Rechtsextremismus Fremdenhass im Osten alarmiert Top-Ökonomen

In Ostdeutschland ist die Zahl der rechter und fremdenfeindlicher Übergriffe im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Die Bundesregierung ist alarmiert – und Ökonomen warnen: Das könnte der Wirtschaft massiv schaden.

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In Ostdeutschland kommt es – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – zu vielen fremdenfeindlichen und rechtsextremen Übergriffen. Das belegen Statistiken seit vielen Jahren. Quelle: dpa

Berlin Der wachsende Fremdenhass in Ostdeutschland alarmiert führende Ökonomen in Deutschland. Anlass ist der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016, der am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. In dem Bericht wird Rechtsextremismus als eine „sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder“ dargestellt.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte dazu dem Handelsblatt: „Die zunehmende Radikalisierung und Intoleranz wird manche Teile Ostdeutschlands wirtschaftlich massiv schwächen.“ Der Konflikt bestehe nicht nur zwischen intoleranten Deutschen und Ausländern, sondern finde zunehmend zwischen unterschiedlichen Gruppen der deutschen Gesellschaft statt. Nicht nur Ausländer wollten nicht in fremdenfeindlichen Regionen leben. Auch gut qualifizierte Bürger sowie Unternehmen „werden diesen Regionen den Rücken kehren“, warnte Fratzscher.

Der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, geht zwar davon aus, dass Fremdenfeindlichkeit auch in Ostdeutschland nur von einer Minderheit ausgehe. „Aber es besteht die Gefahr, dass diese Minderheit die wirtschaftlichen Perspektiven ganzer ostdeutscher Regionen beeinträchtigt“, sagte Fuest dem Handelsblatt. „Sowohl Touristen als auch Investoren werden durch Fremdenfeindlichkeit abgeschreckt.“

Ähnlich äußerte sich der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn. „Das Aufkeimen nationalistischer  Tendenzen besonders in Ostdeutschland  wird der Region wirtschaftlich schaden“, sagte Horn dem Handelsblatt. Der Ökonom brachte das Problem in einen Zusammenhang mit den Wahlerfolgen der AfD. „Offensichtlich hat  die Politik der  vergangenen Jahre Ängste hervorgerufen, die lange Zeit von allen Parteien  ignoriert worden sind.“  Das müsse sich ändern, aber nicht indem man sich den Forderungen der AfD nach Abgrenzung anpasse. „Vielmehr muss man  eigene Konzepte entwickeln wie  verstärkte  soziale Sicherung, besserer polizeilicher Schutz und effizientere Behörden, die es den Menschen durch andere Erfahrungen ermöglichen, ihre Ängste zu überwinden“, sagte der IMK-Chef.

Die Brisanz der Lage wird im Einheitsbericht der Bundesregierung deutlich: „Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden“, heißt es darin. Die Rede ist gar von „besorgniserregenden Entwicklungen“, die das Potenzial hätten, „den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu gefährden“.

Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass bei den Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen inzwischen die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremistischen Agitationsformen zunehmend verschwömmen.  So treten laut dem Bericht fremdenfeindliche Tendenzen angesichts der großen Zahl der vor Krieg, Terror und Not nach Deutschland geflüchteten Menschen sogar stärker in Erscheinung, bis hin zu Gewalttaten. Dabei seien Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft sichtbar.

Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), reagierte mit einem Appell: „Wir Ostdeutschen haben es selbst in der Hand, ob wir unsere Gesellschaft, unsere Städte und unsere Dörfer beschützen oder ob wir sie dem braunen Spuk überlassen.“ Die Gesellschaft dürfe nicht wegschauen, wenn Menschen angegriffen oder Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden. „Es steht für Ostdeutschland viel auf dem Spiel“, betonte die SPD-Politikerin. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht.

Wie Gleicke bei der Vorstellung des Einheitsberichts mitteilte, liegt die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands nach wie vor deutlich hinter der Westdeutschlands. Im Jahr 2015 lag demnach das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Ostdeutschland 27, 5 Prozent hinter den Werten Westdeutschlands. „Viel schlimmer ist jedoch, dass angesichts der neuesten Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung nichts darauf hindeutet, dass sich diese Lücke mittel- oder auch nur langfristig schließen könnte“, stellte die SPD-Politikerin fest. Der Aufholprozess verlaufe schon seit einigen Jahren „äußerst“ verhalten. „Wir brauchen in Ostdeutschland ein deutlich stärkeres Wachstum, um wirtschaftlich zu den westdeutschen Ländern aufzuschließen“, betonte Gleicke.

Die aktuellen Wachstumszahlen gäben allerdings „Anlass zur Sorge“. Das reale Wachstum habe 2015 in den ostdeutschen Flächenländern mit 1,5 Prozent unter dem der westdeutschen Länder mit 1,7 Prozent gelegen. Und die Lage könnte sich noch verschärfen. Der Bevölkerungsrückgang führe dazu, dass Ostdeutschland bei der Wirtschaftsentwicklung „weiter an Boden verliert“, warnte Gleicke.

