Städtebau Im Ruhrgebiet wächst das Elend - und der Neid

Der Strukturwandel hat im Ruhrgebiet auch nach 40 Jahren noch kein Ende gefunden – im Osten ist er schon lange vorbei. Hinter rußgeschwärzten wie frisch sanierten Fassaden verbirgt sich triste Wirklichkeit. Hat das Ruhrgebiet wirklich Grund zum Selbstmitleid – oder vielleicht doch die besseren Chancen?

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Die Gewinner und Verlierer des Aufbau Ost
Eine alte Frau verlaesst mit ihrem Hund ein Haus in Duisburg-Bruckhausen, Quelle: dapd
"Marietta-Bar-Areal" im Nordabschnitt des Breiten Weges in Magdeburg wird am Neubau für ein Geschäftshaus gearbeitet. Quelle: ZB
Die quer durch das Ruhrgebiet verlaufende Autobahn A40 ist in Essen kaum befahren. Quelle: dpa
Die Bundesstraße 95 zwischen Chemnitz und Leipzig Quelle: dpa/dpaweb
Ein Bauarbeiter schwingt den Hammer auf der Baustelle für die neue Schwimmhalle des SV Halle Quelle: dpa
Eine Frau geht am 18.02.2012 in Oberhausen an einer Kaufhof Filiale vorbei, die bald geschlossen wird und mit dem Räumungsverkauf wirbt Quelle: dpa
Das Bürogebäude in Mülheim an der Ruhr, in dem die Firma Globudent Quelle: dpa/dpaweb

Das Thema wurde zum Thema, als Franz Müntefering (SPD) Ende der Neunzigerjahre noch zuständig war für den Verkehr und das Wohnungswesen in Deutschland. Vor allem die Stadtplaner aus dem Osten rannten ihm damals die Ministeriumstüren ein und bettelten um Geld, bewaffnet mit Tabellen, roten Zahlen und ganz vielen Pfeilen, die südwärts zeigten: „Hilfe, wir schrumpfen!“ Und was tat Franz Müntefering, der große Meister des lakonischen Satzes? Er schüttelte den Kopf und sagte, fürs Schwinden und Schrumpeln sei er nicht zuständig: „Ich bin nicht Abbruchminister. Ich bin Bauminister.“

Natürlich gab es ein paar Jahre später trotzdem eine Kommission, einen Wettbewerb und ein Bund-Länder-Programm; man taufte es „Stadtumbau Ost“ und stattete es mit 2,5 Milliarden Euro aus; das war damals eine Menge Geld. Und natürlich erwies sich das Programm als „Erfolgsgeschichte“, jedenfalls dann, wenn man den evaluatorischen Fähigkeiten von Münteferings Nachfolger Wolfgang Tiefensee (SPD) Vertrauen schenkt: Die „Verknüpfung von Rückbau und Aufwertung“, so Tiefensee 2008, habe Ostdeutschland „attraktive Stadtbilder“ und eine „neue Lebendigkeit“ beschert.

Mehr Fairness

Gern geschehen, sagen nun westdeutsche Bürgermeister an Rhein und Ruhr – aber bitte: Jetzt sind wir an der Reihe. Der Osten sei heute so gut aufgestellt, dass man dort „gar nicht mehr wisse, wohin mit dem Geld“, ätzt der Dortmunder Stadtchef Ullrich Sierau (SPD) – und während CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen im fernen Berlin mehr Fairness anmahnte, spielte selbst die „Rheinische Post“, die tiefschwarze Stimme aus der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf, die regionale Karte: „Wir brauchen einen Solidarpakt West“. Seither werden – zum wievielten Male eigentlich? – Löhne und Wachstumsraten in Ost und West, Kita-Plätze und Lebenshaltungskosten, Arbeitslose und Transferempfänger, Schwimmbäder, Straßenlöcher und Stadtbibliotheken gegeneinander aufgerechnet. Und – any news?

