Es war am 17. Juni 2017: Winfried Kretschmann sitzt beim Bundesparteitag der Grünen an seinem Platz in der 2. Reihe und regt sich auf. „Das ist doch ein Schwachsinnstermin!“, blaffte er einen Parteifreund an. Wenn die Grünen wirklich ab 2030 die Zulassung von neuen Verbrennungsmotoren verbieten wollten, könnten sie ihren Wahlkampf ohne ihn machen und müssten sich eben mit sechs Prozent zufrieden geben, tobte der Ministerpräsident des Autolandes Baden-Württemberg – ohne zu wissen, dass er dabei gefilmt wurde.
Nur fünf Wochen später sind Ausstiegstermine für den Diesel in Mode: Norwegen will ab 2025 nur noch emissionsfreie Neufahrzeuge, Indien will 2030 nachziehen. Das Nachbarland Frankreich will den Verkauf von Verbrennungsmotoren bis 2040 einstellen.
Nun zieht London nach. „Ende der Diesel- und Benzinautos”, titelt die britische Times. Die Regierung stellte am Morgen Pläne vor, denen zufolge auf der Insel ab 2040 nur noch elektrische Autos verkauft werden dürfen – auch Hybridfahrzeuge nicht mehr. Eine „Abwrackprämie“ ist bislang aber nicht geplant. Die Bezirke, in denen die gesetzlichen Höchstwerte für Stickstoffdioxid überschritten werden, sollen bis Ende März 2018 Vorschläge einreichen, wie sie die Qualität ihrer Luft verbessern. Denkbar wären laut Regierung Ausbesserung der Straßen, um den Verkehr zu erleichtern, eine neue Struktur der Ampeln oder eine andere Straßenführung. Zur Unterstützung will die Regierung eine Milliarden Pfund (1,1 Milliarden Euro) bereitstellen.
Welche Schadstoffe im Abgas stecken
Stickoxide (allgemein NOx) gelangen aus Verbrennungsprozessen zunächst meist in Form von Stickstoffmonoxid (NO) in die Atmosphäre. Dort reagieren sie mit dem Luftsauerstoff auch zum giftigeren Stickstoffdioxid (NO2). Die Verbindungen kommen in der Natur selbst nur in Kleinstmengen vor, sie stammen vor allem aus Autos und Kraftwerken. Die Stoffe können Schleimhäute angreifen, zu Atemproblemen oder Augenreizungen führen sowie Herz und Kreislauf beeinträchtigen. Pflanzen werden dreifach geschädigt: NOx sind giftig für Blätter und sie überdüngen und versauern die Böden. Außerdem tragen Stickoxide zur Bildung von Feinstaub und bodennahem Ozon bei.
Kohlendioxid (CO2) ist in nicht zu großen Mengen unschädlich für den Menschen, aber zugleich das bedeutendste Klimagas und zu 76 Prozent für die menschengemachte Erderwärmung verantwortlich. Der Straßenverkehr verursacht laut Umweltbundesamt rund 17 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland – hier spielt CO2 die größte Rolle. Es gibt immer sparsamere Motoren, zugleich aber immer größere Autos und mehr Lkw-Transporte. Außerdem mehren sich Hinweise darauf, dass Autobauer nicht nur bei NOx-, sondern auch bei CO2-Angaben jahrelang getrickst haben könnten.
Bei der Treibstoff-Verbrennung in vielen Schiffsmotoren fällt auch giftiges Schwefeldioxid (SO2) an. In Autos und Lkws entsteht dieser Schadstoff aber nicht, was am Kraftstoff selbst liegt: Schiffsdiesel ist deutlich weniger raffiniert als etwa Pkw-Diesel oder Heizöl und enthält somit noch chemische Verbindungen, die bei der Verbrennung in Schadstoffe umgewandelt werden.
Winzige Feinstaub-Partikel entstehen entweder direkt in Automotoren, Kraftwerken und Industrieanlagen oder indirekt durch Stickoxide und andere Gase. Die Teilchen gelangen in die Lunge und dringen in den Blutkreislauf ein. Sie können Entzündungen der Atemwege hervorrufen, außerdem Thrombosen und Herzstörungen. Der Feinstaub-Ausstoß ist in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre deutlich gesunken. Städte haben Umweltzonen eingerichtet, um ihre Feinstaubwerte zu senken.
