Man kann die Werte nun ins Verhältnis zu den aktuellen Mitgliederzahlen setzen. Wenn man der Partei ein Mobilisierungspotenzial wie 2009 unterstellt, sollte sie demnach rund 5,5 Prozent der Stimmen erreichen können.
Das jedoch scheint zurzeit äußerst unrealistisch. In keiner Umfrage kommt die Partei momentan auf Werte von mehr als vier Prozent, der letzte Wert oberhalb der Fünfprozenthürde wurde im November 2012 verzeichnet. Das zeigt, wie tief die Partei in den letzten Monaten tatsächlich gesunken ist. Ihr Mobilisierungspotenzial ist offenbar nicht nur im deutlich geringer als 2012, es liegt sogar deutlich unter den Werten von 2009. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass die Partei im Herbst sogar ihr Wahlergebnis von 2009 unterbietet – trotz einer inzwischen dreimal so großen Mitgliederzahl.
Der Hype hat der Partei also scheinbar tatsächlich mehr geschadet als genutzt. Wie negativ sich die Querelen des vergangenen Jahres auf das Bild der Partei ausgewirkt haben, belegen auch unsere exklusiven Befragungsergebnisse aus der German Longitudinal Election Study (GLES). Zum einen haben die Streitigkeiten eine Partei hinterlassen, deren Spitzenpersonal in der Bevölkerung negativ wahrgenommen wird. So ist der Vorsitzende der Partei, Bernd Schlömer, der Unbeliebteste und Unbekannteste von allen Politikern, mit denen die Befragten konfrontiert werden. Auf der Skala von -5 bis +5, mit der die Befragten die Arbeit eines Politikers bewerten sollen, erreicht Schlömer den unterirdischen Durchschnittswert von -1,6. Sogar bei den eigenen Sympathisanten wird Schlömers Arbeit im Durchschnitt (-0,5) eindeutig negativ beurteilt. Fast 70 Prozent der Befragten kennen Bernd Schlömer überhaupt nicht, deutlich mehr als bei jedem anderen Politiker.
Diese Tatsache allein könnte man bei den Piraten, die sich von Beginn an über Themen anstatt über Personen definieren wollten, vielleicht noch wegstecken. Doch auch thematisch ist die Begeisterung vieler Wähler über die ideologische Offenheit dem Bild völliger Konfusion gewichen. So wurden die Befragten der GLES gebeten, Begriffe zu nennen, die sie mit den Piraten verbinden. Die am häufigsten genannten Schlagworte waren „chaotisch“, „kein Programm“, „Chaos“ und „kein Konzept“. Das einzig halbwegs thematische Stichwort, das wiederholt fiel, war „Internet“. Die an Parteipositionen angelehnten Schlagworte „Transparenz“ und „Demokratie“ wurden nur von je zehn Befragten genannt – genauso häufig wie die Begriffe „zerstritten“ „Modeerscheinung“ oder „unausgegoren“. Zentrale Forderungen der Piraten wie das bedingungslose Grundeinkommen wurden von den Befragten überhaupt nicht genannt. Dass die negative Stimmung inzwischen überwiegt, zeigt auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Auf die erste Hype-Phase 2009 folgte noch eine Konsolidierung, in der die Mitgliederzahlen stabil blieben. Seit dem letzten Schwung 2012 haben innerhalb weniger Monaten hingegen schon mehrere tausend Mitglieder die Partei wieder verlassen – die bei der Piratenpartei häufigen Karteileichen nicht mitgerechnet.
Die öffentliche Debatte über die Überwachungspraxis des amerikanischen Geheimdienstes zeigt jetzt, dass die Piraten im Zuge der inneren Querelen offenbar nicht nur Protestwähler wieder verloren haben, sondern auch in ihrem Kernbereich Glaubwürdigkeit verspielt haben. Obwohl das Thema Überwachung und Datenschutz seit Wochen die öffentliche Debatte dominiert, hat es in den Zustimmungswerten für die Piraten keinen messbaren Effekt gegeben.
Für die Partei dürfte der 22. September wahrscheinlich eine große Enttäuschung werden. Ein Hoffnungsschimmer aber bleibt: Anders als reine Protestparteien wie die AfD droht der Partei wohl nicht das völlige Auseinanderbrechen bei einem enttäuschenden Wahlergebnis. Dafür sind die Piraten mit ihrer hohen Beteiligungsquote bereits zu sehr zur „sozialen“ Organisation geworden, die ihren Unterstützern unabhängig von Wahlergebnissen als gemeinsames Forum dient und sie so zusammenhält.