Vielleicht diese: Sieht man einmal vom Solidarpakt ab und schaut sich nur die 455 Millionen Euro an, die das Bauministerium in diesem Jahr den Kommunen für Stadtumbau und -entwicklung, Sanierung und Denkmalschutz überweist, so stellt man fest, dass ostdeutsche Kommunen – gemessen an der Zahl der Einwohner – fünfmal mehr Geld erhalten als westdeutsche. Warum eigentlich? Sind die Stadtbilder in Ostdeutschland immer noch nicht attraktiv genug? Und braucht das Ruhrgebiet etwa keine „neue Lebendigkeit“? Oder sind die Fragen falsch gestellt? Vielleicht hat der Osten ja nur zwei Jahrzehnte lang richtig gemacht, was im Westen seit 40 Jahren falsch läuft?

Übersicht über die Städtebauförderung des Bundes (zum Vergrößern bitte Bild anklicken).

Vergleich hinkt

War es vorteilhaft für den Osten, dass er den Strukturwandel im Wege der Schocktherapie vollzogen hat, mit hochprozentiger Abwanderung und niedrigeren Löhnen, mit radikalem Wohnungsrückbau und unter Verzicht auf tarifgebundene Sicherheiten? Wenn Städte wie Dresden oder Magdeburg (Arbeitslosenquote 9,2 beziehungsweise 11,4 Prozent) heute besser dastehen als Dortmund oder Essen (12,7 und 12,6 Prozent), wenn die Innenstädte von Schwerin und Freiberg heute Puppenstuben gleichen und die in Wuppertal und Gelsenkirchen kaufkraftarmen Häuserhaufen – haben wir es dann mit Belegen für beispiellos gepäppelte Wohlstandsquartiere und rettungslos vernachlässigte Betonzonen zu tun? Ach was. Ein Vergleich der Situationen in Ost und West zeigt vor allem, dass er hinkt. Was im Westen nicht blüht, welkt im Osten und umgekehrt, wenn auch auf ganz verschiedene Weise, das ist die Wahrheit. Da kann die Politik mit der Geldgießkanne kommen, so viel sie will.

Die Hoffnung im Ruhrgebiet schwindet

Aufbruch Ost? - In Eisenhüttenstadt sind seit 2004 bereits knapp 6.000 Wohnungen abgerissen worden. Die Stadt schrumpft dramatisch. Aber ohne Aussicht auf ein neues Eigenheim würden noch mehr Menschen das Weite suchen. Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Im Ruhrgebiet wollen sie vom Strukturwandel schon lange nichts mehr hören; zu oft schon wurden mit diesem Begriff Hoffnungen geweckt, die sich zerschlugen. Die Menschen schätzen hier das neue Wechselspiel von Natur und städtischem Raum, mögen sich und ihre Mentalität, hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) zuletzt in einer Umfrage herausgefunden, doch beim Wort „Strukturwandel“ stöhnen alle auf: An eine gute Zukunft mit gut bezahlter Arbeit, hohen Steuereinnahmen und schönen Schulen glaubt hier kaum noch einer.

