Posse um Bahnsteighöhe Skurriler Streit um 21 Zentimeter

Der Bund will künftig nur noch eine einheitliche Höhe der Bahnsteige fördern. Die Länder laufen Sturm.

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Was sich bei der Deutschen Bahn geändert hat
Ein Fahrgast der Deutschen Bahn geht im Hauptbahnhof in Berlin an einem Schlafwagen eines Zuges vorbei. Quelle: dpa
Ein Fahrgast hält ein Ticket vor einen Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn. Quelle: dpa
Reisende gehen auf dem Bahnsteig im Hauptbahnhof Hannover (Niedersachsen). Quelle: dpa
Reisende ziehen im Bahnhof in Düsseldorf Fahrkarten. Quelle: AP
Ein ICE der Deutschen Bahn fährt in den Hauptbahnhof von Frankfurt am Main. Quelle: dpa
Ein Aushang «Fahrplanänderungen» hängt im Bahnhof in Hildesheim (Niedersachsen). Quelle: dpa

Mal ist er 38 Zentimeter hoch, mal 55, dann wieder 76 oder gar 96 Zentimeter: der Bahnsteig an Haltestellen der Deutschen Bahn. Dem Bundesverkehrsministerium ist so viel Vielfalt im Verkehr ein Dorn im Auge.

„Da man bei den Bahnsteigen von einer langen Nutzungsdauer nach einem Umbau auszugehen hat“, schrieb Staatssekretär Enak Ferlemann gerade an die Verkehrsbehörden der Länder, „soll für die Bahnsteige der Strecken der Eisenbahnen des Bundes zukünftig noch stringenter die Regelbahnsteighöhe von 0,76 Metern eingehalten werden.“

Doch gegen die Einheitshöhe regt sich Widerstand aus den Ländern. Deren Regionalzüge halten überwiegend an Stationen mit deutlich niedrigeren Bahnsteigkanten. Viele von ihnen sind nur 55 Zentimeter hoch. Zwar können die allermeisten Züge auch an höheren Bahnsteigen halten. Doch oft bieten sie dann keine Barrierefreiheit, sind also etwa für Behinderte oder alte Menschen kaum benutzbar.

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Der Einheitsdrang des Bundes sorgt daher bei Thomas Geyer vom Zweckverband Schienenpersonennahverkehr Rheinland-Pfalz Nord für „Unverständnis“. Über die Bahnsteighöhe gebe es „abgestimmte Festlegungen“ mit der Deutschen Bahn, sagt er. Geyer ist Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft Schienenpersonennahverkehr (BAG SPNV) und damit Sprecher aller Organisationen, die den Nahverkehr in Deutschland für 8,5 Milliarden Euro pro Jahr bestellen. „Diese Festlegungen müssen weiter Bestand haben.“

Tatsächlich widerspricht der Bund mit dem Vorstoß gegen das bisherige „Bahnsteighöhenkonzept“ der Deutschen Bahn, das 2011 „verbindlich im DB Regelwerk“ eingeführt wurde, wie es in einem Fachartikel heißt. Zwar definiert das ausgeklügelte Konzept des Staatskonzerns 76 Zentimeter als „Regelhöhe für den Neu- und Umbau“, doch „begründete Abweichungen“ seien zulässig. Dies gelte vor allem dann, wenn durch die 55 Zentimeter „möglichst viele Reisende ein niveaugleicher Einstieg möglich ist“.

Genau das ist der Punkt, auf den Geyer aufmerksam macht. Viele Ländern haben Züge angeschafft, die mit der Bahnsteigkante perfekt korrespondieren. Eine neue Ausrichtung könnte die wirtschaftlichen Planungen der Unternehmen kaputt machen. Außerdem hält auch die Europäische Union Bahnsteige mit einer Höhe von 55 und 76 Zentimeter grundsätzlich für förderungswürdig.

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Nahverkehrsmann Geyer hofft daher auf ein Einlenken des Bundes. Doch sehr groß sind seine Hoffnungen nicht, denn schon in jüngster Vergangenheit hätte es „unsinnige Regelwerksänderungen“ gegeben: So sollen in Zukunft alle Bahnsteige an Strecken, die mit 200 km/h befahren werden können, grundsätzlich mit Bahnsteigen mit einer Höhe von 76 cm ausgestattet werden, „egal welches Fahrzeugmaterial dort eingesetzt wird“, so Geyer. Andere Länder wie Frankreich, Österreich und die Schweiz würden das ganz anders sehen. Sie hielten an einer einheitlich niedrigeren Höhe von 55 Zentimetern fest, so Geyer.

Woher kommt dann also der Regulierungseifer des Bundes? Geyer glaubt, dass der Bund versuche, durch die höheren Bahnsteige „das unberechtigte Queren der Gleise unterbinden zu können“.

Schlichtweg unvernünftig

In der Branche macht aber auch eine Erklärung die Runde: Bahn-Vorstand Ronald Pofalla – ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes und im Rennen um die Nachfolge von Exvorstandschef Rüdiger Grube – habe den Bund zu dem neuen Standard überredet. Für Fahrgäste eines ICEs der Deutschen Bahn sei der Einstieg vom höheren Bahnsteig nämlich bequemer.

