Keiner hat diese Ambivalenz der modernen Freiheit und Gleichheit schärfer gesehen als Alexis de Tocqueville, der Meisterdenker des Liberalismus, der seine Argumente so trefflich an den Einsprüchen schärfte, die er gegen sich selbst erhob. Seine beiden Schriften „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840) sind Kunstwerke modernen Widerspruchsdenkens. Tocqueville weist in ihnen eben nicht nur auf die „geistige Herrschaft der großen Zahl“, auf einen anmaßenden (Wohlfahrts-)Staat, die Bürokratie und die Zentralisierung der Verwaltung als größte Gefahren für die Freiheit hin, sondern auch auf einen Individualismus, „der alle Keime der Tugend erstickt“ - und auf die „Liebe zum Wohlstand“, die für Tocqueville „gleichsam das hervorstechende und unaustilgbare Merkmal“ des demokratischen Zeitalters ist.
Das Ziel einer demokratischen Regierung, „die Gesellschaft in einem status quo zu erhalten, der eigentlich weder Niedergang noch Fortschritt ist [und] den sozialen Körper in einer Art von Verwaltungsschlummer zu belassen, den die Verwalter gute Ordnung und öffentliche Ruhe zu nennen pflegen“, so Tocqueville, korrespondiert trefflich mit einem Individualismus, der „jeden Staatsbürger geneigt macht, sich von der Masse zu isolieren und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abseits zu halten“. Hellsichtig erkennt Tocqueville, dass der „Fortschritt“ der Demokratie vor allem darin besteht, dass sie im Vergleich zu früheren Herrschaftsformen „den Despotismus vervollkommnet“. Der Despotismus der Zukunft, so Tocqueville, wird „ausgedehnter und sanfter sein und die Menschen erniedrigen, ohne sie zu quälen“ - Tocqueville sieht „eine unübersehbare Menge… gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen…, die Schlaffheit ihrer Sitten, die Weite ihrer Bildung,…, die Milde ihrer Moral, ihre arbeitsamen und geordneten Gewohnheiten“ - und er sieht, wie sich über all‘ diesen Bürgern eine „gewaltige Vormundschaftsgewalt“ erhebt, „die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen…, pünktlich, vorausschauend und gütig“.
Dass diese Sätze heute noch unverändert brauchbar sind, weist nicht nur auf das Genie Tocquevilles hin, sondern auch darauf, dass dem Liberalismus und seiner emphatischen Freiheitsidee ein überzeitliche Kraft innewohnt, die unausrottbar ist. Mag sein, dass wir den Liberalismus heute nicht mehr als Denkinnovation brauchen. Als Weltanschaungs-Mahnmal, das an das Beste in uns erinnert, brauchen wir ihn allemal.
Die modernen Liberalen haben ein Wächteramt inne, das macht sie nicht beliebt, aber unverzichtbar. Sie halten uns den Spiegel vor, um uns die Verluste unserer Sehnsucht nach Größe und Sicherheit, nach Fürsorge und Kongruenz anzuzeigen. Sie warnen uns vor den Smarties, die nach Zentralabitur und Bachelor-Examen streben, um ihre Funktionsintelligenz so schnell wie möglich darauf zu verwenden, jedes Lebensrisiko auszuschalten. Sie sind die Gralshüter einer Freiheit, die Arbeitslose nicht abhängig wissen will von der „Stallfütterung“ des Staates - und sich vor einer Angestelltengesellschaft fürchtet, „deren zentraler Wirtschaftsbegriff das Geldeinkommen und nicht das Eigentum ist“ (Wilhelm Röpke). Sie sind die Kassandras, die nicht müde werden, uns vom „Taschengeld-Staat“ zu erzählen, der uns „mehr und mehr die freie Verfügung über unsere Einkommen entzieht“ - und von der „Pumpmaschine des Leviathan“ (noch mal Röpke), der sich zur Rechtfertigung seiner Existenz unsere Steuermilliarden aneignet, um sie von Singles zu Ehepaaren umzuschichten, von Kleinkindern zu Studenten und von Solardachbesitzern zu Großstadtmietern. Vor allem aber sind sie selbst es, die Wagemutigen und die Lebenskünstler, die unbeirrt ihren Weg gehen, die uns am Beispiel ihrer selbst daran erinnern, dass wahre Freiheit vor allem eins meint: ein Leben, das man spürt.
Wir sind überzeugt, dass die Wahlniederlage der FDP nicht das Ende des politischen Liberalismus bedeuten darf. Die WirtschaftsWoche will darum an dieser Stelle der Freiheit ein Forum geben. Wir werden hier Beiträge unserer Redakteure ebenso veröffentlichen wie solche von Gästen. Wir freuen uns, wenn Sie als mündige, freie Bürger auf unserem Online-Forum öffentlich das Wort ergreifen. Was bedeutet heute Freiheit? Wo ist sie durch den Staat gefährdet? Und wie sollte eine liberale Partei aussehen? Schreiben Sie uns unter www.wiwo.de/forumderfreiheit