Wo Mieten und Kaufpreise weiter steigen
Die niedrigsten Mieten - Platz 1Wer richtig günstig wohnen möchte, der muss nach Hof ziehen. In dieser Stadt kostet der Quadratmeter nur 4,52 Euro - im Gegensatz zum letzten Quartal: da kostete er noch 5,72 Euro. Im empirica-Miet- und Kaufpreisranking des 4. Quartals von 2011 belegt die Stadt den 113. Rang. Die Stadt liegt im Flusstal der Saale in Oberfranken. Der Hofer Stadtkern gehört zu den bedeutsamsten, historischen Stadtkernen Deutschlands. Die Altstadt ist eine geschlossene Biedermeierstadt, die bis heute noch vollständig erhalten ist. Quelle: dpa/picture alliance
Die niedrigsten Mieten - Platz 2Pirmasens ist die zweitgünstigste Stadt, wenn man Wohnungen ab Baujahr 2000 mieten möchte. Die Stadt hält sich auf Rang 112 der Studie. Ein Quadratmeter kostet im vierten Quartal des Jahres 2011 5,04 Euro. Pirmasens liegt am südwestlichen Rand des Pfälzerwaldes. Sie war lange Zeit bekannt für ihre gut florierende Schuhindustrie, weshalb die Stadt auch ein riesiges Messegelände besitzt, wo bis heute große Messen - wie zum Beispiel die renommierte Edelsteinmesse Intergem - stattfinden. Quelle: picture-alliance
Die niedrigsten Mieten - Platz 3Wo es sich ebenso recht günstig wohnen lässt, ist in der sächsischen Stadt Chemnitz. Hier ist der Quadratmeter um weitere fünf Cent gesunken und kostete im 4. Quartal 2011 5,12 Euro. Die in der DDR umbenannte Karl-Marx-Stadt Chemnitz hatte nach der Wende mit einer sinkenden Einwohnerzahl zu kämpfen. Allerdings strebte sie dann durch eine gelungene Entwicklungspolitik zum „Ort der Vielfalt“ auf. Die Innenstadt besteht aus Büros, Gastronomie, Wohnen, Freizeit und Kultur. Außerdem wurden in verschiedenen Stadtteilen zahlreiche Gründerzeit- und Jugendstilbauten größtenteils durch private Initiative instandgesetzt. Quelle: dpa
Die niedrigsten Mieten - Platz 4In der Stadt Gera ist es ebenfalls möglich, günstig Wohnungen zu mieten. Mit 5,24 Euro pro Quadratmeter ist die Stadt auf dem 110. Rang des empirica Miet- und Kaufpreisrankings. Bekannt für die Stadt im Osten Thüringens ist vor allem die größte und bedeutendste deutsche Schwarzbierbrauerei des Nachbarortes Köstritz. Eine kulinarische Spezialität ist die Gersche (Geraer) Fettbemme – eine Brotscheibe (Bemme), bestrichen mit Schmalz. Quelle: dpa
Die niedrigsten Mieten - Platz 5Leipzig, beliebtes Ziel für Städtereisen, bietet neben vielen Sehenswürdigkeiten, wie das Völkerschlachtdenkmal, auch günstige Mietpreise. 5,59 Euro kostet der Quadratmeter laut empirica, wenn man Wohnungen ab dem Baujahr 2000 mietet. Leipzig, einst als Heldenstadt wegen der erfolgreichen Montagsdemonstrationen im Jahr 1989 bezeichnet, lebt durch seine musikalische, architektonische und historische Vielfalt. Eine der ältesten Universitäten Deutschlands für Handel und Musik zieht besonders viele Studenten nach Leipzig, die dort praktischerweise auch günstig wohnen können. Quelle: dpa
Die niedrigsten Mieten - Platz 6Mit 5,70 Euro pro Quadratmeter ist günstiges Wohnen auch in Neubrandenburg möglich. Der Preis ist im 4. Quartal 2011 leicht gefallen, betrachtet man den vorherigen von 5,83 Euro. Damit landet die Stadt auf dem Rang 108 des emprica Kauf- und Mietpreisrankings. Die Stadt auf der mecklenburgischen Seenplatte wird auch die „Vier-Tore-Stadt“ aufgrund der vier erhaltenen Stadttore. Quelle: PR
Die niedrigsten Mieten - Platz 7Eine der grünsten Städte Deutschlands glänzt nicht nur mit zahlreichen Schloss- und Parkanlagen, sondern auch mit niedrigen Mietpreisen. Für Wohnungen, die seit dem Jahr 2000 gebaut wurden, wird in Dessau pro Quadratmeter 5,73 Euro in den letzten drei Monaten des Jahres 2011 verlangt - dies zeigt die Studie der Marktforscher von empirica. Die Stadt ist allerdings regelmäßig von Hochwasser bedroht, da sie inmitten einer ausgedehnten Auenlandschaft der unteren Mulde liegt, die nördlich der Stadt in die Elbe mündet. Quelle: dpa/picture alliance

