„Natürlich gehe ich hin“, sagt Katia Santonadi auf die Frage, ob auch sie auf dem Syntagmaplatz in Athen demonstriert. Die junge Griechin würde als Journalistin arbeiten, würde die Zeitung, bei der sie (noch) angestellt ist, noch gedruckt werden. Sie und ihre Freunde sind immer wieder dabei, wenn die Hellenen im Zentrum der griechischen Hauptstadt lautstark gegen die Reformen protestieren. „Ich bin sauer auf die Politik und ich will, dass meine Eltern in Frieden ihre Rente verbringen können.“ In Frieden bedeutet für sie so viel wie ohne Geldsorgen. Nicht in Reichtum, sondern mit genug Geld, um Strom, Wasser, Grundsteuer und Essen zu bezahlen.
Bei vielen Menschen ist das schon ein Problem, auch Freunde von Katia Santonadi kämpfen mit solchen Problemen. Deshalb geht sie auf die Straße – so wie viele andere Griechen auch. Mit einem zweitägigen Generalstreik und landesweiten Protesten haben Zehntausende Griechen ihre Wut über ein weiteres geplantes Sparpaket der Regierung zum Ausdruck gebracht. Mit dem 48-stündigen Ausstand, dem dritten innerhalb von sechs Wochen, wollen die Gewerkschaften die Abgeordneten zu einer Abkehr von dem Sparpaket zwingen. Das Parlament stimmt am Mittwochabend darüber ab. Mehr als 35.000 Demonstranten beteiligten sich in Athen an zwei Protestkundgebungen von Gewerkschaften.
Wer steht dieser Tage in Athen wieder auf dem Syntagmaplatz und demonstriert? Mit Fahnen oder mit Kaffee „Frappe“ in der Hand, mit Sonnenbrille, oder mit Maske vor dem Gesicht – es ist ein gemischtes Bild, das sich bei griechischen Demonstrationen zeigt. Es sind die Gewerkschafter, die mit Fahnen marschierend über die Straßen ziehen. Es sind weit weniger Protestler, die es aber meistens in die Medien schaffen: mit Nazifahnen, Rauchbomben und anderen bösartigen Protestaktionen. Es sind aber auch die Griechen, die einfach unzufrieden und unglücklich sind – und sich solidarisch zeigen wollen – wie Katia Santonadi.
Ein Querschnitt der Gesellschaft
„Es ist ein Querschnitt durch die griechische Gesellschaft“, sagt Dr. George Tzogopoulos, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter der Griechischen Stiftung für Europa- und Außenpolitik. Die Demonstranten stehen für die griechische Mittelklasse - diejenigen, die am meisten leiden. Sie protestieren, weil ihre Familien und Freunde betroffen sind und sie sich nicht mit dem abfinden wollen, was in ihrem Land passiert. Und sie stehen dort, weil sie nicht mehr an die Maßnahmen glauben: „Ihre Botschaft ist ganz klar: Wir können nicht mehr!“, sagt Tzogopoulos.
Zukunftsszenarien für Griechenland
Die Eurogruppe billigt einen Schuldenschnitt, die Banken erlassen dem Land daraufhin 100 Milliarden Euro. Somit gibt es auch grünes Licht für weitere Hilfen der Eurozone in Höhe von insgesamt 130 Milliarden Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) füllt eine Finanzlücke, damit Griechenlands Schuldenstand bis 2020 wie angepeilt sinken kann. Im Gegenzug unterwirft sich Griechenland einer strikten Überwachung der EU und gibt Kompetenzen in der Haushaltspolitik ab. Das Land leidet noch jahrelang unter Einsparungen, innenpolitischer Unruhe und Rückschlägen. Der Weg zu einer Erholung ist lang und mühsam.
Die Eurozone will zunächst keine weitere Hilfe zusagen. Problem ist der für 2020 trotz Hilfspaket und Gläubigerverzicht erwartete Schuldenstand von 129 Prozent der Wirtschaftskraft, anstatt der angestrebten 120 Prozent. Der Rettungsplan muss also überdacht werden. Zudem wählen die Griechen im April. Die Euro-Länder wollen das Votum abwarten und mit den dann regierenden Parteien Vereinbarungen über Einsparungen und Reformen treffen, bevor sie weiteres Geld überweisen. Mit restlichen Mitteln aus dem ersten Hilfsprogramm wird ein im März drohender Bankrott vorerst verhindert.
Nach zwei Jahren Schuldenkrise nimmt die Eurozone einen Kurswechsel vor: Griechenland soll kontrolliert in die Pleite geführt werden, jedoch in der Eurozone bleiben. Nun kommen Milliardenkosten nicht nur auf die privaten Gläubiger, sondern auch auf die EZB zu: Athen ändert per Gesetzesänderung die Haftungsklauseln für seine Staatsanleihen - und erzwingt einen Verzicht. Die EU arbeitet an einem finanziellen und wirtschaftlichen Neustart des Landes, der ebenfalls viel Geld kostet.
