In Finnland hat eines der größten sozialpolitischen Experimente der europäischen Nachkriegszeit begonnen. Die Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Juha Sipilä, die seit Mai dieses Jahres im Amt ist, hat eine Testphase für ein bedingungsloses Grundeinkommen gestartet. „Für mich bedeutet ein Grundeinkommen eine Vereinfachung des sozialen Sicherungssystems“, erklärte Sipilä zuletzt.
Im Frühjahr 2016 soll eine finnische Expertenkommission ein Gutachten vorlegen, wie und unter welchen Bedingungen ein Grundeinkommen gezahlt werden kann. Olli Kangas von der finnischen Sozialversicherungsbehörde KELA ist für die Studie verantwortlich. Vor einigen Wochen sagte er, dass er einen Betrag von 800 Euro pro Person für denkbar hält.
In gut einem Jahr will die finnische Regierung dann entscheiden, ob und wann es das Experiment startet. Nach dem Willen der Wissenschaftler sollen daran zunächst einige tausend Menschen teilnehmen, die per Lotterieverfahren ermittelt werden.
Wissenswertes über Finnland
Finnland ist zwar nur wenig kleiner als Deutschland, dafür hat das Land im Norden lediglich 5,4 Millionen Einwohner. Die Mehrheit davon wohnt im Süden des Landes und im Großraum Helsinki. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung leben in Südfinnland, das entspricht einer Dichte von 62,6 Einwohnern pro Quadratkilometer. Im Norden des Landes, in Lappland, sind es nur 1,9 Einwohner je Quadratkilometer.
Die finnische Nationalhymne wird in mehrfacher Hinsicht geteilt: Zum einen benutzt Estland die gleiche Melodie (komponiert von Fredrik Pacius) als Nationalhymne, zum andern existiert die finnische Hymne in zwei Sprachen. Ein Großteil der Bevölkerung singt die Maamme (finnisch), während ein kleiner Teil Vårt land (schwedisch) singt. Die autonome Provinz Åland hat ihre ganz eigene Nationalhymne, das Ålänningens sång.
Wegen der schwedischen Minderheit müssen alle Gemeinden, in denen Finnisch und Schwedisch sprechende Menschen leben, Unterricht in beiden Sprachen anbieten. Die Schulpflicht gilt in Finnland wie auch in Deutschland bis zum 16. Lebensjahr. Neun Jahre lang gehen die Finnen in die peruskoulu, eine Art gemeinsame Grundschule.
In Finnland haben drei Konzerne die Macht über den Lebensmittel- und Getränkemarkt: S-Markt, K-Markt und Suomen Lähikauppa halten gemeinsam fast 90 Prozent. Ausländische Konzerne und Ketten haben es wegen des geringen Marktvolumens eher schwer. Bäckerei- oder Fleischerketten gibt es in Finnland kaum.
Die Finnen verkaufen seit jeher Holz und Papier. In den Siebzigerjahren machten diese Industriezweige über die Hälfte des finnischen Exportes aus. Dann kamen Nokia und Co. und Finnland wandelte sich von einer Agrar- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Doch auch heute noch stellen die finnischen Wälder den wichtigsten Rohstoff des Landes dar.
Dennoch sind mittlerweile Maschinen der finnische Exportschlager (8,4 Milliarden Euro in 2010). Sie machen 16 Prozent des Exports aus. Gefolgt von Papier und Pappe mit 14 Prozent (7,3 Milliarden Euro im Jahr 2010). Außerdem ist Heavy Metal in Finnland ausgesprochen populär. Die Finnen versorgen Europas und Amerikas Metal-Fans mit Rock- und Metalbands wie Children of Bodom, Nightwish oder dem Eurovision Song Contest-Gewinner Lordi.
Namhafte Finnen sind die Regisseure Aki und Mika Kaurismäki, die Komponisten Jean Sibelius und Levi Madetoja, sowie die Rennfahrer Mika Häkkinen und Kimi Räikkönen. Der reichste Finne ist laut aktueller Forbes-Liste übrigens Antti Herlin, der es dank seiner Maschinenbau- und Servicefirma KONE Corporation auf ein Vermögen von rund zwei Milliarden Dollar gebracht hat.
Der gemeine Finne betätigt sich gern sportlich, zum Teil auch in kuriosen Disziplinen. Großer Beliebtheit erfreut sich in Finnland beispielsweise das Frauentragen. Die "Wife Carrying World Championship Games" finden in Sonkajärvi in Ostfinnland seit 1992 statt. Genauso beliebt sind Melkschemel- oder Handy-Weitwurf, Mückenklatschen und Beeren pflücken als Teamsport. Seit 2011 finden übrigens auch Weltmeisterschaften im Schlammfußball in Finnland statt.
Alkohol ist in Finnland verhältnismäßig teuer, auch wenn 2004 die Alkoholsteuer um 33 Prozent gesenkt worden ist. Auch der Verkauf ist streng reglementiert: Getränke mit mehr als 4,7 Prozent Alkoholgehalt dürfen nur in staatlichen Monopolgeschäften, den Alkoshops, verkauft werden. Wer in der Kneipe eine Flasche Bier bestellt, muss 18 Jahre alt sein und mit fünf Euro pro Flasche rechnen. Vom Trinken scheint das die Finnen aber nicht abzuhalten. Im Jahr 2005 war Alkohol die häufigste Todesursache unter Finnen im arbeitsfähigen Alter.
