Konsumverhalten Wenn Auswahl überfordert - oder auch nicht

Im Supermarkt hat der Konsument die Qual der Wahl. Doch ist mehr Produktvielfalt automatisch besser? Lange schien diese Frage klar beantwortet. Zu viel Auswahl ist schlecht, weil sie die Verbraucher irritiert, lautete in den vergangenen Jahren der wissenschaftliche Konsens. Nun geben neue Studien Ökonomen wieder Rätsel auf.

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Ob und wann ist wie viel Auswahl schlecht? Wissenschaftler beschäftigen sich intensiv mit Forschung im Supermarkt. Quelle: ap Quelle: handelsblatt.com

KÖLN. Ein Esel steht vor zwei Heuhaufen. Beide sind gleich groß und gleich weit entfernt. Er ist unschlüssig: Welchen soll er zuerst fressen? Der Esel überlegt. Und überlegt. Und überlegt. Bis er schließlich verhungert. Das Gleichnis stammt aus der Antike, berühmt gemacht hat es Jean Buridan. Der französische Philosoph definierte im 14. Jahrhundert die menschliche Freiheit als Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Sind diese identisch, vermutete Buridan, versagt der Wille.

700 Jahre sollte es dauern, bis sich erneut Wissenschaftler mit diesem volkstümlich "Qual der Wahl" genannten Phänomen beschäftigen. Die US-Psychologin Sheena Iyengar nannte es "Choice Overload" und veröffentlichte 2000 gemeinsam mit ihrem Doktorvater Mark Lepper einen bahnbrechenden Aufsatz, der über Nacht die "Too Much Choice"-Forschung begründete.

Forschung im Supermarkt

Intensiv haben Psychologen und Ökonomen die Frage, ob und wann viel Auswahl gut oder schlecht ist, seitdem erforscht. Zwischenzeitlich glaubten sie sich der richtigen Antwort sicher: Zu viel Auswahl ist schlecht, weil sie die Verbraucher verwirrt, lautete in den vergangenen Jahren der neue wissenschaftliche Konsens. Neue Studien jedoch stellen diesen Befund jetzt nachhaltig infrage - die Forscher müssen wieder bei null beginnen. Die Chronik eines faszinierenden Erkenntnisprozesses.

Jahrzehntelang hatten sowohl die klassische psychologische Motivations- als auch die ökonomische Nutzenmaximierungs-Theorie postuliert: je mehr Auswahl, desto besser. Und dafür gab es durchaus empirische Belege. Zum Beispiel ein Laborexperiment aus dem Jahr 1978. Manche Versuchspersonen durften unter einem halben Dutzend Aktivitäten auswählen, anderen befahl der Experimentleiter, was sie tun sollten - Baseball spielen etwa oder einen Aufsatz schreiben. Das Ergebnis: Wer auswählen durfte, war motivierter und leistungsfähiger.

Sheena Iyengar: "Dies zeigte, dass die Auswahl unter wenigen Alternativen besser ist, als überhaupt keine Wahl zu haben." Jedoch biete die Wirklichkeit oft viele, manchmal sogar eine überwältigende Anzahl an Alternativen. "Was passiert, wenn die Palette an Möglichkeiten größer wird und die Unterschiede zwischen ihnen kleiner werden?" Für diese Frage suchte die Forscherin eine Antwort - mit Experimenten in einem Supermarkt im kalifornischen Menlo Park. Wichtigste Zutat war Marmelade, Marke "Wilkin & Sons", Hoflieferant der britischen Königin. Als Versuchspersonen fungierten, ohne es zu wissen, 754 Kunden an zwei Samstagen.

Iyengar baute einen Probierstand auf, auf dem zunächst eine große Auswahl an Marmeladensorten stand, 24 Stück. Zwei Assistentinnen, verkleidet als Supermarktangestellte, lockten Kunden an. Wer probierte, erhielt einen Gutschein über einen Dollar Preisnachlass für ein Marmeladenglas. Später veränderten die Forscher den Versuchsaufbau. Statt 24 steht nur noch eine kleine Auswahl von sechs Sorten auf dem Tisch.

Nach einer Woche zieht Iyengar Bilanz: Am Stand mit 24 Marmeladen hielten etwa 60 Prozent der Vorbeigehenden an; bei sechs Sorten nur noch 40 Prozent. Aber wie viele Interessenten schlugen auch wirklich zu? Hier sah das Ergebnis ganz anders aus: War die Auswahl klein, kauften fast 30 Prozent der Kunden eine Marmelade; war sie groß, entschied sich nur noch ein Bruchteil für einen Kauf - nämlich drei Prozent.

"Diese Ergebnisse sind eindrucksvoll", schreibt Sheena Iyengar, als sie 2000 ihre Arbeit veröffentlicht. Sie "zeigen, dass ein komplexes Angebot zuerst hochgradig attraktiv auf Konsumenten wirken, jedoch anschließend ihre Motivation, das Produkt auch zu kaufen, reduzieren kann". Iyengar veröffentlicht zwei weitere Studien, die den Befund bestätigen. Ihre Ergebnisse gehen Anfang des neuen Jahrtausends um die Welt - und inspirieren Forscher wie Manager. Der Konsumgüterkonzern Procter & Gamble etwa reduzierte die Versionsanzahl seines "Head & Shoulders"-Shampoos von 26 auf 15 - und verbuchte einen Verkaufsanstieg von zehn Prozent.

