Briten stimmen für den Brexit Großbritannien auf Crashkurs

Es ist eine Sensation: Beim EU-Referendum in England, Schottland, Wales und Nordirland haben die Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt. Das Pfund stürzt massiv ab, den Börsen droht ein Kollaps.

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Großbritannien erwacht und wird ein anderes sein. Quelle: REUTERS

Die Fakten waren eindeutig. Großbritannien profitiert massiv von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Das Königreich braucht den Binnenmarkt, London sein Finanzzentrum, und die Downing Street den Rückhalt der 27 weiteren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, um perspektivisch auch international als Macht anerkannt zu werden – und nicht nur als historische Größe.

Es war eine Schicksalsfrage für Großbritannien und auch für die Europäische Union, mal wieder, über die die gut 45 Millionen Briten am Donnerstag abstimmen durften: Bleiben oder gehen? Europa oder Alleingang?

Jetzt steht fest: Die Briten haben sich gegen einen Verbleib des Königreichs in der Europäischen Union ausgesprochen. Ein Schock. Für Großbritannien, Europa und die Finanzmärkte. 51,9 Prozent der Bürger haben für den Brexit gestimmt, 48,1 Prozent für einen Verbleib der Briten in der EU.


Während in London, Liverpool, Glasgow und Nordirland die Brexit-Gegner zum Teil sehr deutlich vorne lagen, konnten im Rest von England (in Birmingham, Swansea und auf dem Land) die EU-Gegner punkten. Auch Wales, das zynischerweise erhebliche EU-Mittel zur Stärkung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren erhalten hat, stimmte größtenteils für einen Rückzug des Königreichs aus der Europäischen Union.

Pfund stürzt ab

Das britische Pfund stürzte schon in der Nacht ins Bodenlose. Um acht Prozent fiel die Währung gegenüber den US-Dollar – der größte Absturz innerhalb eines Tages in der Geschichte. Schon vorab hatten Ökonomen und Finanzexperten vor den Folgen eines Brexit gewarnt: Hunderttausende Jobs seien in Gefahr, eine Rezession droht.


Mehr als die Hälfte der Bevölkerung schlug die guten Argumente in den Wind – und wählte aus Frust für das Chaos. Die Brexit-Befürworter nannten in den Nachwahlbefragungen vor allem zwei Gründe für ihr Votum: ihre Angst vor Zuwanderung und der Wunsch nach Souveränität (vor allem nach außen).

Brexit-Votum ist eine schlechte Nachricht für Europa


Für Europa ist das Votum der Briten eine denkbar schlechte Nachricht. Die EU braucht Großbritannien mindestens so sehr, wie die Briten Europa. Das gilt vor allem für Deutschland. Das Königreich ist einer der wichtigsten Handelspartner der Welt für die Bundesrepublik. Im vergangenen Jahr exportierten die Deutschen Waren im Wert von über 90 Milliarden Euro auf die Insel. Großbritannien wächst derzeit um gut zwei Prozent, die EU-Staaten im Durchschnitt nur 0,5 Prozent.

Vor allem aber steht London für eine wirtschaftsfreundliche Politik. Kaum ein Land steht und kämpft in Europa derart für freie Märkte und die Marktwirtschaft wie Großbritannien. Während Frankreich sein Heil im Protektionismus sucht und an den starken Staat glaubt, der vor dem Unheil der Welt schützen kann, während die Italiener ihre Wirtschaft schon traditionell per Notenpresse unter die Arme greifen (wollen), glauben die Briten, dass der Markt die Dinge weitestgehend am besten zu regeln vermag. Deutschland verliert – wie es aussieht – einen wichtigen Partner.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa


Brüssel ist nun mehr denn je zum Handeln gezwungen. Die Europäische Union muss sich neu aufstellen. So täte sich Brüssel einen Gefallen, sich partiell weniger Aufgaben zuzumuten. Dinge ohne grenzüberschreitende Relevanz – Bildung, Kultur, Agrarpolitik – gehören von den Nationalstaaten entschieden, und dort bestenfalls von den Bundesländern oder Kommunen. Vor allem aber muss der Staatenbund um seine Legitimation kämpfen und beweisen, dass er handlungsfähig ist.

Wo ist die Vision für Europa?

Über Jahrzehnte war das europäische Projekt ein Friedensprojekt; die Hauptaufgabe der EU und seiner Vorgängerinitiativen war es, Kriege in Zentraleuropa zu verhindern. Später war es die Eingliederung der ehemaligen Ostblockstaaten. Beides ist mit Bravour gelungen. Und ab da? Kein Großprojekt, keine Vision. In den vergangenen Jahren dominierten die Krisengipfel rund um Euro und Griechenland. Bis plötzlich Millionen von Flüchtlingen nach Europa drängten.

Doch statt die Kräfte zu bündeln, eine Vision für ein Europa der Zukunft zu entwickeln und die Flüchtlingsansturm zu managen, gab die EU ein klägliches Bild ab. Auch nach einem Jahr gibt es keine verlässliche gemeinsame Haltung, blockieren einzelne (Kleinst-)Länder eine Lösung, dominiert Egoismus statt Gemeinsinn. Keiner der EU-Politiker, weder Ratspräsident Jean-Claude Juncker noch Parlamentspräsident Martin Schulz, vermochte zu moderieren und Lösungen zu forcieren.

Derzeit traut kaum ein Europäer dem Staatenbund zu, die Probleme der Zeit zu lösen. Die Flüchtlingskrise hatte die Chance geboten, den Bürgern ein handlungsfähiges Europa zu präsentieren. Dazu hätte man den Mitgliedsstaaten auch mal auf die Füße treten müssen. Den Briten etwa – die in der Flüchtlingskrise bisher wenig lösungsorientiert waren.

Fast schon zynisch, dass ebenjene Briten nun künftig wohl ihren eigenen Weg gehen.


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