Stark überzeichnet

Für Peter Greulich klingt das alles nach Verschwörung. Der schlanke Mittfünfziger ist seit über zehn Jahren Stadtdirektor in Duisburg und strahlt das lässige Selbstbewusstsein eines Chefarztes aus. Natürlich gebe es Probleme, sagt Greulich, im Ruhrgebiet und auch in Duisburg, aber in der aktuellen Diskussion werde doch alles stark überzeichnet: „Insgesamt sehe ich die Zukunft der Stadt sehr positiv.“ Dass Duisburg selbst im Ruhrgebiets-Vergleich eine der höchsten Arbeitslosenquoten aufweist? „Der Strukturwandel ist hier halt noch im vollem Gange.“ Die Leerstandsquote, die in manchen Vierteln bei über zehn Prozent liegt? „Es gibt in einzelnen Vierteln sicher noch einigen Nachholbedarf.“ Die anhaltende Abwanderung, obwohl die Stadt doch in den vergangenen 30 Jahren schon mehr als 100.000 Einwohner verloren hat? „Wir müssen mehr attraktiven Wohnraum für junge Familien schaffen.“

Rund ums Rathaus hat sich Duisburg bereits fein gemacht. Der Binnenhafen zählt architektonisch und wirtschaftlich zum Spannendsten, was die Gegend zu bieten hat. Die Einkaufsmeilen der Stadt füllen sich langsam wieder mit Menschen, seit der Neuigkeitswert einer Einkaufswelt im benachbarten Oberhausen sinkt. Und die unsägliche Autobahn A 59, die das Stadtzentrum in zwei Teile schneidet, wird gerade unter die Erde verbannt. Wenn jetzt noch das neue Outlet-Center und der Rheinpark im Problemviertel Hochfeld fertig werden, meint Greulich, dann stehe es um Duisburgs Zukunft gar nicht so schlecht.

Stolz und Heimat

Duisburgs Gegenwart abseits der Großprojekte liegt sechs Kilometer von Greulichs Büro entfernt, auf der nördlichen Seite der Ruhr, von der Innenstadt getrennt durch den Hafen, im Stadtteil Beeck, im Viertel von Ahmet Boztepe: eine bröckelnde Häuserreihe, an den Fassaden eine Reihe türkischsprachiger Schilder, dahinter ein Koloss aus Eisen, Backstein und Beton – das Stahlwerk Bruckhausen, Stolz und Heimat des Thyssen-Konzerns, bis heute das größte Stahlwerk im ThyssenKrupp-Verbund. Boztepe ist ein türkischstämmiger Duisburger; er berät Existenzgründer, die sich hier niederlassen wollen, aber so richtig begeistert ist er von seiner Heimat selbst nicht mehr.

„Stadtteile wie Hochfeld oder Laar“, sagt Boztepe, „werden von Jahr zu Jahr trostloser, ohne dass die Stadt mit ihren wirtschaftlichen Beschränkungen etwas tut.“ Denn Duisburg ist mindestens so pleite wie seine Nachbarn. Die Stadt steht unter Haushaltssicherung, jede Ausgabe muss von der Bezirksregierung in Düsseldorf genehmigt werden. Gerade scheitert die Einschulung von ein paar Dutzend Kindern zugewanderter Bulgaren und Rumänen daran, dass die Stadt das Bahnticket nicht bezuschussen kann. Es ist schon kurios: Boztepes Vorfahren sind nach Deutschland gekommen, weil die Wirtschaft hier brummte; heute brummt die Wirtschaft in der Türkei, und die Wanderungsbewegung dreht sich um: „In Istanbul“, sagt Boztepe, „ist es für gut ausgebildete Deutschtürken viel leichter, einen guten Job zu bekommen, als in Duisburg.“

Eine Region hinkt hinterher

Abbruch West? In Duisburg Bruckhausen werden 121 Häuser abgerissen. Sie sollen einem Grüngürtel Platz machen. Das kann nur ein Anfang sein, sagen viele hier, schließlich nimmt gerade im Norden der Stadt der Leerstand seit Jahren zu. Quelle: dapd