Der Rettungsplan scheitert, die Griechen haben zudem Vorschriften und Kontrolle der Euro-Länder satt. Das Land erklärt seinen Bankrott und die Rückkehr zur Drachme. Wirtschaft und Finanzbranche werden über das Land hinaus erschüttert, Firmen und Banken gehen pleite. Die Kaufkraft der Griechen nimmt massiv ab, soziale Unruhen sind die Folge. Mit der Drachme sind griechische Produkte auf dem Weltmarkt zwar billiger, ein positiver Effekt auf die marode Wirtschaft zeigt sich jedoch nur sehr langsam. Die Europäische Union bemüht sich mit Konjunkturprogrammen, den weiteren Absturz des Landes zu mildern.
Der jüngste Vorschlag der Regierung sieht Ausgabenkürzungen, Einsparungen bei den Renten und Steuererhöhungen im Umfang von 13,5 Milliarden Euro in den kommenden zwei Jahren vor. Ministerpräsident Antonis Samaras erklärte, ohne die Zustimmung zu weiteren Steuererhöhungen und der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre werde Athen am 16. November das Geld ausgehen.
Katia Santonadi kann sich derweil das Leben in Athen nur noch leisten, weil sie bei ihrem Freund lebt. Der hat das Haus seiner Großeltern geerbt – deshalb kann er die Miete sparen. Katia Santonadi lebte bisher in einer eigenen Wohnung, aber die war ohne Gehalt nicht zu halten. Wieder zu den Eltern ziehen, wäre die Alternative gewesen, die vielen jungen Griechen als einzige Möglichkeit bleibt.
Jetzt lebt sie von Tag zu Tag. Anfang 2013 läuft ihr Vertrag aus. Wird ihre Zeitung bis dahin nicht wieder gedruckt, ist auch sie offiziell arbeitslos, wie derzeit jeder Vierte in Griechenland. Bei den jungen Menschen unter 24 ist es sogar jeder Zweite. An ihrem Alltag würde das nicht viel ändern. Arbeiten kann sie im Moment sowieso nicht – zumindest nicht für Geld.
Es sind kalte Fakten die zwischen einer Flut aus Negativschlagzeilen aus Spanien und anderen EU-Ländern in Deutschland ankommen. Doch während man hierzulande den Krisen-Themen kaum noch folgen kann, desto härter werden die Griechen getroffen: persönlich, zuhause, auf der Arbeit – sofern sie noch einen Job haben – und im Freundeskreis. Immer mehr Menschen sind arbeitslos, und immer mehr Menschen leben unter der Armutsgrenze. Und wenn sie auch immer noch gering ist: Die Zahl der Selbstmorde ist gestiegen und steigt weiter.
Wer regiert eigentlich in Griechenland?
Die Krise ist da – und in Griechenland für jedermann sichtbar. Wer einige Schritte nördlich von Athens Altstadt macht kann sie sehen. In dem Viertel, in dem die Athener sonst einkaufen gingen, stehen viele Geschäfte leer, die Rollläden sind mit Graffiti besprüht. So mancher Laden wirkt geradezu einsam zwischen den bemalten Wänden und verbarrikadierten Türen. Rund 68.000 Unternehmen und Geschäfte von Privatpersonen haben in den vergangenen 20 Monaten geschlossen, so die griechische Handelskammer. Das sind häufig Familienbetriebe. Schließt das Geschäft, fehlt der ganzen Familie die Lebensgrundlage. Angestellt sind nur wenige Griechen, die meisten arbeiten für sich selbst oder für den Staat. Und der ist im Moment auch kein sicherer Arbeitgeber.
„Die allgemeine Meinung in Griechenland ist, dass die Politiker da Land nicht retten können. Sie waren schließlich auch diejenigen, die Griechenland an den Rand des Kollapses gebracht haben“, sagt George Tzogopoulos. Der Hass gegen die Troika,die Maßnahmen und inzwischen auch gegen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel entspringt weniger den Ideen der griechischen Bevölkerung, so Tzogopoulos. „Die öffentliche Meinung ist durch schlechte Informationspolitik geprägt. Die Troika ist dämonisiert worden, weil sie die Sparmaßnahmen gefordert hat. Das geschah ebenso durch die griechische Politik wie die Medien.“
Athens Agenda
Um fast 1,1 Milliarden Euro sollen die Arzneimittelausgaben staatlicher Kliniken beschnitten werden, weitere 50 Millionen bei den Überstunden der Ärzte eingespart werden.
Im Militäretat sind Kürzungen von 600 Millionen geplant.
Sie werden um bis zu 15 Prozent gekürzt.
