WirtschaftsWoche: "Deutschland steht am Abgrund" und "Merkel muss weg" hat der New York Times-Kolumnist Russ Douthat gerade geschrieben. Spricht Douthat für eine Mehrheit der Amerikaner?
Jackson Janes: Nein, das ist eine Einzelmeinung. Natürlich sehen viele bei uns, dass Kanzlerin Angela Merkel die Überforderung, die die Flüchtlingskrise mit sich bringt, unterschätzt hat. Aber ich finde es empörend, wenn Douthat ihren Rücktritt fordert. Das zeigt die Arroganz eines Mannes, der überhaupt nicht weiß, was derzeit in Deutschland und Europa geschieht.
In Deutschland hat viele überrascht, dass die eher liberale New York Times einen solchen Kommentar veröffentlichte.
Douthat schreibt jede Woche eine Kolumne für das Blatt, er steht politisch eher rechts. Er ist kein festes Redaktionsmitglied.
Bislang war der Ton viel freundlicher. Das Time-Magazine hatte Merkel etwa zur Person des Jahres 2015 gekürt und sie die „Kanzlerin der freien Welt“ genannt. Was hat sich geändert?
Ging es zuletzt um die Frage, wer Europa in der aktuellen Krise zusammenhalten kann, blickte niemand hier auf Paris, London oder Brüssel. Alle schauten auf Berlin. Deutschland hat in den vergangen Jahren ganz klar die Führungsrolle in Europa übernommen. Und auch jetzt gibt es nach wie vor niemanden, der Merkel diese Rolle streitig machen kann – egal ob es um den Euro oder Flüchtlinge geht.
Zur Person
Jackson Janes ist Direktor des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) an der JohnsHopkins Universität in Washington D.C.
Und trotzdem wird die Kritik am deutschen Flüchtlingskurs härter?
Viele Amerikaner merken mittlerweile, dass diese Krise noch sehr lange dauern wird. Und sie machen sich Sorgen, dass Europa künftig als handlungsfähiger Partner ausfallen könnte, weil es mit der aktuellen Lage schlicht überfordert ist. Dabei brauchen die USA Europa. Denken Sie nur an den Ukraine-Russland-Konflikt. Wird der Westen im Juli die Sanktionen gegen Russland verlängern? Ist sich Europa dann einig? Oder bricht es im Zuge der Flüchtlingskrise auseinander?
Dennoch: Warum ist das amerikanische Interesse an den Übergriffen in Köln so enorm?
Die Vorkommnisse wecken hier Erinnerungen an San Bernardino in Kalifornien, wo Ende vorigen Jahres zwei Islamisten 14 Menschen erschossen. Viele Amerikaner vergleichen San Bernardino mit dem Anschlag in Paris und der Silvesternacht in Köln. Einige sagen, es war naiv zu glauben, Migranten seien nicht gefährlich. Die Attentäter von San Bernardino hatten ja seit Jahren in Amerika gelebt. Weil das Thema so emotional besetzt ist, berichten viele Medien nun sehr ausführlich.
Hintergründe zu den Übergriffen in Köln
Bisher erstaunlich wenig. Zeugen und Opfer berichten - laut Polizei übereinstimmend - von Männern, die „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum“ stammen. So hat es der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers auf der Pressekonferenz am Montag formuliert. Demnach soll eine Gruppe von 1000 Männern auf dem Domplatz gewesen sein, die meisten von ihnen zwischen 15 und 35. In kleineren Gruppen sollen sie Frauen umzingelt, sexuell belästigt und ausgeraubt haben, in einem Fall auch vergewaltigt. 90 Anzeigen gibt es bis Dienstagmittag. „Wir haben noch keine konkreten Täterhinweise“, sagt Heidemarie Wiehler von der Direktion Kriminalität.
Von den sexuellen Übergriffen und Diebstählen erfuhr die Polizei Wurm zufolge größtenteils im Laufe der Silvesternacht durch die wachsende Zahl von Anzeigen. Die Taten selbst hätten die anwesenden Polizeibeamten nicht beobachtet, weil diese sich in einer riesigen und unübersichtlichen Menschenmenge abgespielt hätten. Festnahmen habe es keine gegeben, weil Zeugen und Opfer die Täter im Getümmel nicht wiedererkannt hätten.
