Konjunkturprognosen Exakte Vorhersagen sind unbrauchbar

Wie immer um diese Jahreszeit verbreiten die Konjunkturforscher ihre Wachstumsprognosen. Mittlerweile werden sie - mit gutem Grund - nicht mehr sehr ernst genommen. Die Konjunkturforschung muss sich grundsätzlich in Frage stellen lassen.

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Glaskugel

Jahr für Jahr liegen die Konjunkturforscher mit ihren Prognosen weit daneben, dennoch liefern sie unverdrossen pünktlich neue Voraussagen des Wirtschaftswachstums. Die vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erwarten zum Beispiel im nächsten Jahr einen Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1,7 Prozent, wie der Verband heute mitteilt. Die führenden Forschungsinstitute hatten in der vergangenen Woche in ihrem Herbstgutachten ein Plus von 1,8 Prozent für 2014 vorausgesagt. Für das laufende Jahr erwartet der DIHK ein schwaches Wachstum von 0,3 Prozent. Die Bundesregierung legt an diesem Mittwoch ihre Prognose vor.

Doch, so fragen sich immer mehr Beobachter, was sollen diese Prophezeiungen überhaupt? Bekanntermaßen geben mittlerweile auch die Kanzlerin und der Finanzminister nicht mehr allzu viel auf Konjunkturprognosen. Sie treffen nämlich so gut wie nie ins Schwarze. Schon 2008 hat eine Untersuchung des DIW ergeben, dass die mit großem Aufwand erstellten Prognosen kaum näher an der späteren tatsächlichen Wirtschaftsleistung lagen als "naive" Schätzungen. In den vergangenen Jahren kamen die Vorhersagen meist nicht einmal ansatzweise den später tatsächlich festgestellten BIP-Ergebnissen nahe. Krassestes Beispiel: Den Konjunktureinbruch von 2009 hatte kein Institut vorhergesagt. Alle erwarteten ein geringes Wachstum, kein Konjunkturforscher prognostizierte ein Schrumpfen. Doch am Ende des Jahres lag das BIP rund 5,1 Prozent unter dem von 2008. Was soll aber der Nutzen von Konjunkturprognosen sein, wenn die Prognostiker offenbar nicht in der Lage sind, die großen Einbrüche der wirtschaftlichen Entwicklung im Voraus zu erkennen? Die Konjunkturforschung im besonderen, aber auch die Wirtschaftswissenschaft als Disziplin muss sich diese Frage nach ihrer Existenzberechtigung gefallen lassen.

Die Antwort darauf kann nicht sein: Wir machen einfach weiter wie bisher, irgendwann werden wir schon einen Treffer landen. Vielmehr sollte in den Instituten endlich die Erkenntnis reifen, dass scheinbar exakte Prognosen wie die 1,7 Prozent der DIHK auf dürftiger Grundlage stehen und daher niemandem nutzen. Zunächst sollten Prognostiker im Interesse ihrer eigenen Glaubwürdigkeit die Erwartungen dämpfen: Niemand kann die Zukunft vorhersagen.

Exakte Konjunkturprognosen behandeln Wirtschaft so, als funktioniere sie nach naturgesetzlichen Ursache-Wirkungs-Kausalitäten. Physiker können mit Daten aus Beobachtungen, also aus der Vergangenheit, künftige Entwicklungen der unbelebten Natur vorhersagen. Konjunkturprognostiker meinen das auf die Wirtschaft übertragen zu können. Daher gehen sie stets von "ceteris paribus" aus, dass also die Rahmenbedingungen gleich bleiben. Das große Unglück der Konjunkturprognostiker ist aber, dass die reale Welt der realen Menschen ihnen diesen Gefallen nicht tut. Unter ceteris paribus dürfte es nie einen Konjunkturumschwung geben. Und deswegen gelingt es der Konjunkturforschung auch nicht, diesen auch nur halbwegs verlässlich auf längere Sicht vorherzusagen.

Wirtschaft ist kein mit mathematischen Gleichungen exakt beschreibbares Naturphänomen, sondern ein Kulturphänomen, das vom sozialen Handeln von Menschen bestimmt ist. Den homo oeconomicus, der nach rein rationalen Erwägungen handelt, gibt es nicht. Menschliches Handeln ist viel zu komplex, um es mathematisch exakt darzustellen und allenfalls sehr vage zu erahnen. Konkret heißt das zum Beispiel: Nicht alle Familien wissen, wann sie ihr nächsten Auto kaufen wollen - und selbst wenn sie es zu wissen behaupten, entscheiden sie sich oft aus unvorhersehbaren Gründen um.

Außerdem: Die mathematischen Modelle, auf denen üblicherweise Konjunkturprognosen beruhen, sind so sehr vereinfacht, dass sie selbst das rationale Handeln von Menschen, das es natürlich neben dem irrationalen durchaus gibt, nicht umfassend abbilden können. Mit sehr viel mehr Aufwand könnte man vielleicht theoretisch die rationalen Ziele und Interaktionen der rund 40 Millionen Haushalte und 2 Millionen Unternehmen in Deutschland in Mathematik übersetzen. Da man aus einem solchen Komplexitätsmonster aber wohl keine exakte Zahl des künftigen Wirtschaftswachstums berechnen könnte, verwenden die Prognostiker extrem vereinfachte Modelle: Mit "repräsentativen" Haushalten und Unternehmen. Dazu kommen weitere Defizite der Modelle: Zum Beispiel werden Finanzmärkte völlig ausgeklammert, weil sie einem längst durch die reale Welt widerlegten Ökonomen-Vorurteil zufolge die Realwirtschaft nicht verzerren.

Wenn die Konjunkturforschung und die Volkswirtschaftslehre insgesamt nicht den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit als seriöse Wissenschaft verlieren möchte, sollte sie ihren nicht einzulösenden Anspruch auf Exaktheit und ihre quasi-magisches Versprechen, in die Zukunft blicken zu können, aufgeben. Die freiwerdende Forscher-Energie könnten sie statt der Zukunft lieber der Vergangenheit und Gegenwart des Wirtschaftslebens widmen. Kurz gesagt: Zurück ins Glied der Sozialwissenschaften!

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