Bis 2015 sollen 150.000 Stellen im Staatsdienst gestrichen werden. Überflüssige Behörden werden aufgelöst.
Der Mindestlohn von 751 Euro wird um 22 Prozent, für bis zu 25-Jährige sogar um 32 Prozent gesenkt. 17 sogenannte geschlossene Berufe vom Fremdenführer bis zum Optiker sollen dereguliert werden.
Von einem vereinfachten Steuersystem verspricht man sich Erfolge im Kampf gegen Steuerhinterziehung.
Dadurch ist es immer mehr eine Frage, , die die Griechen auf die Straße treibt: Wer regiert eigentlich das Land? Sind es die griechischen Politiker oder ist es die Troika?
Für Tzogopoulos ist klar: Das griechische Interesse, um die Krise zu bekämpfen, hat sich auf die falschen Aspekte konzentriert: „Wir haben unsere Aufmerksamkeit auf Lohn- und Rentenkürzungen und Steuererhöhungen gerichtet, statt Reformen, Privatisierungen und ein neues Steuersystem voranzubringen. Das wäre besser gewesen.“
Bisher kein Licht am Ende des Tunnels
Was für die Griechen am schwersten wiegt, und was andere Europäer kaum nachfühlen können, ist die große Unsicherheit für jeden einzelnen. Es geht bei den Griechen nicht nur um den Staat, der vielleicht bankrottgeht, sondern um sie selbst: Wie bezahle ich meine Miete, wenn sich mein Lohn halbiert? Wovon zahle ich plötzlich eine Grundsteuer für mein Haus, wenn ich gar keinen Lohn mehr habe? Und wie komme ich an meine Medikamente, wenn ich sie mir nicht leisten kann?
Weiterhin schlechte Meldungen kommen derweil von der EU: Die Lage in Griechenland hat sich laut der Herbstprognose der EU-Kommission trotz neuem Rettungspaket dramatisch verschlechtert. Die Wirtschaft bricht demnach in diesem Jahr um sechs Prozent ein, statt um 4,7 Prozent wie noch im Frühjahr berechnet. Für kommendes Jahr wird noch mit einem Minus von 4,2 Prozent gerechnet. Während die Wirtschaft abschmiert, wird der Schuldenstand immer höher: Er wächst in diesem Jahr auf 176,7 Prozent der Wirtschaftskraft, heißt es in der Prognose.
So viel zahlt Deutschland für Europa
Beim Rettungsfonds EFSM stehen 60 Milliarden Euro zu Buche. Der deutsche Anteil beträgt dabei 12 Milliarden Euro.
Griechenland erhielt durch das erste Rettungspaket 83 Milliarden Euro, 17 Milliarden davon kamen aus Deutschland.
Nach Schätzung der Citigroup müsste der von der EU-Kommission geforderte Einlagensicherungsfonds ein Volumen von 197 Milliarden Euro haben. Der deutsche Anteil läge dann bei 55 Milliarden Euro.
Die Europäische Zentralbank hat Staatsanleihen für 212 Milliarden Euro eingekauft. Der Bund ist daran mit 57 Milliarden Euro, also mehr als einem Viertel, beteiligt.
Der Internationale Währungsfonds zahlte 250 Milliarden Euro für die Rettungspakete. Deutschland gab dafür 15 Milliarden.
Der geplante dauerhafte Rettungsschirm, den noch nicht alle Länder ratifiziert haben, soll ein Volumen von 700 Milliarden Euro haben. Deutschland wäre daran mit 190 Milliarden Euro beteiligt.
Der Rettungsfonds bürgt mit 780 Milliarden, Deutschland allein mit 253 Milliarden Euro. Der deutsche Anteil an den bisher zugesagten EFSF-Mitteln liegt bei 95 Milliarden Euro.
Die Target-Verbindlichkeiten liegen innerhalb des EZB-Verrechnungssystem bei 818 Milliarden Euro. Der deutsche Anteil daran beträgt 349 Milliarden Euro.
Die desaströse Stimmung im Land ist bei solchen Aussichten nicht überraschend: Die Griechen blicken sehr pessimistisch in die Zukunft, sagt Tzogopoulos. „Sie glauben nicht mehr daran, dass die Sparauflagen Griechenland retten können. Sie sagen, okay, wir haben unter den Maßnahmen viel gelitten, und sie haben nicht geholfen. Bis hier hin in Ordnung. Aber jetzt sollen wir noch mehr leiden… aber warum? Es scheint ja nichts zu bringen!“
Aber sie gehen demonstrieren – damit es wieder besser wird, damit es für die anderen nicht schlimmer wird. Damit ihre Eltern eine Rente zum Leben haben oder ihre erwachsenen Kinder nicht allzu lange zuhause wohnen bleiben müssen. Sie wollen selbst etwas tun, damit endlich etwas passiert und es bleibt nur der Protest.
Mit Material von dpa