Das Nobelkomitee in Oslo hat den Friedensnobelpreis 2012 an die EU vergeben. Die Staatengemeinschaft habe sich über sechs Jahrzehnte für Frieden, Demokratie und Menschenrechte eingesetzt, erklärte das norwegische Komitee. Nach der umstrittenen Entscheidung 2009, den Friedensnobelpreis an den US-Präsidenten Barack Obama zu vergeben, beweisen die Preisverleiher erneut Mut. Denn die Entscheidung wird viele überraschen, nicht wenige werden sie kritisieren. Schließlich bekommt die Europäische Union den Friedensnobelpreis mitten in ihrer wohl größten Krise.
In Athen demonstrieren tausende gegen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und rufen zu einem Boykott deutscher Produkte auf. In Frankreich hat die rechtsextreme Marine Le Pen mit einer Anti-Brüssel-Kampagne fast ein Fünftel der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl im Mai gewonnen. Europa ist in Aufruhr, selbst in den Gründerstaaten hat das Projekt kaum noch einen Rückhalt.
Schuld daran sind weder die Gesetze über den Krümmungsgrad von Gurken, noch die Angst vor Überfremdung durch eine Erweiterung Europas gen Osten. Der Frust vieler Europa hängt eng mit der Schuldenkrise zusammen – und mit dem Euro. Doch für die Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung kann die Europäische Union nichts. Wahr ist: In dem Vertrag von Maastricht wurde festgelegt, dass in der EU der Euro als gemeinsame Währung eingeführt werden soll. Dabei wurden aber mit den EU-Konvergenzkriterien - oder auch Maastricht-Kriterien - klare Bedingungen vorgegeben. Dass die Nationalstaaten diese später aushebelten, kann schwerlich der EU angelastet werden.
Die Friedensnobelpreisträger der letzten zehn Jahre
Die Europäische Union
Ellen Johnson Sirleaf, liberianische Präsidentin, Leymah Gbowee, liberianische Aktivistin, und Tawakkul Karman, jemenitische Bürgerrechtlerin
Liu Xiaobo, chinesischer Dissident
Barack H. Obama, US-Präsident
Martti Ahtisaari, ehemaliger finnischer Präsident
Al Gore, früherer US-Vizepräsident, und der Weltklimarat (IPCC)
Muhammad Yunus und das von ihm gegründete Armenhilfsprojekt der Grameen Bank in Bangladesch
Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und ihr Generaldirektor Mohamed ElBaradei
Wangari Muta Maathai, kenianische Umweltschützerin
Shirin Ebadi, iranische Menschenrechtlerin
Jimmy Carter, früherer US-Präsident
Vielmehr hat der Staatenbund aus mittlerweile 27 europäischen Staaten viel bewegt. Aus einem Kontinent, der im 20. Jahrhundert Schauplatz von zwei Weltkriegen war, ist eine der lebenswertesten Regionen der Welt geworden. Über eine halbe Milliarden Menschen lebt in Frieden und Freiheit – und in Wohlstand, auch dank der EU.
Zollschranken sind gefallen, seit Anfang der 1990er-Jahre können sich Menschen und Waren in weiten Teilen Europas frei bewegen. Insbesondere die deutsche Exportwirtschaft profitiert von dem 1993 verwirklichten Europäischen Binnenmarkt. Knapp 60 Prozent aller Waren verkaufen die Deutschen innerhalb des Staatenbundes. Ob Deutschland den Euro braucht, ist umstritten. Dass Deutschland die Europäische Union braucht, kann niemand ernsthaft bezweifeln.
Von einer Währungsunion träumten die Architekten eines vereinten Europas nicht. Die Vorgänger der EU, die 1951 und 1957 gegründeten Europäischen Gemeinschaften, wollten die Wirtschaftsbeziehungen vertiefen. Erst später näherte man sich auch politisch an. In den 1980er Jahren wurden Griechenland (1981), Portugal und Spanien (1986) in die Gemeinschaft neu aufgenommen. Die Länder hatten schon Jahre zuvor eine Annäherung gesucht – waren jedoch aufgrund ihrer autoritären Strukturen nicht aufgenommen waren. Erst nach dem Reformen erfolgten, die Staaten demokratisch gelenkt wurden und bereit für den Beitritt waren, erfolgte das positive Signal aus Brüssel.
