Landtagswahlen Der Weckruf

Die Landtagswahlen galten als Vertrauenstest. Die Bürger haben sich verunsichert von den Volksparteien abgewandt. Ein Weiter-so ist keine Option. Ein Kommentar.

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Die CDU droht unter der Last der Wahlergebnisse zusammenzubrechen.

Düsseldorf Wenn Wahlen die psychologische Verfasstheit einer Gesellschaft beschreiben, dann hat der Urnengang in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zumindest den Anfangsverdacht einer schweren Depression ermittelt. Wie selten zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte haben die Bürger CDU und SPD das Vertrauen entzogen und beiden Volksparteien schwere Niederlagen zugefügt. Protestwähler und Nichtwähler sind die Gewinner der Wahlen – es ist ein Denkzettel für die etablierten Parteien.

Die Wahlkampfmanager von CDU und SPD hatten schon mit dem Schlimmsten gerechnet, doch die Ergebnisse der Landtagswahlen übertrafen am Ende ihre Befürchtungen. Im konservativen Baden-Württemberg hat die CDU, die über mehrere Jahrzehnte die politischen Geschicke bestimmt hat, die Rolle als stärkste politische Kraft an die Grünen verloren. Noch heftiger ist der Absturz der SPD. In Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg sind die Sozialdemokraten zur Minderheitspartei geschrumpft. Die Partei des kleinen Mannes erreicht nicht mehr ihre Anhänger.

Kanzlerin Merkel wird deshalb nicht stürzen, und niemand wird SPD-Chef Gabriel zum Rücktritt drängen. Doch CDU und SPD müssen diese Wahlen als Weckruf begreifen. Als Warnsignal einer zutiefst verunsicherten und von der Politik enttäuschten Gesellschaft. Ein Weiter-so ist keine Option.

Dabei geht es nicht nur um ein Umsteuern in der Flüchtlingskrise. Die Alternative für Deutschland hat auch deshalb zweistellige Ergebnisse an diesem Wahlsonntag erzielt, weil die Volksparteien bei den wichtigen Fragen dieser Zeit statt Orientierung nur Schweigen liefern.

Längst spüren die Bürger, dass nicht nur die Integration von einer Million Flüchtlingen eine große Belastungsprobe wird. Mit Sorgen blicken viele Menschen auf die Veränderungen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt, den harten globalen Wettbewerb, die Angriffe auf die innere Sicherheit, die demografische Entwicklung und die Folgen einer Nullzinswelt für die eigenen Renten. Die neuen Herausforderungen haben in breiten Schichten der Bevölkerung eine gefährliche Zukunftsangst entstehen lassen, nicht nur am unteren Rand der Gesellschaft. Die Angst vor der Überforderung.

Antworten auf diese komplexen Themen liefern CDU und SPD entweder gar nicht oder nicht überzeugend. Außenpolitische Krisen haben den Blick der Großen Koalition auf die eigentlichen Nöte der Bürger systematisch versperrt.


Die Innenpolitik ist praktisch zum Stillstand gekommen

In den ersten beiden Jahren war die Kanzlerin – fast ausschließlich – damit beschäftigt, die Staatspleite Griechenlands zu verhindern. Zu keinem anderen Thema hat Merkel mehr Regierungserklärungen im Bundestag abgegeben als zur Rettung Griechenlands, das gerade 2,5 Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts ausmacht.

Seit mehr als einem halben Jahr investieren Merkel und Gabriel den größten Teil ihrer politischen Energie auf die Lösung der Flüchtlingskrise. Die Innenpolitik ist praktisch zum Stillstand gekommen. Über eine Agenda Fortschritt, mit der Deutschlands Zukunft gestaltet werden könnte, spricht niemand. Die Politik der Großen Koalition wirkt zunehmend defokussiert.

SDP-Chef Gabriel hat recht, wenn er davor warnt, dass die Politik trotz der Flüchtlingskrise nicht die Belange der Bundesbürger vergessen darf. Doch es geht nicht um milliardenschwere Ausgabenprogramme. Die Bürger erwarten, dass ihre Themen in den Mittelpunkt der Politik gerückt und Lösungen diskutiert werden. Dafür sind Merkel und Gabriel gewählt worden.

Solange die Große Koalition die Prioritäten ihrer Politik nicht neu ausrichtet, verlieren CDU und SPD weiter an Zustimmung, der Aufstieg der Protestpartei AfD ist damit vorgezeichnet. Die stabilen politischen Verhältnisse, die die Exportnation Deutschland über Jahrzehnte ausgezeichnet haben, könnten dann der Vergangenheit angehören.

Politische Unsicherheit in einer zunehmend komplexeren Welt nicht entstehen zu lassen ist nicht nur Aufgabe der politischen Klasse. Auch die Verantwortlichen in der Wirtschaft dürfen sich angesprochen fühlen.

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