Pilotprojekt Computerverfahren setzt zerrissene Stasi-Akten wieder zusammen

Die Absicht des DDR-Geheimdienstes im Wendeherbst 1989 ging trotz akribischer Aktenvernichtung nicht auf: Rund 16.000 Säcke mit zerrissenen Stasi-Unterlagen wurden sichergestellt.

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Zerrissene Stasi-Unterlagen werden im Fraunhofer-Institut in Berlin in einen Scanner geführt, dpa

Knapp 17 Jahre nach der Wiedervereinigung beginnt nun die groß angelegte Computer-Rekonstruktion von zerkleinerten und verknüllten Papieren, die das Ministerium für Staatssicherheit nicht mehr beiseite schaffen konnte. Heute startete am Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik das nach eigenen Angaben weltweit einmalige Pilotprojekt. Die Stasi-Unterlagenbehörde gehe davon aus, dass „relevante Unterlagen“ zerrissen wurden, sagte Behördenvertreter Günter Bormann. Es sei anzunehmen, dass Material aus den Jahren 1988/89 in den Säcken liegt. „Das hatten die Stasi-Offiziere zum Schluss aktuell auf den Schreibtischen, das ist kein Material aus verstaubten Archiven“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Weitere Aufschlüsse über die Arbeit des DDR-Geheimdienstes seien zu erwarten, sagte Bormann. In Befehlen zur Aktenvernichtung habe es geheißen, dass „belastendes Material zu vernichten und Inoffizielle Mitarbeiter (IM) zu schützen“ seien. Für das gigantische Puzzle wurden Säcke aus allen Stasi-Hauptabteilungen ausgewählt. Viel Neues aus der Spionage-Abteilung HVA sei aber nicht zu erwarten. Dort seien Akten mit einer Sonderregelung gründlich zerstört worden. Für das Zwei-Jahre-Projekt hat der Bund 6,3 Millionen Euro bereitgestellt. Mit dem Computer-Puzzle sollen die Schnipsel aus 400 Säcken zusammengefügt werden. Die Stasi-Offiziere zerrissen zum Schluss die Akten per Hand, weil die Reißwölfe heiß gelaufen waren. Rund 600 Millionen Schnipsel von 45 Millionen Seiten finden sich in allen Säcken. 30 Leute bräuchten für das Zusammenfügen per Hand 600 bis 800 Jahre, hat das Fraunhofer Institut ausgerechnet. Mit den wiederhergestellten Akten gebe es noch die Chance, Stasi-Spitzel zu enttarnen und zur Rechenschaft zu ziehen, sagte CDU-Bundestagsabgeordneter Klaus-Peter Willsch, der sich für das Projekt engagiert hatte. Unter Rot-Grün sei das Vorhaben nicht recht voran gekommen, sagte er zu dem späten Start. Nun solle aufgeklärt werden, was noch aufzuklären ist. „Das ist ein wichtiges Signal, dass Täterschutz nicht vor Opferschutz geht.“ Er mahnte, die Erinnerung an das DDR-Unrecht dürfe nicht verblassen. Nach der Testphase müsse entschieden werden, ob die elektronische Zusammensetzung weiter geht, sagte der Abgeordnete. Wenn Ja, könnten dann in rund fünf Jahren alle Akten wiederhergestellt sein. Beide Phasen würden nach Schätzungen weniger als 30 Millionen Euro kosten. In früheren Prognosen war von höheren Summen ausgegangen worden. Projektleiter Jan Schneider erläuterte das Verfahren: Die Schnipsel kommen auf ein Förderband, werden einzeln von beiden Seiten eingescannt und dann automatisch sortiert: nach Farbe, Schrift, Stempeln und Papierrändern. Sobald das Computerprogramm Übereinstimmungen erkennt, fügt es die Teile zusammen. Dabei nutzt auch der pedantische Ordnungssinn der Stasi: Weil direkt vom Schreibtisch in einen bereitstehenden Sack geschichtet und fast keine Akten gemischt wurden, sei das Zusammenfügen machbar. „Für mich ist es spannend, die Stasi-Papiere zu entschlüsseln“, sagte der 36-Jährige. Er empfinde das auch als ein Stück Zeitgeschichte. In Zirndorf bei Nürnberg geht indessen das mühsame Zusammenfügen des zerrissenen Materials per Hand weiter. In mehr als zehn Jahren haben sich die Mitarbeiter dort bereits durch 323 Säcke gewühlt.

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