Für Wissenschaftlerin Kati Kuitto von der Denkfabrik „Finnish Center for Pensions“ gibt es zwei wesentliche Gründe für das Grundeinkommen. „Zum einen werden auch geringfügige Beschäftigungen attraktiv, weil die Grundversorgung sichergestellt ist. Zum anderen fallen die meisten anderen Sozialleistungen weg und das System wird massiv vereinfacht und effizienter“, sagt Kuitto.
Derzeit leidet Finnland unter einer hohen Arbeitslosigkeit von knapp zehn Prozent. Manche Befürworter des Grundeinkommens bringen das immer wieder als Argument: Zahlt der Staat eine solche Grundsicherung, halten sich die negativen Auswirkungen der schwachen Beschäftigungsquote in Grenzen.
Alexander Spermann vom Institut der Zukunft für Arbeit (IZA) in Bonn hält wenig von diesem Argument. „Ein Grundeinkommen eignet sich nicht, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Eine solche sozialpolitische Leistung gibt möglicherweise einen Anreiz, bislang wenig attraktive Jobs anzunehmen. Neue Jobs entstehen so aber nicht“, sagt der Wissenschaftler.
Dennoch hält Spermann es für sinnvoll, dass Finnland das Experiment startet. „Wir wissen viel zu wenig darüber, wie sich Menschen verhalten, wenn sie ein Grundeinkommen bekommen. Stellen Sie die Arbeit ein oder bekommen sie einen zusätzlichen Arbeitsanreiz? Über diese Fragen wird hitzig debattiert, aber uns fehlen empirische Erkenntnisse.“
In wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studien gilt vor allem die Höhe des Grundeinkommens für entscheidend. Würde sich Finnland tatsächlich für 800 Euro pro Monat entscheiden, entspräche das in etwa der derzeitigen Arbeitslosenhilfe plus Kindergeld. Die Finnen würden sich also an bestehenden Sozialleistungen orientieren und diese umbauen. Je höher das Grundeinkommen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Menschen sich noch einen Job suchen. Diese These dominiert derzeit die wissenschaftliche Debatte.
Breite Unterstützung in der finnischen Bevölkerung
Im finnischen Experiment soll es letztlich eine Reihe von Versuchsgruppen geben. Eine Gruppe könnte etwa 800 Euro pro Monat erhalten, eine weitere Gruppe einen deutlichen höheren Betrag. Eine dritte wiederum würde wohl das Modell der negativen Einkommenssteuer testen, wonach das Grundeinkommen abnimmt, sobald ein Bürger einen Job hat, mit dem es verrechnet werden kann. Eine vierte Kohorte müsste als Kontrollgruppe dienen, um die Ergebnisse vergleichen zu können.
Expertin Kati Kuitto sieht noch Schwierigkeiten in der Umsetzung. Unter anderem müsse geklärt werden, ob und wie jemand Rentenansprüche erwirbt, wenn er das Grundeinkommen erhält. „Wer heutzutage Arbeitslosenhilfe oder Elterngeld bekommt, sammelt weiterhin Rentenansprüche. Das müsste beim Grundeinkommen ebenfalls sichergestellt werden“, sagt Kuitto.
Und: „Es darf niemand, der an dem Experiment teilnimmt, schlechter gestellt werden als zuvor.“ Kurzum: Wenn jemand sehr viele Sozialleistungen erhält, müssen diese auch künftig über das Grundeinkommen abgedeckt werden. Gegner des Konzepts bringen das immer wieder als Argument an. Staatliche Transferleistungen sollten immer an das Individuum angepasst werden, das Hilfe braucht. Eine Gleichbehandlung von allen sei nicht zielführend. Viel zu aufwendig und bürokratisch, hält die andere Seite dann für gewöhnlich entgegen.
Sollte das Experiment gelingen, kann das Grundeinkommen frühestens 2020 eingeführt werden. Innerhalb der finnischen Bevölkerung gibt parteiübergreifend viel Unterstützung für die Idee. Die Sozialversicherungsbehörde KELA hatte im September eine repräsentative Umfrage durchgeführt, wonach 69 Prozent aller Befragten das Grundeinkommen befürworten.
Am größten ist die Unterstützung bei den Anhängern des finnischen Linksbündnisses (86 Prozent). Bei den Grünen finden drei Viertel die Idee gut und selbst bei Konservativen (54 Prozent) und Christdemokraten (56 Prozent), die dem Vorschlag in der Vergangenheit eher skeptisch gegenüberstanden, findet die Idee Anklang.
Wie genau das Grundeinkommen letztlich konstruiert wird, ist auch eine Frage der Finanzierbarkeit. Der Finanzdienst Bloomberg rechnet in einer Überschlags-Kalkulation vor, dass jedes Jahr rund 47 Milliarden Euro benötigt würden, wenn jedem der knapp fünf Millionen erwachsenen Finnen im Monat 800 Euro gezahlt würden. Zum Vergleich: Für das Jahr 2016 kalkuliert Finnland mit einem Gesamtbudget der Zentralregierung von 54 Milliarden Euro, davon fünf Milliarden Euro Schulden.
Arbeitsmarktexperte Spermann rät in der Finanzierungsfrage zur Gelassenheit, schließlich sei es immer das „das Killerargument“ in der Debatte. Viel entscheidender für ihn: „Wenn man ein Modell finden würde, was finanzierbar ist und Arbeitsanreize schafft, müsste man es langsam implementieren – egal ob in Finnland oder einem anderen Land. Die Sozialsysteme müssten Stück für Stück umgestellt werden, auch um die Bürger an das neue Modell zu gewöhnen.“ In einigen Monaten wird Finnland entscheiden, ob es das Experiment wagt.