Gutachten zur Krisenpolitik „EZB verstößt gegen EU-Grundrechte“

Schon das Verfassungsgericht hatte der Europäischen Zentralbank wegen ihrer Euro-Krisenpolitik eine „Kompetenzüberschreitung“ attestiert. Ein Gutachten der Rosa-Luxemburg-Stiftung sieht nun einen weiteren Rechtsbruch.

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Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB): Verstößt die Zentralbank gegen EU-Recht? Quelle: dpa

Berlin Die Europäische Zentralbank (EZB)  verstößt mit ihrem sogenannten OMT-Programm (Outright Monetary Transactions), mit dem sie Staatsanleihen von Krisenstaaten ankaufen kann, möglicherweise gegen europäisches Recht und gegen die europäische Grundrechtecharta. Zu diesem Ergebnis kommt ein Handelsblatt Online vorliegendes Gutachten des Bielefelder Rechtswissenschaftlers Andreas Fisahn im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linkspartei nahesteht.

Demnach darf die EZB zwar nach dem Lissabon-Vertrag von 2009 die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union (EU) und der Mitgliedstaaten unterstützen. Der Ankauf von Staatsanleihen sei jedoch im OMT-Programm an eine „strikte Konditionalität“ gebunden. Das heißt: Staatsanleihen dürfen nur aufgekauft werden, wenn die betroffene Regierung der Troika der internationalen Geldgeber bestimmte Kürzungsprogramme in Form eines „Memorandums of Understanding“ (MoU) zusichert. Die Troika besteht aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und EZB.

Für Fisahn steht fest: „Damit unterstützt die EZB nicht die Wirtschaftspolitik der Union und der Mitgliedstaaten, sondern die Wirtschaftspolitik des (dauerhaften Euro-Rettungsschirms) ESM, einer Institution außerhalb der EU-Verträge“, wie es in der Studie heißt. „Dafür hat sie wiederum keinen Auftrag, handelt also außerhalb ihrer durch den Lissabon-Vertrag eingeräumten Kompetenzen.“

Aus Fisahns Sicht hat die EZB mit der Bedingung, dass sie Staatsanleihen nur gegen ein MoU aufkauft, ein „Anreizprogramm“ aufgelegt, das zu einer „indirekten Steuerung und Lenkung der Wirtschaftspolitik“ in den betroffenen Mitgliedstaaten führt. Und hier sei der Haken: „Das gehört nicht zur Kompetenz der EZB“, so Fisahn. Vor allem seien mit den „Anpassungsprogrammen“ des MoU regelmäßig „Reformmaßnahmen“ in den hilfesuchenden Staaten verbunden, die sogar außerhalb des Kompetenzbereichs der EU liegen.

Die „Reformprogramme“, so der Jurist, beträfen nicht nur die Organisation des öffentlichen Dienstes oder der Infrastruktur und der Daseinsvorsorge, sondern enthielten auch Vorgaben im Bereich der Löhne, also der Tarifverträge, in Form von Lohnsenkungen, im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, der Bildungssysteme und der Organisation der öffentlichen Administration. „Vorgaben in diesen Bereichen sind mit Blick auf die Kompetenzgrenzen der Union unzulässig, weil die Kompetenzen hier bei den Mitgliedstaaten verblieben sind.“

Die mit den „Anpassungsprogrammen“ verfolgten Ziele verstoßen demnach auch gegen die in der europäischen Grundrechtecharta „normierten Rechte auf Kollektivverhandlungen und auf angemessenen Gesundheitsschutz“. Die EZB sei, soweit sie als Organ der Union handle, an diese Grundrechte gebunden. Das Recht auf Kollektivverhandlungen garantiere die Möglichkeit zu Tarifauseinandersetzungen. „Diese werden aber zu einer Farce, wenn ein Verhandlungspartner sich vorher gebunden hat und faktisch gebunden wird“, heißt es in dem Gutachten. „Das geschieht aber durch die MoU, die (…) eine Senkung der Löhne in den hilfsbedürftigen Staaten verlangen.“


Karlsruhe zweifelt an EZB-Anleihenkaufprogramm

Als Beispiel nennt Fisahn in seiner Expertise Griechenland. Studien zur Entwicklung des Gesundheitssystems belegten, dass rechtswidrig in das Recht auf Gesundheitsschutz eingegriffen werde, weil die angeordneten Kürzungen an die „Substanz“ des Systems gingen. In Griechenland werde zudem gegen europäische europäische Minimalstandards verstoßen. „So verlieren viele Menschen durch die hohe Arbeitslosenquote auch ihre Krankenversicherung, also den Anspruch auf Gesundheitsversorgung“, heißt es in dem Gutachten.