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Erst vor wenigen Tagen hat die Bahn den neuen ICE 4 vorgestellt – und sich im Fernverkehr Einiges vorgenommen. Um 25 Prozent soll das Angebot bis 2030 ausgebaut, fünfzig Millionen neue Fahrgäste gewonnen werden. Tatsächlich schafft es die Bahn mit ihrer Preisoffensive, etwa mit den 19-Euro-Tickets, mehr Fahrgäste in die Züge zu locken. Aber die Rendite leidet. Quelle: dpa
Der Güterverkehr der Bahn ist ein Sanierungsfall. Zwar verbesserte sich das Ergebnis von DB Cargo im ersten Halbjahr 2016, aber die Sparte ist defizitär– und das schon seit Jahren. Zwischen 2007 und 2015 stagnierte die Verkehrsleistung, und das in einer boomenden Wirtschaft. Private Anbieter, auch auf der Straße, machen der Bahn zunehmend Konkurrenz. Quelle: dpa
174,63 Millionen Minuten haben die Personen- und Güterzüge der Bahn 2015 an Verspätungen eingefahren. Hauptursache ist die wachsende Zahl von Baustellen. Zwar schneidet die Bahn im ersten Halbjahr 2016 besser ab. Aber: Das Bemühen um pünktliche Züge ist laut Bahnchef Grube „mit großen Kraftanstrengungen verbunden“. Quelle: picture-alliance/ dpa
Die Bahn investiert viel Geld in die Infrastruktur: Gut 5,2 Milliarden Euro flossen 2015 etwa in die Instandhaltung von Schienenwegen und Brücken. Doch es hapert bei der Koordinierung der vielen Baustellen. Und so verursacht die von Konzernchef Grube gefeierte „größte Modernisierungsoffensive in der Bahn-Geschichte“ vor allem eines: Verspätungen. Quelle: dpa
Die Bahn braucht Geld, um den Schuldenanstieg zu bremsen. Geplant war deshalb ein Verkauf von maximal 40 Prozent der britischen Tochter Arriva und des Transport- und Logistikkonzerns DB Schenker. Arriva sollte im zweiten Quartal 2017 an der Londoner Börse starten, Schenker danach in Frankfurt. Doch die Pläne sind jetzt vom Tisch. Quelle: picture alliance/dpa
Bahnchef Grube feierte kürzlich die Grundsteinlegung für den Stuttgarter Tiefbahnhof, aber das Großprojekt bleibt umstritten. Beim Volksentscheid 2011 war noch von 4,5 Milliarden Euro Kosten die Rede. Der Bundesrechnungshof hält nun offenbar zehn Milliarden Euro für möglich, Grube selbst spricht von 6,5 Milliarden Euro. Quelle: AFP

Der Konzern bestätigt, dass 76 Zentimeter die optimale Bahnsteighöhe für den ICE seien. Die Fernzüge der Deutschen Bahn halten heute erst zu 70 Prozent an Stationen mit einer Bahnsteighöhe von 76 Zentimetern. Allerdings dementiert die Deutsche Bahn vehement, dass Pofalla seine Hand im Spiel habe. Die Initiative sei allein eine Entscheidung des Bundesverkehrsministeriums gewesen.

Die Deutsche Bahn würde damit auch ihre bisherigen Grundüberzeugungen über Bord werfen. 44 Prozent aller Reisenden steigen jeden Tag an einem Bahnsteig mit einer Höhe von 76 Zentimetern ein und aus. Die Bahnsteighöhe ist die dominierende Größe im deutschen Schienennetz. Für knapp jeden fünften Reisenden sind aber niedrigere Bahnsteige geläufig. Die S-Bahnsysteme nutzen zudem die Sondergröße 96 Zentimeter. Weil mehr als jeder zweite Reisende an einem niedrigeren oder höheren Bahnsteig aussteige, habe sich die Deutsche Bahn bislang gegen die „einheitliche Festlegung der Bahnsteigzielhöhen auf die dominierende Regelhöhe 76 Zentimeter“ ausgesprochen, heißt es in einem Fachartikel, auf den der Konzern verweist.

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Der Höhenunterschied hat sich vor allem historisch so ergeben. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters baute man 38 Zentimeter hohe Bahnsteige. Vor allem in Ost-Deutschland hat der Staat in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg 55 Zentimeter hohe Bahnsteige gebaut, da die Deutsche Reichsbahn zuletzt Doppelstockwagen mit Niederflureinstieg eingesetzt hat. Grundsätzlich sind sich die Beteiligten zwar einig, dass eine Harmonisierung anzustreben sei, aber der Druck aus dem Bundesverkehrsministerium macht nun viele Nahverkehrsbehörden in den Ländern nervös.

Problematisch an den 76 Zentimetern ist aus Sicht der Nahverkehrsorganisationen nämlich auch die Tatsache, dass höhere Bahnsteige manchmal schlichtweg unvernünftig sind. So erfordert der Ansturm von Reisenden auf bestimmten Strecken den Kauf von Doppelstückzügen. Denn nur die können „die hohe Kapazitätsnachfrage“ gut bewältigen. Doch die sind ausgerichtet auf den stufenfreien Einstieg bei 55 Zentimetern.

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