Greulichs Oberflächenglanz und Boztepes Tiefenschwärze – das sind zwei widersprüchliche Ergebnisse eines einzigen 40-jährigen Umbau-Prozesses. Bereits Ende der Siebzigerjahre war die Zahl der Arbeitslosen im Revier mehr als doppelt so hoch wie im Bundesschnitt; trotzdem hat man noch jahrelang kräftig um Gastarbeiter geworben, als längst hätte klar sein können, das die bloß ein Ticket in die Langzeitarbeitslosigkeit buchen würden. Seither sind regalweise Pläne geschrieben und umgesetzt, Milliarden an Fördergeldern verbuddelt worden. Erst setzte man ganz industriepolitisch auf eine Renaissance der Kohle, später ganz innovationspolitisch auf eine Förderung der Kreativwirtschaft. Nur an der Bestandsaufnahme änderte sich in all den Jahrzehnten nichts: Die Region hinkt der bundesweiten Entwicklung verlässlich hinterher. Die Einkommen steigen langsamer, die Arbeitslosigkeit liegt höher, die Bevölkerung schrumpft schneller.

Angesichts dieser Diagnose stellt sich die Frage, ob Politiker und Wirtschaftsforscher ihren Blick nach Osten richten sollten. Dorthin, wo es scheinbar gelungen ist, einen fulminanten Neustart hinzulegen. Zwar liegt die ostdeutsche Wirtschaft in Sachen Produktivität, Arbeitslosigkeit und BIP weiter deutlich hinter den westdeutschen Bundesländern zurück, doch in einigen Städten ist der Anschluss geschafft: Leipzig, Dresden oder Jena haben sich zuletzt so schwungvoll entwickelt, dass ein Platz in der ersten Riege der deutschen Städte hier nicht mehr nur nostalgische Erinnerung, sondern reale Option ist. Taugt der Strukturwandel in Ostdeutschland als Vorbild für das Ruhrgebiet?

Abschied von der homogenen Republik
Vermögen Quelle: dpa
Immobilien Quelle: dpa
Steuern Quelle: dpa
Jobs Quelle: dpa
Ausbildung Quelle: dpa
Kinderbetreuung Quelle: dpa
Demografie Quelle: dpa

Geld für Forschung

Uwe Neumann, Leiter der Abteilung Regionalforschung am RWI, ist da skeptisch: „Der Osten steht nur deshalb verhältnismäßig gut da, weil er von weit unten kommt.“ Die industrielle Basis sei dort weitgehend vernichtet – weshalb die Situation nicht vergleichbar sei. „Im Ruhrgebiet hat es nach der Kohleära nie wieder einen Boom gegeben“, sagt Neumann, „aber dafür blieb die Industriestruktur erhalten.“ Zentrale Unternehmensbereiche – Zentralen, Forschungsabteilungen – seien im Ruhrgebiet verhältnismäßig häufig vertreten, während die Industrie in Ostdeutschland, wenn überhaupt, nur als verlängerte Werkbank fungiere. Duisburg zum Beispiel hat zwar eine Arbeitslosenquote von 13,4 Prozent. Aber Duisburg ist zugleich Heimat von Konzernen wie Haniel, Klöckner und Alltours; es gibt den Hafen, einen wichtigen Siemens-Standort oder die traditionsreichen Grillo-Werke.

Jutta Günther vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle sekundiert. Man habe gehofft, dass aus den Produktionsstandorten im Osten Entwicklungszentren würden, und viel Geld in die öffentliche Forschung (Fraunhofer- und Max-Planck-Institute) gesteckt. Doch diese Hoffnung habe getrogen, weshalb die Pro-Kopf-Produktivität seit rund einer Dekade beinahe konstant bleibt und bis heute weniger als 80 Prozent des Westniveaus erreicht hat. Was aber im Osten nicht funktioniert habe – durch öffentlich geförderte Forschung private Unternehmen anzulocken –, das „könnte im Ruhrgebiet durchaus eine Erfolg versprechende Strategie sein“, sagt Günther: „Schließlich sind hier privatwirtschaftliche Anknüpfungspunkte vorhanden.“

