor auszugleichen. Für Versicherungszeiten des Jahres 1985, als die Ostlöhne noch niedriger waren als zu Zeiten der Wiedervereinigung, galt nach dieser Sonderrentenformel Ost sogar ein Aufwertungsfaktor von 3,3. Das bedeutet: Für einen durchschnittlichen Jahresbeitrag erhielten Ostdeutsche damals drei Mal so viel Rente wie ein gleich viel verdienender Arbeitnehmer in Westdeutschland. Das meint der CDU-Wirtschaftsrat, wenn er von einer Verdreifachung der Rentenpunkte im Osten während der 1980er-Jahre spricht.
Heute ist der Aufwertungsfaktor deutlich kleiner, da die Ostlöhne seither aufgeholt haben. Doch er leidet an einem Konstruktionsfehler, der zu einer zusätzlichen Begünstigung ostdeutscher Rentner führt. Er ist etwas höher als er sein müsste, um die unterschiedliche Höhe zwischen ost- und westdeutschem Rentenwert auszugleichen. Unter dem Strich werden Ostrenten also stärker aufgewertet, als der Gesetzgeber eigentlich geplant hatte.
Die Verlierer sind die Jungen
Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen macht diese über Jahrzehnte praktizierte Besserstellung dafür verantwortlich, dass die Ostrenten im Durchschnitt – trotz der deutlich niedrigen Löhne – inzwischen sogar höher sind als im Westen.
Laut Rentenversicherung liegt die Durchschnittsrente im Westen bei 787 Euro, im Osten aber bei 964 Euro im Monat. Männer erreichen im Osten eine durchschnittliche Altersrente von 1124 Euro. In den alten Ländern sind es nur 1040 Euro. Genau diese Ungleichheit, so die gemeinsame Kritik Raffelhüschens und des CDU-Wirtschaftsrates, wird durch Nahles Reform nicht etwa verkleinert – sie wird im Gegenteil sogar noch vergrößert.
Der Kern der Reform zur Angleichung des Rentenrechts ist nämlich, von 2018 bis 2025 den aktuellen Rentenwert jedes Jahr stärker steigen zu lassen als die Löhne. Dies bedeutet aber, wer heute in den neuen Bundesländern schon eine im Vergleich zum Westen hochgewertete Rente bezieht, darf sich in den kommenden Jahren über weitere außerordentliche Rentenerhöhungen freuen. Dies gilt auch für Versicherte die in dieser Zeit in Rente gehen.
Vorschläge zur Renten-Reform
Rund 536 000 Menschen erhalten Grundsicherung im Alter. Künftig dürfte Altersarmut weiter zunehmen, weil mehr Arbeitnehmer gebrochene Erwerbslaufbahnen haben und nicht durchgängig in die Rentenkasse einzahlen. Auch viele Alleinerziehende und Selbstständige ohne ausreichende Eigenvorsorge sind betroffen. Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, Axel Reimann, fordert, Selbstständige ohne Altersvorsorge sollten obligatorisch in der Rentenversicherung abgesichert werden.
Rund 40 Prozent der Beschäftigten haben keine Betriebsrente. Arbeitgeber könnten - so diskutiert das derzeit die Koalition - verpflichtet werden, den Arbeitnehmern Angebote zu machen. Geringverdiener könnten mit einem Förderbetrag stärker unterstützt werden. Kleinen und mittleren Unternehmen könnten die Risiken mittels kollektiver Haftungslösungen genommen werden. Die Koalition mildert vielleicht auch das Problem doppelter Krankenkassenbeiträge auf Beiträge und Erträge ab.
Erst ab 63 ist die Rente wegen Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen ohne Abschläge möglich. Vorher werden bis zu 10,8 Prozent abgezogen. Vielfach führt Erwerbsminderung zu Armut: Knapp 502 000 Menschen mit Erwerbsminderung erhalten Grundsicherung. Die Opposition fordert die Abschaffung der Abschläge.
Wer bereits mit 63 in Teilrente geht, soll laut einem rot-schwarzen Gesetzentwurf mehr vom Zuverdienst behalten können. Bei der Teilrente mit 63 wird die Rente ab einer Zuverdienstgrenze von 450 Euro heute stark gekürzt. Stärker lohnen soll sich aber auch das Arbeiten über die reguläre Altersgrenze hinaus. Dafür sollen die Arbeitnehmer Rentenbeiträge zahlen können, die dann zu einer Steigerung der Rente führen. Heute zahlen Arbeitgeber bei Beschäftigung eines Rentners den Arbeitgeberanteil, ohne dass das die Rente steigen lässt.
Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) will die versprochene Aufwertung kleiner Renten bald auf den Weg bringen. Bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit sollen angerechnet werden. Eine Krux dabei: Viele Bezieher von Kleinrenten leben in gut situierten Haushalten, etwa wenn der Ehemann gut verdient hat. Deshalb sollen laut Nahles die Partnereinkommen berücksichtigt werden.
Ende 2019 soll die Angleichung der Ost- an die Westrenten kommen. Die Standardrente nach 45 Beitragsjahren mit Durchschnittslohn liegt in den neuen Ländern bei 1217 Euro - 97 Euro unter dem Westwert. Doch käme die Angleichung konsequent, hätte das negative Folgen für die künftigen Ostrentner. Denn bei der Rentenberechnung werden die Ostlöhne heute noch aufgewertet.
