Knauß kontert

Lebenslang lernen? Gilt nicht für Spitzenpolitiker

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Von den Bürgern wird erwartet, dass sie lebenslang lernen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel geben dafür kein gutes Vorbild ab.

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Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission Quelle: dpa

Kaum eine Botschaft hören die Bürger der europäischen Industrienationen so oft und unwidersprochen wie die von der Bildung als „Schlüssel für die Teilhabe an der Gesellschaft“. Die Bundeskanzlerin verkündet dies ebenso wie alle möglichen anderen Polit-Größen. Wer in der Arbeitswelt der Gegenwart und erst recht der Zukunft bestehen wolle, der müsse „lebenslang lernen“. Mit diesem allgegenwärtigen Ceterum Censeo von Politikern, so genannten Bildungsökonomen und sonstigen Experten werden Eltern schon für ihre Unterdreijährigen kirre gemacht, Schüler werden auf ihre Funktion als künftige Erwerbstätige hin dressiert und Erwerbstätige zu immer neuen Höchstleistungen der Effizienzsteigerung getrieben.

Das ist Jean-Claude Juncker

Wenn man die überstrapazierten Begriffe der Bildung und des Lernens ernst nimmt, dann kann es dabei nicht nur um den Erwerb von Wissen oder so genannten Kompetenzen gehen. Das Ziel von Bildung, da sind sich die Bildungstheoretiker ziemlich einig, sollte nicht nur ein möglichst einträglicher Job, sondern der Gewinn eines auf Wissen, Nachdenken und eigenen Erfahrungen beruhenden Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zum Rest der Welt sein. Die großen Bildungsromane der Weltliteratur – von Goethes „Wilhelm Meister“ bis Hesses „Narziß und Goldmund“ - offenbaren das ebenso wie der Volksmund: Aus Erfahrung und erst recht aus Fehlern wird man klug.

Könnte man einen Bildungsroman, also die Geschichte des erfahrungsgesättigten Klugwerdens am Beispiel der beiden vielleicht wichtigsten und jedenfalls dienstältesten Führungspolitiker der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker und Angela Merkel, schreiben? Wohl kaum.

Sicherlich kann Juncker auf einen unvergleichlichen Erfahrungsschatz an Europa-Politik zurückgreifen. Den erwähnte er auch nicht ganz uneitel in seiner „Rede zur Lage der Union“ am Mittwoch. Das von ihm vorgestellte „persönliche Szenario“ beruhe, so Juncker, „auf jahrzehntelangen persönlichen Erfahrungen“: „Ich habe gute Zeiten, aber auch schlechte erlebt. Ich habe an vielen Seiten des Verhandlungstisches gesessen – als Minister, als Premierminister, als Präsident der Euro-Gruppe und nun als Kommissionspräsident. Ich war in Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon dabei, als sich unsere Union weiterentwickelt und erweitert hat. Ich habe stets für Europa gekämpft. Manchmal mit Europa und an Europa gelitten und verzweifelt. Ich bin mit der Europäischen Union durch dick und dünn gegangen – und nie habe ich meine Liebe zu Europa verloren.“

Doch ganz offensichtlich hat er in all diesen Jahren einige Erfahrungen entweder ignoriert oder ist aus ihnen zumindest nicht klüger geworden. Wie ist sonst zu erklären, dass er nur wenige Sätze später die Ausweitung der Euro-Zone auf alle Mitgliedsstaaten fordert? Und dies ausgerechnet mit der Begründung einleitet: „Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, ...“. Nach 18 Jahren voller Erfahrung mit der allzu offensichtlichen Unangemessenheit der Gemeinschaftswährung für Griechenland und andere Mitgliedsstaaten, die in einer immer noch unbewältigten Dauerkrise mündeten, und eine Welle des öffentlich zelebrierten Hasses auf deutsche und andere europäische Politiker hervorrief, hält Juncker eisern an dem längst widerlegten Irrglauben an die einigende Kraft des Euro fest.