Sozialistischer Traum

Abgesehen davon, ist die Substanz von Duisburg besser, als es ihre Fassade vermuten lässt: Die Zahl der Arbeitsplätze zum Beispiel ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Warum die Stadt davon nicht wirklich profitiert, zeigt sich im Pendlersaldo: Viele Gutverdiener arbeiten in Duisburg; wohnen aber wollen sie im Düsseldorfer Norden oder im Mülheimer Westen. Auch als Ganzes hat das Ruhrgebiet in den vergangenen Jahren eine positive Entwicklung genommen: Während das Bruttoinlandsprodukt hier pro Kopf um gut 13 Prozent stieg, waren es im Rest von NRW nur knapp sechs Prozent – und in den anderen Bundesländern nur zehn.

Die Rettung von Eisenhüttenstadt

Freie Platzwahl: Eisenhüttenstadt hat eine moderne Infrastruktur - die Bevölkerung schrumpft trotzdem. Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Wachstum – daran ist in vielen Städten des Ostens seit 22 Jahren nicht zu denken. Eisenhüttenstadt zum Beispiel, das war einmal ein sozialistischer Traum, eine Planstadt und ein Stahlkombinat, 1950 erdacht, erbaut und stetig gewachsen. Im letzten Jahr der DDR-Geschichte lebten hier 53.000 Menschen in sieben Wohnkomplexen. Vier davon bilden bis heute das Zentrum südlich des Werkes, drei weitere fraßen sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren südlich und östlich ins Umland – und verbanden sich mit dem historischen Fürstenberg an der Oder.

Nach der Wende stellte sich in Eisenhüttenstadt die Existenz- und Zukunftsfrage. Das Kombinat beschäftigte damals 16.000 Menschen; es war nicht wettbewerbsfähig, ganz Eisenhüttenstadt wusste und bangte: Ohne Werk keine Stadt. Die Politik entschied sich, Eisenhüttenstadt zu retten – und ihre notfallmedizinischen Maßnahmen glückten: Die Treuhand verkaufte das Werk an einen belgischen Investor. Brüssel bezahlte einen großen Teil der 1,3 Milliarden Mark teuren Investitionen.