Das wirke sich „extrem“ im Bereich der Kindersterblichkeit aus, die seit den Krisenjahren rapide gestiegen sei. „Kürzungsprogramme dürfen dies sicher nicht in Kauf nehmen, weil damit in den Wesensgehalt des Rechts auf Gesundheitsschutz eingegriffen wird.“ Die von der EZB und der Troika verordnete Austeritätspolitik habe damit inzwischen Ausmaße angenommen und Folgen hervorgerufen, „die nicht nur ökonomisch unvernünftig sind, sondern auch die Menschenrechte gröblich missachten“.

Zweifel an der EZB-Krisenpolitik hatte Anfang des Jahres auch das Bundesverfassungsgericht geäußert – das Verfahren über die Euro-Rettungspolitik der Zentralbank und das OMT-Programm jedoch an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zur Entscheidung weitergereicht.

Gleichwohl machten die Karlsruher Richter damals in einem Mehrheitsvotum von sechs zu zwei keinen Hehl daraus, wie sie den Fall einschätzen: „Gewichtige Gründe“ sprechen nach Auffassung des Zweiten Senats dafür, dass das Rettungsprogramm der EZB, dessen bloße Verkündung im September 2012 genügte, um die Märkte zu beruhigen, eine „ersichtliche Kompetenzüberschreitung“ darstellt. Denn, so führten die Karlsruher Richter in ihrem Beschluss aus, die EZB darf nur Währungspolitik betreiben, zur eigenständigen Wirtschaftspolitik sei sie nicht ermächtigt.

Das OMT-Programm ist ihrer Ansicht nach aber eine wirtschaftspolitische Maßnahme. Dafür spreche schon seine Zielsetzung, nämlich das Zinsniveau von Staatsanleihen in der Eurozone zu stabilisieren. Ebenfalls für die Einordnung in den Bereich der verbotenen Wirtschaftspolitik spricht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Umstand, dass das OMT-Programm nur in Krisenstaaten zum Einsatz kommen soll, also ein „funktionales Äquivalent zu einer Hilfsmaßnahme“ des ESM zu sein scheint.


EZB-Direktor Mersch: „EZB kann, darf und wird keine Staaten retten“

Die EZB hatte ihr umstrittenes Instrument von Anleihekäufen zuletzt vehement verteidigt. Das Mandat der Notenbank umfasse die Möglichkeit, unter entsprechenden Auflagen am Sekundärmarkt Staatsanleihen zu kaufen, sagte EZB-Direktor Yves Mersch am vergangenen Mittwoch in Berlin auf einer Konferenz der Zeitungsgruppe „Welt“ und der „Stiftung Familienunternehmen. „Diese Option ist explizit in (...) der EZB-Satzung niedergeschrieben.“

„Die EZB darf, kann und will das Handeln demokratisch legitimierter Regierungen nicht ersetzen“, sagte Mersch. „Im Gegenteil. OMTs sind so ausgestaltet, dass der Marktmechanismus geschützt bleibt und die Mitgliedstaaten gefragt sind, notwendige Reformen zu unternehmen.“

Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise im Spätsommer 2012 hatte die EZB beschlossen, notfalls unter Bedingungen unbegrenzt Staatsanleihen von überschuldeten Ländern zu kaufen. Die Ankündigung des OMT-Programms hatte zu einer deutlichen Entspannung an den Finanzmärkten geführt.

In Deutschland wurde der Schritt stark kritisiert, da die EZB nicht Staaten direkt finanzieren darf. Mersch sagte, „die EZB kann, darf und wird keine Staaten retten“. Ihr Handeln orientiere sich am geldpolitischen Mandat. Mit Blick auf das Verfahren sagte er, die EZB werde die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in aller Demut und Entspanntheit abwarten. Er sei sehr optimistisch, dass das Zusammenwirken von EZB und EuGH „zu einem guten Ergebnis“ führen werde, sagte Mersch: „Bis dahin sind wir in unserem Handeln nicht eingeschränkt.“ Keine Seite sollte der anderen unterstellen, die Kompetenzen zu überschreiten.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte, die EZB könne zur Sicherung der Preisstabilität die Instrumente nutzen, die ihr zur Verfügung stehen. Dazu gehöre auch der Ankauf von Staatsanleihen: „Das ist kein ungewöhnliches Instrument.“ Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio betonte, die EZB könne mit ihrem Mandat nicht Krisenstaaten stützen. Sie könne aber auch Staaten nicht disziplinieren.

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