Hätten die Konstrukteure der Eurozone ähnlich agiert, der Währungsgemeinschaft wäre vieles erspart geblieben.
In der EU ist längst nicht alles gut
Keine Frage: Innerhalb der Europäischen Union ist längst nicht alles gut. Brüssel sichert sich immer mehr Kompetenzen – und fordert von seinen Mitgliedsstaaten für die Jahre 2014 bis 2020 mehr als eine Billion Euro an Haushaltsmitteln. Muss die EU ihre Landwirte subventionieren, Autobahn-Erneuerungen fördern und in Forschung investieren? Was sind Aufgaben des Nationalstaats, was sind sinnvolle Ergänzungen durch Brüssel?
Gut 380 Milliarden Euro will die Europäische Union zwischen 2014 und 2020 für die "Gemeinsame Agrarpolitik" ausgeben. Mit dem Geld soll die Landwirtschaft produktiver und grüner werden. Bauern werden dazu angehalten, „Flächennutzung im Umweltinteresse" zu betreiben, Pufferstreifen und Aufforstungsflächen anzulegen. Zweite Säule der Agrarpolitik ist es, die Lebensqualität in ländlichen Gebieten zu fördern und wirtschaftliche Unterschiede im Vergleich mit Städten und Metropolen auszugleichen.
Geschichte des Europaparlaments
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde auch eine „Gemeinsame Versammlung“ geschaffen. Am Anfang hatte sie 78 Parlamentarier, die ausschließlich beratende Funktion hatten - und von den nationalen Parlamenten entsandt wurden.
Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurden die beratenden Aufgaben der Versammlung ausgebaut. Seit 1962 trägt sie inoffiziell den Namen „Europäisches Parlament“ – seit 1986 auch offiziell.
Das Europaparlament bekommt ein Mitsprachrecht an den Haushaltsverfahren der Gemeinschaft.
Erstmals wird das Europaparlament direkt gewählt.
Durch die Einheitliche Europäische Akte erhält das Europaparlament zusätzliche Kompetenzen – zum Beispiel in der Gesetzgebung zur Einrichtung des Binnenmarktes.
Das Europaparlament erhält weitere Mitentscheidungsrechte. Außerdem muss es der Ernennung einer neuen Kommission zustimmen.
Seit dem Vertrag von Amsterdam bedürfen alle wichtigen Personalentscheidungen auf EU-Ebene der Zustimmung des Parlaments.
Auch der Vertrag von Lissabon stärkt die Rechte des Parlaments. Bei wichtigen Gesetzen bekommt das Parlament ein Mitentscheidungsrecht. Auch bei internationalen Handelsabkommen muss das Parlament jetzt zustimmen. Als weiteres demokratisches Element wird die "Europäische Bürgerinitiative" als direkte Möglichkeit für Bürgerbeteiligung eingeführt.
Wettbewerbs- und Preisverzerrungen
Diese Maßnahmen verschärfen allerdings auch direkt die bereits bestehenden Wettbewerbs- und Preisverzerrungen auf den internationalen Agrarmärkten. Leidtragende sind vor allem die Bauern in den Ländern, die nicht auf staatliche Hilfe hoffen können.
Hinzu kommt: Brüssel mischt sich in Bereiche ein, die die Nationalstaaten auch gut selbst lösen können. Agrarpolitik ist Aufgabe der Nationalstaaten. Das Subsidiaritätsprinzip – wonach eher auf nationaler und regionaler Ebene Politik gemacht werden sollte – hebelt die EU aus. Die Staatengemeinschaft sollte sich um den Ausbau der Infrastruktur in Europa kümmern, die Forschung und Wissenschaft fördern – aber den Menschen (und Nationalregierungen) mehr Freiraum geben.
Doch mit Blick auf die Errungenschaften der Gemeinschaft ist die Kritik kleinteilig und nachrangig. Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis verdient.