Feinstaub entsteht aber nicht nur in den Motoren. Auch der Abrieb von Reifen und Bremsen löst sich in feinsten Partikeln. Genauso entstehen im Schienenverkehr bei jedem Anfahren und Bremsen feiner Metallabrieb an den Schienen. All das landet ebenfalls als Feinstaub in der Luft.
Katalysatoren haben die Aufgabe, gefährliche Gase zu anderen Stoffen abzubauen. In Autos wandelt der Drei-Wege-Kat giftiges Kohlenmonoxid (CO) mit Hilfe von Sauerstoff zu CO2, längere Kohlenwasserstoffe zu CO2 und Wasser sowie NO und CO zu Stickstoff und CO2 um. Der sogenannte Oxidations-Kat bei Dieselwagen ermöglicht jedoch nur die ersten beiden Reaktionen, so dass Dieselabgase noch mehr Stickoxide enthalten als Benzinerabgase. Eingespritzter Harnstoff („AdBlue“) kann das Problem entschärfen: Im Abgasstrom bildet sich so zunächst Ammoniak, der anschließend in Stickstoff und Wasser überführt wird.
Mit dem Vorstoß will die britische Regierung die hohen Emissionswerte bekämpfen. Laut Gesetz darf die Konzentration von Stickstoffdioxid in der Luft an 18 Tagen im Jahr nicht über 200 Mikrogramm pro Kubikmeter und Stunde betragen – diese Grenze wurde in einigen Teilen Londons jedoch bereits in der ersten Januarwoche überschritten. Häufig sieht man auf den Straßen der britischen Hauptstadt daher Radfahrer mit Atemmaske, in der U-Bahn wird wegen schlechter Luftwerte vor zu starker körperlicher Anstrengung gewarnt.
Aber nicht nur in London ist das ein Problem: Laut Regierung muss in 17 Städten der Insel dringend gehandelt werden. Auch in Deutschland stehen zahlreiche Städte vor dem Problem, dass Grenzwerte nicht eingehalten werden. Gerichtsverfahren laufen, Städte wie Stuttgart, München oder Düsseldorf stellen sich darauf ein, womöglich bald Fahrverbote erlassen zu müssen.
Studien zufolge haben hohe Stickstoffdioxidwerte, die vor allem auf Dieselfahrzeuge zurückgeführt werden, schwerwiegende Folgen auf die Gesundheit der Menschen. Die Experten der britischen Royal College of Physicians veröffentlichte vergangenes Jahr einen Bericht, denen zufolge Luftverschmutzung, Krebs, Asthma, Diabetes, Übergewicht und Demenz begünstigt und zu einem früheren Tod von 40.000 Menschen führt. Umweltexperten gehen die Pläne der Regierung daher nicht weit genug: Sie sehen es kritisch, dass diese Vorschriften erst in 23 Jahren gelten sollen.
Juncker erklärt Dieselskandal zur Chef-Sache
Die britische Automobilindustrie hingegen warnte vor zu schnellen und zu drastischen Maßnahmen, die die Nachfrage nach Neuwagen dämpfen könnte – schließlich seien in der Branche 800.000 Beschäftigte tätig. Die Automobilhersteller bräuchten genügend Zeit, um sich umzustellen, forderte der Vorsitzende des Automobilherstellerverbands SMMT, Mike Hawes, in der BBC.
Angesichts des Brexit steht die britische Automobilbranche gerade ohnehin vor großen Herausforderungen. Sollten im Zuge des EU-Ausstiegs Zölle und Grenzkontrollen eingeführt werden, fürchtet die Branche massive Einschränkungen. Autos mit elektrischem Antrieb sind in Großbritannien immer gefragter – aber unter dem Strich ist die Zahl der zugelassenen Autos immer noch gering. Vor allem die geringe Reichweite der E-Autos hält viele von einem Wechsel ab.
Nissan, der zweitgrößte Autoproduzent der Insel nach Jaguar Land Rover, äußerte sich positiv. „Als E-Auto-Pionier, der mehr als jedes andere Unternehmen verkauft hat, begrüßen wir die Pläne, die Menschen zu ermutigen, auf Fahrzeuge mit weniger oder null Emissionen umzusteigen“, heißt es in einer Unternehmensmitteilung.
Am Dienstag hatte BMW verkündet, seinen ersten vollelektrischen Mini ab 2019 trotz des Brexit im englischen Werk Oxford zu bauen. Batterie und Motor für den Elektro-Mini sollen in den bayerischen Werken Dingolfing und Landshut gefertigt werden. Für den Energie-Experten Frederik Dahlmann von der Warwick Business School ist der Vorstoß der britischen Regierung „ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“.