Das sind Deutschlands Problemzonen
Straßenbau: Der Investitionsstau führt zum VerkehrsinfarktDie A45 gilt als Deutschlands schönste Autobahn. Über Hügel und Täler schlängelt sie sich durch das Sauer- und Siegerland nach Hessen. Dennoch ist sie für die 10000 Lkw-Fahrer, die hier täglich unterwegs sind, ein Ärgernis: Allein im hessischen Teil gibt es ein Dutzend poröse Brücken, die mit nur 60 Stundenkilometern passiert werden müssen. Ein Abschnitt ist für schwere Lkw sogar vollständig gesperrt. Zwar hat der Staat längst begonnen, zu sanieren und zu erneuern – schließlich soll sich die Zahl der Lastwagen bis zum Jahr 2025 verdoppeln. Aber insgesamt kommt die Modernisierung viel zu langsam voran. Quelle: dpa
Das gilt für Straßen in vielen  Teilen Deutschlands. Ihr schlechter Zustand spiegelt den immensen Investitionsstau wider. Laut der Initiative „Pro Mobilität“ werden seit zehn Jahren nur rund fünf Milliarden Euro pro anno in die Bundesfernstraßen investiert. Es müssten aber mindestens acht Milliarden pro Jahr sein, zumal das Verkehrsaufkommen in den nächsten Jahren deutlich steigen wird. Quelle: dpa
Bei den kommunalen Straßen ist der Bedarf sogar noch größer. Hier müssten statt jährlich fünf Milliarden eigentlich fast zehn Milliarden Euro investiert werden, sagt Wolfgang Kugele vom ADAC. „Rund die Hälfte der Straßen weist deutliche Schädigungen wie Risse, Schlaglöcher oder Verformungen auf.“ Quelle: dpa
Schulgebäude: Kommunen fehlt Geld für überfällige SanierungenMehr als ein Schulterzucken bekommt Monika Landgraf nicht als Antwort, wenn die Vorsitzende der Dortmunder „Stadteltern“ von Stadträten mehr Investitionen in Schulen fordert. Das nötige Geld, es ist einfach nicht da. Dabei würde es dringend gebraucht: An jeder zweiten der rund 200 Dortmunder Schulen müsste investiert werden, schätzt Landgraf – denn in Klassenzimmern bröckelt der Putz von den Wänden, Toiletten sind heruntergekommen, Turnhallen völlig veraltet. Quelle: dpa
Vielen Schulen fehle außerdem der Platz, um eine – seit der Umstellung auf den Ganztagsbetrieb wichtige – Mensa einzurichten. „Wie sollen Kinder auf diese Weise gute Lernleistungen erzielen?“, fragt Landgraf. Dortmund ist eher Regel- als Einzelfall: ob im Osten oder im Westen, im Norden oder Süden: Die Bedingungen für die Schüler sind fast überall schlecht. Der bundesweite Investitionsstau bei den Schulgebäuden beträgt nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Urbanistik 70 Milliarden Euro. Bei den Sportstätten sind es nach Angaben des Deutschen Sportbunds 40 Milliarden. Quelle: dpa
Doch nicht nur in die Gebäude, auch in die Lehre investiert Deutschland zu wenig: Mit Bildungsausgaben in Höhe von knapp fünf Prozent der Wirtschaftsleistung liegt das Land im Ranking der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf dem drittletzten Platz. Quelle: ap
Bahn: Manche Reisen dauern heute länger als vor dem KriegWer in Deutschland auf eine verspätete S-Bahn warten muss, wird inzwischen zumindest gut informiert. Selbst an kleinen Haltepunkten gibt es jetzt „dynamische Schriftanzeiger“, über die die aktuelle Verspätung flimmert. Rund 2800 dieser Anzeiger hat die Bahn mit Geldern der Konjunkturpakete finanziert. Doch an den vielen Zugverspätungen werden diese Zusatzinvestitionen kaum etwas ändern können: Quelle: dpa

Seither befindet sich Eisenhüttenstadt auf der Intensivstation. Die Stadt schrumpft und schrumpft, weshalb die proportionalen Kosten zur Aufrechterhaltung ihrer Vitalfunktionen steigen und steigen – mit jedem Einwohner, den die Stadt verliert: die laufenden Kosten, also der Betrieb von Bücherei, Schwimmbad, Sporthalle und Kulturzentrum – Einrichtungen, die von zunehmend weniger Menschen genutzt werden. Aber natürlich auch die Kosten der Rettung von damals, als man noch meinte, mit der Rettung des Werkes 50.000 Menschen helfen zu können. Man muss wissen, um die Lage des Ostens wirklich zu verstehen: dass aus einem heute investierten Euro in Eisenhüttenstadt durch kein Wachstum der Welt morgen zwei werden können, sondern dass hier seit 20 Jahren jeder Euro, den man für Eisenhüttenstadt aufwendet, eigentlich mit zwei Euro zu Buche schlägt, weil die Hälfte der Leute, die man ursprünglich fördern wollte, längst woanders ist.

Sinkende Einwohnerzahl

Vor elf Jahren, kurz vor dem Start von „Stadtumbau Ost”, war Christiane Nowak noch optimistisch. Damals sah sie Eisenhüttenstadt im Jahre 2015 bei 35.150 Einwohnern stehen. Weitere 15 Prozent weniger in 15 Jahren, das war zwar keine erbauliche Perspektive, aber immerhin: eine Perspektive. Und mit so einer Perspektive lässt sich arbeiten, dachte Christiane Nowak – bis sie zwei Jahre später (2003) die nächste Prognose las: Danach landete Eisenhüttenstadt in 2015 bei 32.830 Einwohnern.

