Wahlsager

Piratenpartei - Erst geentert, dann gekentert

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Konfusion bei den Wählern

Die Werkzeuge der Piraten
PiratenpadEs ist der kollektive Notizblock der Piratenpartei: Im Piratenpad können gemeinsam Protokolle geschrieben oder Pressemitteilungen entworfen werden. Der Vorteil: In Echtzeit können mehrere Personen ein Dokument online bearbeiten, es wird farblich hervorgehoben, wer was geändert hat – das lässt sich damit unterscheiden. Technische Grundlage ist die inzwischen zu Google gehörende Software EtherPad, die auch Unternehmen nutzen können.
MumbleEines der wichtigsten internen Kommunikationswerkzeuge ist Mumble – eine Mischung aus Chat und Telefonkonferenz. Sogar viele Vorstandssitzungen werden hier abgehalten. Gegenüber klassischen Telefonkonferenzen gibt es mehrere Vorteile: Das Programm lässt sich leicht auf dem Computer installieren und über den Chat kann parallel kommuniziert werden – so können beispielsweise Links verschickt werden. Wenn jemand spricht wird das Mundsymbol neben dem Nutzernamen rot, dadurch kann man die Stimmen besser auseinanderhalten, als bei normalen Telefonkonferenzen. Ähnliche Funktionen bieten auch Skype oder TeamSpeak, dass vor allem von Online-Computerspielern zur Verständigung genutzt wird. Eine Institution bei den Piraten ist vor allem der „Dicke Engel“ (inzwischen umbenannt in ErzEngel). Jeden zweiten Donnerstag um 19:30 Uhr versammeln sich zahlreiche Piraten in diesem Mumble-Raum und diskutieren teils mit Gästen aktuelle Themen.
Liquid FeedbackEin zentrales Element ist das Computerprogramm Liquid Feedback (LQFB), eine Art Abstimmungstool, mit dem ermittelt werden soll, wie die Mehrheit der Partei zu bestimmten Positionen steht. Die Besonderheit: Das Programm gibt den Parteimitgliedern die Möglichkeit, ihre Stimme an eine andere Person zu delegieren, der sie mehr Kompetenz in bestimmten Fragen zutrauen. Allerdings ist Liquid Feedback so revolutionär wie umstritten. Während vor allem der Berliner Landesverband LQFB intensiv nutzte, waren andere Teile der Partei und auch der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz lange skeptisch. Wie intensiv das Programm genutzt wird und welche Bedeutung den Entscheidungen zukommt ist daher noch in der Diskussion.
Wikis  Wikis sind der Klassiker, die meisten Webseiten nutzen eine Wiki-Software. Sie lassen sich leicht erstellen, erweitern und vor allem auch von vielen Beteiligten bearbeiten. Das Piratenwiki ist damit die zentrale Informations- und Koordinationsplattform.   Auch manche Unternehmen setzen inzwischen Wikis ein – vor allem für die interne Kommunikation. Das bekannteste Projekt ist Wikipedia.
Blogs  Auch Weblogs werden intensiv genutzt. Viele Piraten betreiben eigene Blogs, auf denen sie Debatten anstoßen oder bestimmte Dinge kommentieren. Auch die Piratenfraktion Berlin hat nach dem ersten Einzug in ein Landesparlament ein Blog gestartet, um über ihre Arbeit zu informieren.
Twitter  Der Kurznachrichtendienst ist der vielleicht beliebteste Kanal der öffentlichen Auseinandersetzung, kaum ein Tag vergeht an dem nicht irgendeine Äußerung oder ein echter oder vermeintlicher Fehltritt zum #Irgendwasgate und #epicfail ausgerufen werden. 
Diaspora  Auch andere soziale Netzwerke werden natürlich intensiv genutzt. Jedoch ist Facebook beispielsweise bei manchem Piraten schon wieder out. Julia Schramm beispielsweise, Herausforderin von Sebastian Nerz um den Parteivorsitz, hat sich wieder abgemeldet: „Es ist wie ein widerlicher Kaugummi.“ Stattdessen nutzt sie das alternative Netzwerk Diaspora.

Man kann die Werte nun ins Verhältnis zu den aktuellen Mitgliederzahlen setzen. Wenn man der Partei ein Mobilisierungspotenzial wie 2009 unterstellt, sollte sie demnach rund 5,5 Prozent der Stimmen erreichen können.