Alles auf Anfang

Benjamin Scheibehenne ist 26, als er 2004 erstmals von Iyengars Forschungsarbeit hört. Eben hat er sein Psychologie-Diplom an der Humboldt-Universität in Berlin abgelegt und arbeitet beim Max-Planck für Bildungsforschung. -Institut Dort will er promovieren, er braucht ein Thema. Das steht schnell fest, als er sich mit der "Too Much Choice"-Forschung beschäftigt. "Der Effekt erschien mir aus einer theoretischen Perspektive und in Bezug auf eine praktische Anwendung interessant", erinnert sich der heute 32-Jährige, der inzwischen an der Universität Basel forscht. "Niemand hatte eine schlüssige Erklärung für den Effekt anzubieten."

Für seine Doktorarbeit will er Iyengars Marmeladenexperiment wiederholen. Nach mehreren Wochen hat er die Verkaufsleiterin des Berliner Warenhauses Galeries Lafayette überzeugt und studentische Hilfskräfte angeheuert. An zwei Samstagen will er den Effekt beobachten - als Einstiegsübung, wie er denkt. "Danach sollte es erst richtig losgehen, ich wollte testen, wie der Effekt sich verändert, wenn man das Experiment modifiziert."

Doch so weit wird es nicht kommen. "Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem, was dann passierte", erinnert er sich. Als Scheibehenne den Gutscheinrücklauf des ersten Samstags auswertet, traut er seinen Augen kaum. Rund 30 Prozent der Kunden hatten zugeschlagen - unabhängig davon, ob sie der größeren oder kleineren Auswahl gegenüberstanden. Im ersten Fall entschieden sich sogar mehr Menschen zum Kauf.

Er versteht die Welt nicht mehr. War beim Experiment etwas schiefgelaufen? Scheibehenne macht eine zweite Studie, diesmal unter kontrollierten Bedingungen im Labor, statt Schokolade nimmt er Kaubonbons. Aber der Effekt bleibt erneut aus. Er macht weiter, nach zehn Experimenten weist lediglich eines den Effekt auf. Der Forscher präsentiert seine Ergebnisse auf Kongressen, dort berichten ihm Kollegen von ähnlichen Erfahrungen.

"Wir sind immer skeptischer geworden. Der Effekt schien bei weitem nicht so stabil aufzutreten, wie angenommen", erzählt Scheibehenne. Er will es jetzt wissen, startet einen Aufruf. Alle Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen beschäftigt haben, sollen ihre Studien schicken, auch die unveröffentlichten. Seine Doktorarbeit entwickelt sich zur Meta-Analyse - 2008 präsentiert er eine Übersicht über die "Too Much Choice"-Forschung.

Die Schlüsse, zu denen er in seiner Promotion gelangt, sind gravierend. Für Anhänger der "Too Much Choice"-Hypothese an Universitäten, beim Marketing oder im Verkauf könnten sie ein "Zurück auf Los" bedeuten: Scheibehenne hat 50 Experimente aus der ganzen Welt zusammengetragen. "Der mittlere Effekt über alle Studien ist gleich null", so das Fazit. War es nur reiner Zufall, was Iyengar im Supermarkt von Menlo Park beobachtete? Ein Irrtum?

Scheibehenne widerspricht. "Dafür ist die Varianz zwischen den Studien zu hoch. Es gibt einige, die einen starken Effekt finden, welcher sich nicht durch zufällige Abweichungen erklären lässt." Das Problem sei, "dass die Frage, unter welchen seltenen Umständen der Effekt auftritt, weiter ungeklärt bleibt". Sicher seien heute lediglich drei Punkte: Wer genau weiß, was er will, profitiere von mehr Auswahl. Werden Menschen gefragt, ob ihnen mehr oder weniger Auswahl lieber sei, entschieden sie sich für mehr. Wer aber unter vielen Optionen auswählen müsse, habe dabei große Schwierigkeiten.

Sheena Iyengar ist heute Professorin in New York und hat gerade ein neues Buch über das Entscheiden veröffentlicht. Sie kennt Scheibehennes Meta-Analyse, bewertet sie aber betont zurückhaltend. "Die Arbeit ist ein Beitrag zum wissenschaftlichen Dialog", sagt sie, "aber nicht dessen Endpunkt."

Es gebe hinreichend Fälle, in denen der Effekt auftrete. Voraussetzung sei offenbar, dass einem die Wahl wichtig sei, dass man sich Gedanken mache. "Eines ist doch unbestritten", sagt Iyengar: "Unsere Welt ist in den vergangenen Jahren komplizierter geworden." Das Ziel könne daher nicht sein, die Vielfalt zu verringern, wie radikale Kritiker der Konsumgesellschaft fordern. "Wir müssen die Menschen zu Auswahl-Experten machen!" sagt Iyengar. Die Schule beispielsweise müsse lehren, woran man vertrauenswürdige Sachverständige erkenne. Diese könnten helfen, rasch aus scheinbar gleichen Möglichkeiten die bessere herauszufiltern, und so die Entscheidung erleichtern. "Ähnlich lässt sich das Dilemma in Jean Buridans Gleichnis lösen: Der Bauer treibt seinen zaudernden Esel einfach zum erstbesten Heuhaufen."

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