Seither regiert die Bereichsleiterin Stadtentwicklung und Stadtumbau im Zwei-Jahres-Rhythmus sinkenden Prognosen und Einwohnerzahlen hinterher. Im Moment sind es weniger als 30.000. In drei Jahren sollen es nur noch 26.350 sein. „Eisenhüttenstadt entwickeln, das bedeutet: Eisenhüttenstadt muss attraktiv werden durchs Kleinerwerden“, sagt Christiane Nowak – und wer mir ihr durch den Wohnkomplex II marschiert, eine frisch sanierte Sozialismus-Siedlung der schönsten Art – Flachdach-Häuser, blockhaft einander zugewandt, bekrönt mit hübschen Attiken, dazwischen viel Erholungsgrün –, der wird ihr sogleich gratulieren: Alles richtig gemacht!

Man kann es nicht jedem Recht machen

Strukturwandel überlebt - Obwohl Kohle und Stahl im Ruhrgebiet weitgehend Geschichte sind, prosperiert der Duisburger Hafen. Quelle: dpa

Nowak hat sich entschieden, das Zentrum auf Kosten der Ränder zu stärken; die jüngeren Plattenbau-Siedlungen an der Peripherie sind im Gegensatz zu den ersten vier Wohnkomplexen architektonisch ambitionslos. Und so hat die Stadt nicht nur mittlerweile 5.600 Wohneinheiten abgerissen, sondern Wohnkomplex VII gleich dem Erdboden gleichgemacht. Sicher, es gab Härtefälle: Familien und auch ein paar Alte, die umziehen mussten und sich stattdessen den Erhalt und schonungsvollen Rückbau ihrer Siedlung gewünscht hätten. „Aber wenn Sie es jedem recht machen wollen“, sagt Nowak, „dann machen Sie es keinem recht.“

Das sieht auch Karsten Münch ein. Und doch findet der 38-jährige Immobilienmakler, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern gerade in eine frisch renovierte Wohnung im abgelegenen Wohnkomplex VI gezogen ist, dass es so nicht weitergehen kann: „Abriss, Renovierung, Umzug – wer soll das alles bezahlen?“ 700 Euro warm müssen die Münchs für 100 Quadratmeter aufbringen, rund 100 Euro mehr als vorher – „das ist hier im Osten ’ne ganze Stange Geld“. Tatsächlich sind die Preise für Wohnraum in Eisenhüttenstadt vergleichsweise hoch – was nicht zuletzt daran liegt, dass die 2.500 Beschäftigten im Stahlwerk, das heute zum Arcelor-Mittal-Konzern gehört, nach Tarif bezahlt werden.

Lieber ins Eigenheim

Das Problem ist, dass die 2.500 Arbeiter, die in kleineren Betrieben der Stahlbranche arbeiten, kaum mehr als die Hälfte ihrer Kollegen erhalten – und die Mieten für die schönen neuen Wohnungen im Stadtzentrum nicht aufbringen können. Christiane Nowak beteuert zwar, dass der Leerstand in den zentralen Komplexen bei unter 15 Prozent liegt, doch auch sie weiß: Viele Eisenhüttenstädter können sich die Wohnungen nicht leisten; wer sie sich aber leisten kann, der baut sich lieber ein Eigenheim.

Im Extremfall heißt das: Im subventionierten Wohnkomplex der Innenstadt wohnen zur Vermeidung von Leerstand Subventionsempfänger. Wer aber kein Subventionsempfänger ist, der arbeitet in einem Stahlwerk, dessen Existenz sich Subventionszahlungen verdankt – und in einem Unternehmen, dessen laufender Betrieb zum Dank dafür, dass es keine Subventionsempfänger beschäftigt, indirekt subventioniert wird, weil es so gut wie keine Gewerbesteuer zahlt.

Nachhaltigkeit funktioniert anders

Nahhaltig klingt das alles nicht. Und doch gibt Christiane Nowak nicht auf: „Wir brauchen noch etwas Geduld. Ich bin sicher, irgendwann, vielleicht mit 25.000, vielleicht mit 20.000 Einwohnern, wird die Stadt sich selbst tragen.“ Es sei denn, nicht die Politik, sondern Arcelor-Mittal käme auf die Idee, den Standort Eisenhüttenstadt irgendwann aufzugeben.

Aber das wäre dann eine andere Geschichte.

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