Nicht auszudenken, wenn Barack Obamas Geheimdienstler nicht nur das Handy der Kanzlerin abgehört hätten, sondern auch die Mobiltelefone des FDP-Spitzenpersonals. Es gäbe der transatlantischen Missverständnisse gar kein Ende mehr.
Man stelle sich bitte nur mal die Ratlosigkeit eines amerikanischen Spions vor, der den Gedanken und Ausführungen lauscht, die ein immer noch so genannter Wirtschaftsminister Philipp Rösler über den Liberalismus anstellt: „What the fuck is he talking about!?“ Kein Amerikaner kann die deutsche Version von Liberalismus wirklich verstehen – übrigens auch dann nicht, wenn er sich jenseits der fast schon sprichwörtlichen Liberatlosigkeit der FDP kundig machen würde. Wer von der „Krise des Liberalismus“ spricht, darf daher von der Unschärfe des Begriffs nicht schweigen. Von den beiden alternativen Politikangeboten - Konservativismus und Sozialismus - macht man sich dies- und jenseits des Atlantiks wenn nicht kongruente, so doch durchaus kompatible Vorstellungen. Vom Liberalismus ganz und gar nicht.
In den Vereinigten Staaten ist „liberal“ erstens ein Synonym für das deutsche „links“ und zweitens noch ganz viel mehr. Liberalismus, das klingt dort nach 1968, Permissivität und Selbstverwirklichung (das sind die Molltöne), nach Toleranz auch, Bürgergesellschaft und Wohlfahrtsstaat (das sind die Durtöne). Vor allem aber klingt „liberal“ in den USA immer nach einer Hymne auf das eigene Land, nach einer liberalen, offenen Gesellschaft, die um ihre multireligiöse Herkunft weiß, die einen ausgeprägten Sinn für kulturelle Vielfalt besitzt und für den Schutz der Rechte von Minderheiten einsteht. In Deutschland dagegen liest man die Geschichte des Liberalismus defensiver, als Geschichte bürgerlicher Emanzipation und Selbstbestimmung, als Einspruch gegen fürstliche Bevormundung und königlichen Allmachtsanspruch – weshalb man seit der Einführung und Verbreitung demokratischer Ideen nicht mehr so recht was mit ihm anzufangen weiß. Wahrscheinlich deshalb machen die Deutschen im Alltag nur noch einen adjektivisch ausgedünnten Gebrauch vom Liberalismus: Liberal ist, wer andere so akzeptiert, wie sie sind.
Die Malaise des Liberalismus
Ganz anders verhält es sich mit dem Liberalismus als Hauptwort, der hierzulande fast nur noch als ein ökonomischer Begriff im Umlauf ist. Dabei hat sich das Bedeutungsfeld des Liberalismus zuletzt dramatisch verändert. Vor zehn Jahren noch hörte er sich, hochgestimmt zur Reformmetapher, hell und harmonisch nach einem Akkord aus „Privatisierung“, „Unternehmertum“ und „wirtschaftlicher Freiheit“ an, während er seit der Krise vor allem als disharmonische Phrase wahrgenommen wird, die dunkel und dräuend von Laissez-faire-Kapitalismus, Marktradikalität und Sozialstaatsabbau kündet.
Theoretisch gesprochen heißt das: Wenn in den USA von Liberalismus die Rede ist, denkt man an John Rawls, Charles Taylor oder Michael Walzer, die viel über Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Güterverteilung, über die Grundlagen der Moral und das gesellschaftliche Zusammenleben nachgedacht haben. Während man in Deutschland vor allem an Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und Ronald Reagan denkt - und daran, dass Liberalismus vor allem die Liberalisierung von Märkten meint und alles protegiert, was Kapitalinteressen, der Globalisierung und der Steigerung des Bruttosozialprodukts dient.
Will man die Malaise des Liberalismus in einen Satz fassen, müsste man wohl sagen: Er ist ein Gefäß der Freiheit, von dem ein jeder sehr genau zu wissen meint, welche Freiheit hineingehört. Die sich hierzulande besonders gern (und fälschlicherweise) als "Liberale" bezeichnen, suchen der Bedeutungsfülle des Liberalismus daher durch eine besonders anspruchslose Definition von Freiheit zu entgehen: Der Liberalismus soll ein exklusives Reservat sein für Menschen, die mit dem Postulat der Freiheit keine positiven Ziele verfolgen. Die Freiheit ist diesen Liberalen kein Mittel zur Erreichung von Zwecken, sondern Zweck an sich: eine negative, ausgenüchterte, restlos nicht-utopische Freiheit, die weder Traditionen pflegt (Konservativismus) noch das Paradies auf Erden herbeizaubern will (Sozialismus). Es ist ein Liberalismus ohne Kompass und Horizont, der die Menschen sich selbst überlässt, solange dafür gesorgt ist, dass jeder unbehelligt seiner Wege gehen kann. Es ist ein klinischer, von allen qualitativen Selbstansprüchen gereinigter Liberalismus, der seine Attraktivität vor allem aus der Leichtigkeit bezieht, mit der er sich im Alltag behaupten und gegen jede Form von Einmischung in Stellung bringen lässt: Die Grünen wollen mich bevormunden! Mir mein Recht aufs Billigschnitzel nehmen! Mir die Freiheit rauben, mit Tempo 220 über die Autobahn zu brausen!
