Paarungsverhalten Die Liebe in Zeiten der Digitalisierung

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Wer tindert, will sich belohnen

Nimmt man Wengenroth beim Wort, ist das Geheimnis der Liebe online abgeschaltet: Wer tindert, erwartet eine Gegenleistung. Und will sich belohnen. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Anerkennung mit guten Gefühlen zu honorieren. Dass wir bei einem positiven Feedback auf Dating-Portalen den Botenstoff Dopamin ausschütten, der unseren Wunsch nach Wiederholung der Anerkennung stärkt, ist der biochemische Prozess, der hinter dem Erfolg des Onlinedatings steht. „Das Dating hat mich fast süchtig gemacht“, sagt Lilo Stein, unverheiratet, kinderlos. Die 41-jährige Unternehmensberaterin aus Berlin hat sich vor einem Jahr auf der Kuppel-App ok-cupid angemeldet und Männer gedatet. Dabei kamen „einige Bettgeschichten heraus“, obwohl das „nicht unbedingt die Absicht“ gewesen sei: „Ich fühlte mich einfach geschmeichelt. Ich wollte nach einer verunglückten Liebe meinen Marktwert testen“, erzählt Stein.

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Nicht nur die Zielstrebigkeit, mit der Männer Sex wollten, hat sie überrascht, sondern auch, wie „unglaublich effizient“ digitales Dating funktioniert. Bei Offlinepartys sei die Trefferquote eindeutig kleiner – und nicht jeder habe Flirtchancen. Im „demokratischen“ Onlinedating dagegen kann jeder mitmachen und sich zum Subjekt seiner Begierde machen, Komplimente verteilen und erhalten und sich kurzfristig glücklich fühlen. Dopamin sei Dank. Doch die Liebe?

Sie kann durchaus aus dem geschäftsmäßigen Dating erwachsen. „Viele Singles haben das Gefühl, dass sich eine ganz besondere Person direkt hinter dem Bildschirm versteckt und dass sie irgendwann mit ihr in Kontakt kommen werden“, meint Pascal Lardellier, Experte für soziale und Dating-Netzwerke an der Universität Dijon. In den westlichen Industrienationen kämen mittlerweile mehr als die Hälfte aller Verabredungen von Menschen zwischen 30 und 40 Jahren über Partnerportale zustande. Wesentlich geändert habe sich dadurch indes nichts: „Soziokulturelle Nähe spielt auch im Netz eine Rolle. Wir suchen nach Menschen, die so sind wie wir.“

Digitaler Auftakt, analoge Bewährung

In der Mythologie war dieses Motiv noch in hübsche Geschichten gekleidet: Pygmalion geht eine virtuelle Beziehung mit der von ihm geschaffenen Statue Galatea ein. Und Narziss ertrinkt, weil er sein Spiegelbild der Nymphe Echo vorzieht. Heute kommt die Selbstliebe als Urgrund aller Liebe direkter, prosaischer daher – als anonyme Interaktion im Netz.

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Dass ihnen ein Dating-Algorithmus einen Partner zuspielt, mit dem sie dauerhaft zusammen sein können, glauben Lilo Stein und Maria Dannenberg daher nicht. Zu oft haben sie die Erfahrung gemacht, dass digitale Dating-Männer „recht plump“ sind: „Das Hofmachen kennt hier kaum einer.“ Maria Dannenberg hat sich nach einem Jahr intensiver Tinderei auf dem Portal abgemeldet – nachdem sie ihren jetzigen Freund in einem Club kennengelernt hat. Noch kürzer tinderte Jan Ladleif. Der 23-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften meldete sich nach der Trennung von seiner Freundin auf der App an. „Ich wollte mal Neues ausprobieren.“ Nach wenigen Tagen hatte er sein erstes „Match“, eine junge Frau fast aus seiner Nachbarschaft. Die beiden sind ein Paar.

„Natürlich werden wir uns weiterhin im wirklichen Leben treffen, Körper begehren und schöne Geschichten aus dem wahren Leben anfangen“, meint Dating-Experte Lardellier. Doch werden wir auch die Beziehungstechnologien „und ihre Möglichkeiten immer stärker nutzen, um einander kennenzulernen“. Der Auftakt des Paarlaufens ist in Digitalien entromantisiert. Ob es dann doch die „große Liebe“ wird, wie sich 70 Prozent der Deutschen wünschen, bleibt eine analoge Bewährungsprobe und Schicksalsfrage.

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