Die letzten EU-Staaten ohne Euro
Schweden hat sich vertraglich verpflichtet, den Euro einzuführen. Quelle: AP
Tschechien ist bereit für den Euro – rein wirtschaftlich Quelle: Fotolia
Auch Dänemark hat das Recht, sich gegen die Euro-Einführung zu sperren. Quelle: dpa Picture-Alliance
Die Briten haben das vertraglich zugesicherte Recht, das Pfund zu behalten, auch wenn sie für den Euro qualifiziert wären. Quelle: dpa
Rumänien ist seit 2007 EU-Mitglied und beabsichtigt, den Euro einzuführen Quelle: dpa
Auch für Kroatien ist der Abschied von der Landeswährung Kuna kein Thema Quelle: dpa
In Bulgarien ist der Euro derzeit kein Thema Quelle: dpa

Euro gescheitert? Also mehr Euro!

Und nicht nur das. Auch das spätestens in der so genannten Flüchtlingskrise 2015/16 offensichtlich gewordene Scheitern des Schengen-Systems der offenen EU-Binnengrenzen weigert sich Juncker ganz offensichtlich zur Kenntnis zu nehmen. O-Ton Juncker: „Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.“

Die fünf großen Baustellen der EU

Wieviel Lernunwille ist notwendig, um nach den Erfahrungen der Eurokrise und angesichts des nicht funktionierenden Grenz- und Migrationsregimes der EU, der Entscheidung der Briten für den Brexit und dem Anwachsen EU-skeptischer bis –feindlicher politischer Bewegungen in fast allen Mitgliedsstaaten eine solche Rede zu halten? Eine Rede, die angeblich „die Lage der Union“ zum Inhalt hat, aber nicht die geringste Einsicht in ganz offensichtliche Holzwege der europäischen Integrationspolitik zeigt. Stattdessen spricht er von „Wind in unseren Segeln“.

Junckers Rezept für europäische Politik erinnert an einen unbelehrbaren Trotzkopf: Schengen versagt, also mehr Schengen. Der Euro ist gescheitert, also mehr Euro. Die EU-Staaten driften auseinander, also mehr Integration.

Doch Juncker ist mit dieser Strategie der Verweigerung gegen das Lernen aus Erfahrung in Europa nicht allein. Die Bundeskanzlerin macht es schließlich ähnlich.

Noch vor weniger als einem Jahr, beim CDU-Bundesparteitag im Dezember in Essen hatte sie der verunsicherten Parteibasis in einer bemerkenswerten Rede ein vernehmbares Signal der Einsicht eigener Fehler gegeben: "Eine Situation wie im Sommer 2015 darf sich nicht wiederholen." Dieser Satz schaffte es als zentrale Botschaft auch ins Wahlprogramm der CDU.

Zuvor, am 19. September 2016, nach der katastrophalen Wahl in Berlin hatte sie sogar noch selbstkritischer geklungen: "Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen", sagte sie. "Die Situation hat uns im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet getroffen", und am erstaunlichsten: "Wir hatten eine Zeit lang nicht ausreichend die Kontrolle."

Doch davon will die Kanzlerin nun offenbar nichts mehr wissen. Sie würde alles wieder so machen, wie sie es 2015 getan hat, verkündete sie in jüngster Zeit mehrfach.

Aus Fehlern klug werden? Lebenslang lernen? Was für normale Menschen ein Bildungsprozess ist und für Erwerbstätige die Voraussetzung des Bestehens am Arbeitsmarkt, scheint für den Erfolg als Spitzenpolitiker in Deutschland und Europa nicht relevant zu sein. An der Spitze der Bundesregierung und der Europäischen Kommission kann man ganz offensichtlich auch dann bleiben, wenn man offen zeigt, dass man nichts lernt und aus Erfahrung nicht klüger wird.

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