60 Jahre Cern Ein Labor für die ganze Welt

Große Fragen der Menschheit: Warum gibt es uns und unsere Welt? Wie wird sich das Universum entwickeln? Seit sechs Jahrzehnten suchen Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum nach Antworten.

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Im weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC am Kernforschungszentrum Cern werden Milliarden von Protonen oder Blei-Ionen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander losgejagt. Quelle: dpa

Genf Es sind diese Superlative, die Forscherherzen schneller schlagen lassen: Der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, die komplexeste Maschine der Welt. Und die „coolste“. Auf 1,9 Kelvin – minus 271,25 Grad Celsius – wird derzeit der Large Hadron Collider (LHC) nahe Genf heruntergekühlt. Das ist nötig, um bald Elementarteilchen mit der Energie von 14 TeV (Teraelektronenvolt) – doppelt soviel wie je zuvor – aufeinander losjagen zu können. Aus diesen Kollisionen können dann weitere Elementarteilchen wie das berühmte Higgs-Boson entstehen.

Für Forscher in aller Welt geht mit der Inbetriebnahme des in monatelanger Arbeit umfassend modernisierten LHC Anfang 2015 ein Traum in Erfüllung. Dann kann mit weit größeren Chancen als bisher die Suche nach Schwestern oder Brüdern des Higgs-Teilchens aufgenommen werden, des wichtigsten Bausteins im Standardmodell der Materie. Die Grundlage auch dafür wurde vor sechs Jahrzehnten geschaffen. Am 29. September 1954 trat der Staatsvertrag für das Europäische Kernforschungszentrum (Cern) in Kraft, zu dem der LHC gehört. Mittlerweile sind 21 Staaten am Cern beteiligt.

„Das Zentrum hat die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus aller Welt enorm gefördert und wichtige Entdeckungen ermöglicht“, sagt Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer (66) aus Stuttgart. Der bedeutendste Erfolg war 2012 der Nachweis des Higgs-Bosons, des „Gottesteilchens“. Seine Existenz hatten knapp ein halbes Jahrhundert zuvor der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert vorausgesagt. Nachdem ihre Theorie am Cern bewiesen werden konnte, erhielten sie 2013 den Physik-Nobelpreis.

Die Bedeutung des Higgs-Teilchens erklärt der Cern-Chef Laien gern so: „Sie und ich würden ohne dieses Teilchen nicht hier sitzen, es gäbe uns gar nicht.“ Es sei jener Grundbaustein der Materie, der anderen Elementarteilchen überhaupt erst Masse verleiht. „Blieben sie masselos, könnten sie nur wie Irrlichter durchs All schwirren, hätten keine Möglichkeit, gebundene Zustände herbeizuführen. Es gäbe also keine Materie.“

Wie jeder Erfolg in der Teilchenphysik war auch die Higgs-Entdeckung Auslöser für weitere, noch umfangreichere Forschungen. Das Ziel ist kein geringeres als die Beantwortung der größten Fragen der Menschheit. Warum gibt es unsere Welt? Wie ist alles entstanden, wie entwickelt sich unser Universum? Und was kommt danach?

Mehr als 10.000 Wissenschaftler beschäftigen sich mit den Experimenten des Cern. Einige Tausend vor Ort in Meyrin bei Genf, andere an Computern ihrer Heimatinstitute von Amerika bis Japan. „Dadurch ist das Cern ein Labor für die ganze Welt“, sagt Heuer.

Und zugleich sei es eines der größten Friedensprojekte. „In unserer Konvention steht, dass alles, was wir machen, nichts mit irgendwelchen waffenfähigen Forschungen zu tun haben darf.“ Am Cern würden Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Ländern und Kulturen zeigen, dass die Welt friedlich zusammenarbeiten kann. „Diese Botschaft ist in Zeiten voller Krisen wichtiger denn je.“


Inszenierung des Urknalls

Auf dieser ideellen Basis wird in wenigen Monaten am LHC wieder die internationale Teilchenforschung aufgenommen. Bis zu 150 Meter tief, im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, erstreckt sich der kreisrunde LHC-Tunnel auf einer Länge von fast 27 Kilometern vom Genfer See bis zum französischen Jura. Was Physiker, Ingenieure und Techniker in dieser Riesenröhre veranstalten, ist eine Art Inszenierung des Urknalls.

Im LHC-Vakuum, das dem des Weltalls gleicht, werden Milliarden von Protonen oder Blei-Ionen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander losgejagt. Bei Zusammenstößen entsteht ein Regen von Folgeteilchen. Physiker analysieren sie mit vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser. Die Zahl der auswertbaren „Unfallbilder“ wird mit dem modernisierten LHC von 20 Millionen auf 40 Millionen steigen – pro Sekunde.

Doch bei allen Superlativen steht schon fest, dass auch der modernisierte Ringbeschleuniger an Grenzen stoßen wird. „Wir wissen nur etwas über einen kleinen Teil unseres Universums, ungefähr fünf Prozent“, sagt Heuer. „Der Rest ist weitgehend rätselhaft, dunkle Materie, dunkle Energie – darüber wollen wir mehr erfahren.“

Deshalb wurde im Februar mit Studien für den Bau eines beinahe vier Mal größeren Teilchenbeschleunigers mit entsprechend leistungsfähigen Detektoren begonnen. Die Ergebnisse samt konkreter Empfehlungen für diesen Future Circular Collider (FCC) sollen in fünf Jahren vorliegen. In zehn Jahren könnte er den Betrieb aufnehmen.

Deutschlands Steuerzahler bringen 20 Prozent des Cern-Budgets von derzeit jährlich insgesamt einer Milliarde Franken auf (850 Millionen Euro). Da stellen Haushaltspolitiker schon mal Fragen nach dem praktischen Nutzwert. Doch es liegt auf der Hand, dass ohne Grundlagenforschung kaum praxistaugliche Entdeckungen möglich wären.

Moderne nuklearmedizinische Diagnostik wäre ohne frühere Erkenntnisse am Cern unvorstellbar. Und das World Wide Web, ohne das wir weder im Internet surfen, noch E-Mails verschicken könnten, war einst eine Art Nebenprodukt der Arbeit von Cern-Wissenschaftlern.

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