Das jedoch scheint zurzeit äußerst unrealistisch. In keiner Umfrage kommt die Partei momentan auf Werte von mehr als vier Prozent, der letzte Wert oberhalb der Fünfprozenthürde wurde im November 2012 verzeichnet. Das zeigt, wie tief die Partei in den letzten Monaten tatsächlich gesunken ist. Ihr Mobilisierungspotenzial ist offenbar nicht nur im deutlich geringer als 2012, es liegt sogar deutlich unter den Werten von 2009. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass die Partei im Herbst sogar ihr Wahlergebnis von 2009 unterbietet – trotz einer inzwischen dreimal so großen Mitgliederzahl.

Der Hype hat der Partei also scheinbar tatsächlich mehr geschadet als genutzt. Wie negativ sich die Querelen des vergangenen Jahres auf das Bild der Partei ausgewirkt haben, belegen auch unsere exklusiven Befragungsergebnisse aus der German Longitudinal Election Study (GLES). Zum einen haben die Streitigkeiten eine Partei hinterlassen, deren Spitzenpersonal in der Bevölkerung negativ wahrgenommen wird. So ist der Vorsitzende der Partei, Bernd Schlömer, der Unbeliebteste und Unbekannteste von allen Politikern, mit denen die Befragten konfrontiert werden. Auf der Skala von -5 bis +5, mit der die Befragten die Arbeit eines Politikers bewerten sollen, erreicht Schlömer den unterirdischen Durchschnittswert von -1,6. Sogar bei den eigenen Sympathisanten wird Schlömers Arbeit im Durchschnitt (-0,5) eindeutig negativ beurteilt. Fast 70 Prozent der Befragten kennen Bernd Schlömer überhaupt nicht, deutlich mehr als bei jedem anderen Politiker.

Diese Tatsache allein könnte man bei den Piraten, die sich von Beginn an über Themen anstatt über Personen definieren wollten, vielleicht noch wegstecken. Doch auch thematisch ist die Begeisterung vieler Wähler über die ideologische Offenheit dem Bild völliger Konfusion gewichen. So wurden die Befragten der GLES gebeten, Begriffe zu nennen, die sie mit den Piraten verbinden. Die am häufigsten genannten Schlagworte waren „chaotisch“, „kein Programm“, „Chaos“ und „kein Konzept“. Das einzig halbwegs thematische  Stichwort, das wiederholt fiel, war „Internet“. Die an Parteipositionen angelehnten Schlagworte „Transparenz“ und „Demokratie“ wurden nur von je zehn Befragten genannt – genauso häufig wie die Begriffe „zerstritten“ „Modeerscheinung“ oder „unausgegoren“. Zentrale Forderungen der Piraten wie das bedingungslose Grundeinkommen wurden von den Befragten überhaupt nicht genannt. Dass die negative Stimmung inzwischen überwiegt, zeigt auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Auf die erste Hype-Phase 2009 folgte noch eine Konsolidierung, in der die Mitgliederzahlen stabil blieben. Seit dem letzten Schwung 2012 haben innerhalb weniger Monaten hingegen schon mehrere tausend Mitglieder die Partei wieder verlassen – die bei der Piratenpartei häufigen Karteileichen nicht mitgerechnet.

Die öffentliche Debatte über die Überwachungspraxis des amerikanischen Geheimdienstes zeigt jetzt, dass die Piraten im Zuge der inneren Querelen offenbar nicht nur Protestwähler wieder verloren haben, sondern auch in ihrem Kernbereich Glaubwürdigkeit verspielt haben. Obwohl das Thema Überwachung und Datenschutz seit Wochen die öffentliche Debatte dominiert, hat es in den Zustimmungswerten für die Piraten keinen messbaren Effekt gegeben.

Für die Partei dürfte der 22. September wahrscheinlich eine große Enttäuschung werden. Ein Hoffnungsschimmer aber bleibt: Anders als reine Protestparteien wie die AfD droht der Partei wohl nicht das völlige Auseinanderbrechen bei einem enttäuschenden Wahlergebnis. Dafür sind die Piraten mit ihrer hohen Beteiligungsquote bereits zu sehr zur „sozialen“ Organisation geworden, die ihren Unterstützern unabhängig von Wahlergebnissen als gemeinsames Forum dient und sie so zusammenhält. 

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