Es soll auf 67 bis 2029 steigen. Weil immer weniger Einzahler in die Rentenkasse künftig für immer mehr Rentenbezieher aufkommen müssen, werden Forderungen nach einer Anhebung des Rentenalters immer lauter. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) etwa ist für eine Kopplung des Rentenalters an die steigende Lebenserwartung.
Heute liegt es bei rund 48 Prozent - unter 43 Prozent darf dieses Verhältnis von der Standardrente zum Durchschnittslohn bis 2030 laut Gesetz nicht fallen. Doch das schützt immer weniger vor Altersarmut. Immer mehr Politiker aus allen Parteien fordern eine Stabilisierung, die Linke will mit 53 Prozent hier am meisten.
Gut 16 Millionen Bürger haben einen Riester-Vertrag. In knapp einem Fünftel der Verträge fließt aber kein Geld mehr. Nur gut jeder Zweite schöpft die staatliche Förderung voll aus. Der DGB fordert bereits, die Riesterrente auslaufen zu lassen. Vertrauensschutz würde es nur für laufende Verträge geben. Allerdings dürften die Politik der Eigenvorsorge künftig auf der einen oder anderen Weise eher eine bedeutendere als eine kleinere Rolle zumessen, wie man von Politikern oft hört.
Angesichts der Schwächen von Riester- und Betriebsrenten gewinnt die Vorstellung einer einfacheren zusätzlichen Absicherung mit staatlicher Garantie immer mehr Anhänger. Aus der hessischen Landesregierung kam der Vorstoß für eine Deutschlandrente - ein einfaches Standardprodukt für jedermann. Jeder Arbeitnehmer soll über vom Arbeitgeber abgezwackte Beiträge in einen zentralen Fonds einzahlen - sofern sie gegenüber dem Arbeitgeber nicht aktiv widersprechen.
Am stärksten profitieren unterm Strich Menschen, die bereits zu DDR-Zeiten berufstätig waren. Benachteiligt im Vergleich zum geltenden Recht sind dagegen die Jungen. Sie verlieren nämlich bis 2025 den Höherwertungsfaktor. Raffelhüschens Fazit, dass er bereits vor einigen Tagen in der „Rheinischen Post“ gezogen hat: „Was jetzt als Ost-West-Renten-Angleichung geplant ist, erhöht nicht die Gleichheit. Im Gegenteil: Die Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten.“
Das auch, weil die Extra-Rentenerhöhungen für die ostdeutschen Rentner zum allergrößten Teil von Beitragszahlern, also den heute Aktiven gezahlt werden müssen, die deshalb selbst keine höheren Rentenansprüche erhalten sollten. Denn von den über 15 Milliarden Euro, die Nahles’ Reform bis 2025 kosten soll, soll der Steuerzahler über einen höheren Bundeszuschuss an die Rentenversicherung nur etwas mehr als zwei Milliarden Euro übernehmen.
„Nach Rente mit 63 und Mütterrente ist das ein weiteres Draufsatteln und erhöht die Beitragszahlungen mittel- und langfristig. Zusätzliche Belastungen der erwerbstätigen Generation und der Wirtschaft darf es aber nicht geben. Denn spätestens, wenn ab 2020 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, lasten die Beiträge ohnehin schwer genug auf den Jungen und unserer Wirtschaftskraft“, meint dazu der Generalsekretär des Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hält ihre Reform gleichwohl für angemessen. Ihr geht es darum, das Versprechen des Koalitionsvertrags einzulösen und ein einheitliches Rentenrecht für West- und Ostdeutschland zu erreichen. Dass die ostdeutschen Rentner dafür ein weiteres Mal begünstigt werden müssen, hält die Ministerin für gerechtfertigt. Die einzige Alternative zu ihrer Reform wäre eine Beibehaltung der aktuellen Rechtslage, heißt es in ihrem Gesetzentwurf. „Hierdurch würden rund 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit weiterhin besondere Regelungen für die Rentenberechnung in den neuen Bundesländern gelten.“ Das im Einigungsvertrag vereinbarte Ziel der Angleichung der Renten würde auf „absehbare Zeit“ nicht erreicht, „so dass von dieser Alternative abgesehen wird“.
Nahles macht sich zudem Hoffnungen, dass die Reform am Ende doch nicht so teuer wird. Laut Gesetzentwurf steigen die Mehrausgaben der Rentenversicherung wegen der Sondererhöhungen der Ostrenten ab 2018 von zunächst 600 Millionen Euro pro Jahr auf 3,9 Milliarden Euro ab 2025, wenn nach der siebten außerordentlichen Rentenerhöhung der aktuelle Rentenwert Westniveau erreicht haben wird. Bei dieser Rechnung wird aber davon ausgegangen, dass die Löhne im Osten in Zukunft nicht schneller steigen als im Westen und damit das Lohnniveau bei rund 87 Prozent des Westniveaus stagniert.
Da der Lohnangleichungsprozess zwischen 2000 und 2014 nahezu zum Stillstand gekommen war und erst in den vergangenen Jahren, auch durch die Einführung des Mindestlohns, in Bewegung gekommen ist, ist das eine seriöse Annahme. Sollte sich aber der stärkere Anstieg der Ostlöhne in der jüngsten Vergangenheit weiter fortsetzen, würden die Reformkosten deutlich sinken.