Die Bundespolizei, die für den Bahnhof zuständig ist, war nach Angaben von Wolfgang Wurm, Präsident der Bundespolizeidirektion Sankt Augustin, mit 70 Kräften vor Ort. Die Kölner Polizei hatte im Bereich Hauptbahnhof und Dom rund 140 Beamte im Einsatz. Einige davon wurden aus anderen Teilen der Innenstadt zum Bahnhof geschickt, als dort die Lage eskalierte. „Für den Einsatz, den wir voraussehen konnten, waren wir sehr gut aufgestellt“, sagt Wurm. Wie sich der Einsatz dann tatsächlich entwickelt habe, sei eine „völlig neue Erfahrung“ und „für uns nicht absehbar“ gewesen: „Dafür hätten wir sicherlich ein wenig mehr Kräfte benötigt.“
Viele Menschen melden sich zu Wort, die der Polizei vorwerfen, mit der Situation überfordert gewesen zu sein und die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Der nordrhein-westfälische CDU-Chef Armin Laschet kritisiert auf Twitter: „Erneut unglaubliche Fehleinschätzung der Kölner Polizei.“ Dabei bezieht er sich auf die Einsatzbilanz am Neujahrsmorgen, in der von „ausgelassener Stimmung“, „weitgehend friedlichen Feiern“ und einer „entspannten Einsatzlage“ die Rede war.
Polizeipräsident Albers räumte bei der Pressekonferenz am Dienstag Fehler ein: „Diese erste Auskunft war falsch.“ Sven Lehmann, Vorsitzender der NRW-Grünen, fordert: „Aufgeklärt werden muss auch, warum die Polizei in Köln erneut von einer aggressiv auftretenden Menschenmenge derart überrascht wurde.“ Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer fragt in der Zeitschrift „Emma“: „Wie ist es erklärbar, dass Hunderte von Frauen unter den Augen eines so massiven Polizeiaufgebotes sexuell belästigt werden?“
Augenzeugen und Opfer berichten in mehreren Medien von ihren Erlebnissen. „Ich hatte das Gefühl, die Polizei und die Sicherheitsleute der Bahn waren nicht nur überfordert, sondern hatten auch Angst, die Lage könnte eskalieren.“ (zitiert der „Kölner Stadt-Anzeiger“ eine Frau aus Overath, die mit ihrer Freundin in der Umgebung des Doms gleich mehrfach von vier bis sechs jungen Männern umkreist worden sein soll).
„Die Stimmung war aggressiv. Plötzlich wurde ich von hinten - ohne dass mein Freund es sah - von mehreren Männern angegrapscht. Ich kann sagen, dass es mehrere waren, da zeitgleich Hände an meinen Brüsten und an meinem Po waren.“(Berichtet eine 40-Jährige dem WDR, die in der Silvesternacht mit ihrem Freund auf dem Weg nach Troisdorf gewesen sein soll)
Vor allem im Hinblick auf den bevorstehenden Karneval kündigt die Polizei an, die Einsatzkräfte bei Großveranstaltungen weiter aufzustocken, auch mit Zivilbeamten. Polizeipräsident Albers zufolge soll auch geprüft werden, ob bestimmte Bereiche stärker mit Videokameras überwacht werden. Über weitere Maßnahmen wollen Polizei und Stadt gemeinsam nachdenken.
Und zu welchem Schluss kommt die amerikanische Öffentlichkeit?
Ein Teil glaubt, dass man endlich hart durchgreifen muss – gegen Flüchtlinge und Migranten.
Der umstrittene US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump appelliert gnadenlos an diese Gruppe. Er tut, als versinke Europa im Bürgerkrieg.
Ja, Trump tut so, als wüsste er genau, was in Deutschland und Europa geschieht. Er weiß aber leider überhaupt nicht, wovon er redet.