Die verschiedenen Formen der Freiheit
Das Problem dieser Form von Liberalismus ist nicht, dass kein Theoretiker der Welt sich jemals für ihn ausgesprochen hätte. Sondern dass er seinen eigenen Ansprüchen niemals gerecht werden kann. Man kann "liberal" nicht an sich, sondern nur mit Blick auf etwas anderes, auf eine Substanz, auf einen Gehalt hin sein. Das muss sich auch der Liberalismus der "negativen Freiheit" eingestehen, der den Schutz des Eigentums und der individuellen Freiheit zu seinen Primärsubstanzen zählt.
Das heißt, Freiheit, so eng sie auch definiert ist, ist immer von Voraussetzungen abhängig, die ihren Erhalt garantieren. John Locke leitete die Freiheit aus den Naturrechten ab. Alexis de Tocqueville baute die Freiheit auf den Grundpfeilern von Tradition und Religion. John Stuart Mill suchte die Freiheit durch eine Pädagogik der Selbstvervollkommnung auf Dauer zu stellen. Und Immanuel Kant gründete die Freiheit auf der unhintergehbaren Würde und Autonomie des Einzelnen. Kurzum, eine unbestimmte, gehaltlose Freiheit zu denken, ist unmöglich, ohne den Sinn dessen zu dementieren, was Freiheit als einer spezifisch menschlichen Qualität auszeichnet: die Freiheit nämlich zur Gestaltung der Freiheit.
Geschichtlich betrachtet, ist das eine Selbstverständlichkeit: Für einen griechischen Bürger bedeutete Freiheit, sich als tugendhaftes Mitglied der Polis auszeichnen zu können, als zoon politikon an der Gestaltung der Gemeinschaft mitwirken zu dürfen. Im christlichen Mittelalter bedeutete Freiheit, sich an je seinem Platze in die besten aller Ordnungen zu fügen, sich als kleines Rädchen im göttlichen Weltgetriebe zu erleben. Heute meint Freiheit wohl vor allem individuelle Freiheit, die Verfügung über sich selbst, die personale Meinungs-, Eigentums- und Willensfreiheit. Sie findet in den Idealen der Amerikanischen und Französischen Revolutionen ihren schönsten politischen Ausdruck - und sie prägt bis heute unser modernes, demokratisches Selbstverständnis. Freilich: Die Verfolgung dieser individuellen Freiheit bedeutet, dass wir einerseits dazu tendieren, keine “innere Pflicht” (Kant) mehr zu verspüren, uns für das Gemeinwohl zu engagieren - und andererseits keine "innere Pflicht", unser Verhältnis zum Staat anders als in Form von Ansprüchen und Rechten zu regeln.
Liberalismus ist nicht gleich Freiheit
An dieser Stelle reißt heute der Unterschied zwischen einem gründlich trivialisierten Liberalismus auf, der eine "Freiheit zu geteilten Werten" meint und einem gründlich trivialisierten Liberalismus, der einer "Freiheit vom Staat" das Wort redet. Die Quintessenz dessen, was Liberalismus im Kern ist, bekommt man weder auf dem einen, noch auf dem anderen Weg zu fassen, weil beide Liberalismen eine Freiheit protegieren, die dieselbe Freiheit zugleich bedroht: Der Werteliberalismus, indem er freie Bürger auf geteilte Ziele hin verpflichtet, die sie möglicherweise gar nicht teilen wollen. Und der Individualliberalismus, indem er freie Bürger in eine ideelle Opposition zu den demokratischen Institutionen bringt, die sie sich selbst vor 200 Jahren blutig erkämpft und aus freien Stücken gegeben haben.
Vielleicht sollten wir uns eingestehen, dass man die Quintessenz des Liberalismus nicht mit dem Begriff der Freiheit zu fassen bekommt - und es statt dessen mit dem Begriff der Unfreiheit versuchen. Die amerikanische Politologin Judith N. Shklar hat diesen Versuch bereits in einem 1989 erschienenen Essay unternommen, der vor einigen Wochen, hervorragend ediert von Hannes Bajohr, auf deutsch erschienen ist. Es ist ein Liberalismus, der nicht von hehren Zielen seinen Ausgangspunkt nimmt (sei es der Schutz des Privateigentums, sei es die Organisation des gesellschaftlichen Fortschritts), sondern von der Lebenssituation der Machtlosen. Es ist ein Elementarliberalismus, der, so Shklar, "die Fortschrittsannahme hinter sich gelassen hat und keiner spezifischen Wirtschaftsordnung anhängt", ein Liberalismus, der sich allein der Überzeugung verpflichtet fühlt, "dass Toleranz eine Kardinaltugend ist" - und der sich deshalb in einer Art permanenten Widerstand gegen jede Form von konzentrierter und angemaßter Macht befindet, ein "Liberalismus der Furcht" vor Grausamkeit, der "kein summum bonum bietet, nach dem alle politische Akteure streben sollten", sondern der von einem summum malum ausgeht, das wir alle kennen und nach Möglichkeit zu vermeiden trachten".
Weist uns Shklars "Liberalismus der Unfreiheit" einen Weg aus den Aporien der Liberalismen der Freiheit? Finden wir in Shklars "Liberalismus der Furcht" einen verbindlichen Kern dessen, was Liberalismus meint? Seien Sie gespannt. Nächste Woche erfahren Sie's!