Das Rechtsextremismus-Problem wiegt da besonders schwer. Vor allem auch deshalb, weil die Regierung einen wachsenden Fremdenhass registriert, obwohl mit rund 11 Prozent der Ausländeranteil im Jahr 2014 in den alten Ländern mehr als dreimal so hoch wie in den neuen Ländern mit rund 3 Prozent lag. In den ländlichen Regionen sei der Anteil ausländischer Personen sogar noch deutlich niedriger als in den städtischen Gebieten.


Wenig Ausländer, viele rechte Übergriffe

Nichtsdestotrotz belegen Statistiken seit vielen Jahren, dass in Ostdeutschland im Verhältnis zur Einwohnerzahl eine besondere Häufung von fremdenfeindlichen und rechtsextremen Übergriffen zu verzeichnen ist. So liegen die im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2015 dokumentierten, rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten bezogen auf eine Million Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern (58,7), Brandenburg (51,9), Sachsen (49,6), Sachsen-Anhalt (42,6), Berlin (37,9) und Thüringen (33,9) deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder (10,5).

In dem Einheitsbericht wird explizit vor möglichen Gefahren gewarnt, die diese Entwicklung nach sich ziehen kann. So habe die Bildung der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), deren Mitglieder zehn Menschen ermordeten, gezeigt, dass sich ein extremistisches Milieu herausgebildet habe, aus dem heraus eine terroristische Zelle entstanden sei.

Eine Entwarnung kann der Bericht denn auch nicht geben, zumal im zurückliegenden Jahr die Zahl der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Übergriffe stark zugenommen habe. Die Zahl der extremistischen Straftaten hat demnach im Jahr 2015 den höchsten Stand seit Einführung des Meldedienstes für politisch motivierte Straftaten im Jahr 2001 erreicht.

Der SPD-Bundesvize Ralf Stegner machte für diese Entwicklung die Sicherheitsbehörden mitverantwortlich. „Es gibt leider durchaus Fälle, in denen Polizei und Verfassungsschutz, etwa bei der NSU-Mordserie, ihren Aufgaben mehr als unzureichend nachgekommen sind  beziehungsweise teilweise sogar mit rechten Umtrieben sympathisiert haben“, sagte Stegner dem Handelsblatt. „Insofern kann man unter solchen Umständen schon sagen, dass in manchen Regionen Rechtsextremisten, Neonazis und Demokratiefeinde leider wenig demokratische Gegenwehr, sei es staatlich, sei es zivilgesellschaftlich, zu befürchten haben.“

Stegner sprach von einer politischen Herausforderung, der sich bedauerlicherweise nur die Sozialdemokratie entschlossen stelle, „während die Konservativen hier völlig versagen beziehungsweise teilweise sogar mit fehlgeleitetem parteitaktischem Kalkül sich nach rechts anbiedern“.

Die Grünen warfen Bundesinnenminister Thomas de Maizière Konzeptlosigkeit beim Umgang mit dem Thema vor. „Die Bundesregierung hat noch immer keine Strategie, angemessen auf den seit Monaten zu beobachtenden, massiven Anstieg rechter Gewalttaten zu reagieren“, sagte Fraktionsvize Konstantin von Notz dem Handelsblatt. In seiner jüngsten Rede zur Einbringung des Haushalts des Innenressorts sei de Maizière mit keinem Wort auf die massiv gestiegene Zahl rechter Gewalttaten eingegangen. „Das grenzt schon an Realitätsverweigerung“, betonte der Grünen-Politiker.

„Statt den Parolen der AfD hinterherzulaufen, wie es gerade wieder CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer getan hat, darf die Bundesregierung die Augen vor der Problematik nicht länger verschließen“, sagte von Notz weiter. „Sie muss endlich eine tragfähige Strategie gegen rechtsextreme und rassistische Übergriffe vorlegen.“

Von Notz betonte, dass die Grünen seit langem die Bundesregierung auf die stark gestiegene Bedrohung für die innere Sicherheit durch gewaltbereite Rechtsextremisten hingewiesen hätten. „Die Bundesregierung hat die Dimension des Problems zu lange ignoriert“, kritisierte er. „Der gewaltbereite Rechtsextremismus ist längst zu einem innen- und sicherheitspolitisch höchst relevanten Phänomen geworden, dem sich unsere Demokratie und ihre Institutionen genauso wie die Zivilgesellschaft entschlossen und wehrhaft entgegenstellen muss.“ Die Entwicklungen der letzten Monate gäben „größten Anlass zur Sorge“.

Stegner gab zu bedenken, dass der Rechtsextremismus nicht nur ein ostdeutsches Problem sei.  Rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen gebe es sehr wohl auch im Westen Deutschlands. „Allerdings sind durchaus spezifische Gegebenheiten in den neuen Bundesländern festzustellen“, fügte der SPD-Politiker hinzu. „Das gilt für Regionen mit einer sehr schwach ausgeprägten Zivilgesellschaft einschließlich der großen funktionellen Schwäche demokratischer Parteien.“

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