Republikflucht aus der DDR „Mir reicht's, ich hau ab“

Der Potsdamer Mathias Luther floh 1986 über Ungarn in den Westen. Wenn er heute zurückblickt, kann er es selbst kaum glauben, wieviel Glück er damals hatte. Ein Rückblick auf die deutsche Teilung.

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Der streng gesicherte Todesstreifen der innerdeutschen Grenze: Das Grenzdenkmal in Hötensleben. Quelle: dpa

Es war der 10. Oktober 1986, ein sonniger Herbsttag drei Jahre vor dem Fall der Mauer, als sich Mathias Luther in Ungarn auf den Weg Richtung Grenze machte, um sein Leben ein für alle Mal zu ändern. Luther ist einer der wenigen DDR-Bürger, dem die Flucht in den Westen damals ohne größere Probleme gelang. Mit Glück, aber auch einer Portion Tollkühnheit.

Wie ist Ihr Entschluss zur Flucht gereift?

Natürlich Verdruss über das System, gepaart mit leicht naiver Abenteuerlust. Der Hauptpunkt aber war: Ich war nach dem Abitur bei der NVA (Nationale Volksarmee) gewesen. Das war die grauenhafteste Zeit meines Lebens. Da konnte man immer wieder als Reservist einberufen werden. Das Ding hatte ich 1986 gerade auf den Tisch bekommen. Da war klar: Jetzt reicht's, jetzt muss Du was machen.

Wie sah Ihr Leben damals aus?

Ich war 25, habe als Regieassistent bei der Defa gearbeitet. Jedes Jahr habe ich mich an der Filmhochschule Babelsberg beworben. Bis mir einer sagte, Du kannst Dich gar nicht bewerben, Du musst vom Studio delegiert werden. Später durfte ich dann in meinen Stasi-Akten lesen, dass ich auf Lebenszeit gesperrt war.

Wie lief die Flucht ab?

Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch ein Visum für Ungarn. Und die Kollegin, die mir helfen wollte, hatte ein Westauto, einen Fiat Uno. Mit dem sind wir ins Grenzgebiet Richtung Österreich gefahren. Der Grenzstreifen war etwa drei bis vier Kilometer breit. Bei dem ersten Kontrollposten wurden wir einfach durchgewunken: Die Grenzsoldaten haben gar nicht aufs Nummernschild geschaut, sondern nur nach dem Autotyp und dann nur die Ostautos kontrolliert. Auf einer einsamen Straße bin ich dann ausgestiegen, hab mich in ein Gebüsch gerollt und gewartet, bis es dunkel wurde. Von weitem sah ich Grenzposten. Einmal hörte ich das wütende Kläffen von Schäferhunden. Ich dachte: Scheiße, das war's. Aber das Kläffen ging vorbei, irgendwann hörte ich die Hunde nicht mehr.

Was geschah in der Dunkelheit?

Irgendwann bin ich losgelaufen, hin zu den Zaunanlagen. Es war ein riesiger Stacheldrahtverhau, ich konnte mich kaum hochziehen. Gottseidank hatte ich dicke Lederhosen und eine Lederjacke an. Ich bin immer wieder hoch, habe immer wieder Anlauf genommen - und irgendwann hatte ich es geschafft, ich lag auf der anderen Seite. Ich hatte völlig die Orientierung verloren, sah irgendwann die Lichter eines Dorfes. Und als ich da hinkomme, sehe ich als erstes ein kleines Auto, denke: Das ist ja ein Trabbi, Scheiße! Aber dann sah ich Schaufenster mit Preisen in Schilling. Ich war in Österreich.

Wer hat Ihnen dann geholfen?

Es war Samstagabend gegen 23 Uhr, nur in einer Kneipe brannte Licht. Ich riss die Tür auf - und in dem Moment wurde es totenstill, alle starrten mich an. Und erst da habe ich gemerkt, dass ich voller Blut war. Von dem Stacheldraht hatte ich ganz viele kleine Risse an Händen und Gesicht.

Wie haben die Leute reagiert?

Als ich erzählt hab', wo ich herkomme, gab es ein Riesen-Hallo. Man verband mir die Hände, gab mir einen Teller Suppe und zwei, drei Bier. Seit Jahren war hier kein Flüchtling mehr aufgetaucht! Der Wirt gab mir ein Zimmer für die Nacht und drückte mir 1000 Schilling in die Hand. Jahre später, nach dem Mauerfall, bin ich zurückgekehrt und hab' dem Mann das Geld zurückgegeben.

Mathias Luther lebt heute mit Frau und Tochter in Berlin-Kreuzberg. Er arbeitet als Regisseur. Der Ort, in dem Luther damals in der Nacht seiner Flucht Aufnahme fand, war Schattendorf am Neusiedler See.

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