Wer im öffentlichen Nahverkehr arbeitet, hat ein Problem. Bahnfahrer und Büroangestellte sitzen den ganzen Tag. Und das schlägt auf die Gesundheit. Rückenprobleme und Übergewicht sind die Folge. Doch nicht nur da. Der Krankheitsstand in deutschen Unternehmen ist in den vergangenen Jahren immer weiter angewachsen. Mittlerweile hat sich die Lage so zugespitzt, dass Unternehmen wie die Hamburger Hochbahn mit einem Gesundheitsprogramm an die Mitarbeiter herantritt.
Finanzierte Yoga- und Sportkurse für die 4500 Angestellten gehören hier ebenso zum Alltag wie Schulungen für Führungskräfte, Workshops für Berufseinsteiger und Kochkurse. Das Vorgehen des Unternehmens ist vorbildlich – und nicht ohne Eigennutz. Studien haben gezeigt, dass übergewichtige Menschen sich häufiger krank melden als normalgewichtige. „Die Krankentage von übergewichtigen Frauen sind laut Auswertungen von Krankenkassendaten sogar etwa doppelt so hoch“, sagt der Hamburger Diabetologe und Ernährungsmediziner Matthias Riedl.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht unter diesen Umständen für die Gesundheit in der Bundesrepublik schwarz. „2030 wird das deutsche Gesundheitswesen angesichts der Adipositas- und Diabeteswelle nicht mehr finanzierbar sein“, behauptete die Organisation bereits 2003 und untermauert die Prognose mit konkreten Zahlen:
- Direkte Behandlungskosten für Adipositas lagen in der Bundesrepublik in Höhe von 85,71 Millionen Euro
- Die indirekten Kosten durch Arbeitsunfähigkeit oder Frührente bei immerhin 1,4 bis 1,6 Milliarden Euro
- Und der nationalen Produktivität gingen angeblich 500.000 Erwerbsjahre im Jahr verloren
- Zudem gingen die Trendrechnungen der WHO davon aus, dass alleine bis 2020 mit einem Anstieg der Gesamtausgaben von mindestens 25,7 Milliarden Euro zu rechnen ist – und das alleine in Deutschland.
Die Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation sind mittlerweile über zehn Jahre alt. Das Problem hat sich seitdem aber eher verschärft. Zwar ist die Zahl der Übergewichtigen zwischen 1998 und 2012 laut einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts gesunken. Dafür werden die Adipösen, also mit einem Body-Maß-Index (BMI) von über 30, immer mehr.
Wie sich der BMI berechnet
Der Body-Mass-Index berechnet sich wie folgt: Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße mal Körpergröße in Metern.
Bei einem Gewicht von 90 Kilogramm und einer Größe von 1,90 Meter beträgt der BMI also knapp 25.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO wird ein BMI zwischen 18,5 und 24,9 als normal angesehen. Ab einem Wert von 30 Kilogramm pro Quadratmeter Körpergröße gelten Übergewichtige als adipös und behandlungsbedürftig.
Die Zahlen hierzulande entsprechen inzwischen denen der USA. Gemeinsam mit Großbritannien und Finnland führen die Deutschen die Ranglisten der europäischen Dicken an. Gut ein Drittel der Bevölkerung hat ein leichtes, 14 Prozent ein deutliches Übergewicht.
Studie: Übergewichtige sterben früher
Zu viel Körperfett kann mitunter tödlich sein. Ein idealer BMI liegt zwischen 22,5 und 25. Berechnungen des Wissenschaftlers Gary Whitlock haben ergeben, dass ein BMI um 30 bis 35 die Lebenserwartung bereits um zwei bis vier Jahre verringert. Ab einem BMI von 40 schwindet die Lebenserwartung um acht bis zehn Jahre. Das entspricht einem früheren Tod, mit dem auch Raucher rechnen müssen. Grund sind Folgeerkrankungen aufgrund der Adipositas.
Allein in Deutschland ist in Folge der starken Gewichtszunahme die Zahl der schweren Leber-, Magen- und Diabetes-Erkrankungen laut WHO in den vergangenen 30 Jahren deutlich angestiegen. Dazu kommen Gelenkbeschwerden, Hauterkrankungen sowie Herz- und Kreislauferkrankungen.
All das ist seit Jahrzehnten bekannt. Dennoch fällt das Abnehmen den Deutschen offensichtlich schwer. Eine aktuelle Studie des Allensbach-Instituts zeigt, dass 45 Prozent der Deutschen gerne abnehmen würden – 39 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen. Dabei wollen vor allem die Übergewichtigen mit 84 Prozent der Befragten Pfunde lassen. Doch die Zahlen haben sich seit Ende der 80er Jahre kaum verändert. Warum werden die übergewichtigen Bundesbürger also eher noch dicker als dünner?
Wie man dick wird
Grund dafür sind zum einen die Lebensumstände. Deutschland ist zu einer Dienstleistungsnation geworden, in der die Bürger ihren beruflichen Alltag vor allem sitzend verbringen. „Etwa Dreiviertel der Bevölkerung machen überhaupt keinen Sport. Das ist in unserer digitalisierten Gesellschaft ein Problem, weil wir uns heute viel weniger bewegen und die Energiezufuhr daran nicht angepasst haben“, sagt Helmut Heseker, Ernährungswissenschaftler an der Universität Paderborn.
Alternative Ernährungsformen
Flexitarier sind Menschen, die gesundheitsbewusst leben und sich auch so ernähren. Für sie gibt es nicht unbedingt grundsätzliche Bedenken, Fleisch zu konsumieren. Das kommt bei Flexitariern nämlich durchaus auf den Teller - aber nur selten. Und wenn, dann stammt das Tier meist aus artgerechter Bio-Haltung, wenn möglich aus der näheren Umgebung. Flexitarier sind nämlich oft unter den sogenannten Lohas* zu finden. Neben dem Wissen, dass eine einseitig fleischlastige Ernährung für den modernen Stadtmenschen ungesund ist (und manchmal auch der zelebrierten Vorfreude auf den Sonntagsbraten als etwas Besonderem!) sind sich Flexitarier auch der Umweltschädlichkeit extensiven Fleischkonsums bewusst.
*Menschen, die einen gesundheitsbewussten und nachhaltigen Lebensstil pflegen (Lifestyle of Health and Sustainability)
Freeganer zeichnen sich weniger durch strenge Regeln der Form "Das darf ich essen - das darf ich nicht essen" aus, als durch den Willen, mit dem Ort ihres Nahrungsmittelbezugs ein Zeichen zu setzen. Freeganer gehen nicht in den Supermarkt, sondern dahinter. Sie holen sich ihr Essen aus dem Müll der Supermärkte und Discounter und setzen sich damit gegen die Wegwerfgesellschaft und Lebensmittelverschwendung ein.
Frutarier pflegen eine besonders strenge Form der pflanzenbasierten Ernährung. Die Ernte der von ihnen gewählten Pflanzen(-bestandteilen) darf den Gesamtorganismus der Pflanze weder beschädigen noch seinen Tod zur Folge haben. Manche Frutarier verzehren Äpfel beispielsweise nur als Fallobst. Knollen etwa (wie Kartoffeln) sind nicht erlaubt: Sie sind der Energiespeicher der Kartoffelpflanze und daher für sie auf Dauer lebenswichtig.
Lacto-Vegetarier nehmen keine Eier zu sich. Milchprodukte dürfen neben Lebensmitteln nicht-tierischen Ursprungs aber verzehrt werden.
Ovo-Lacto-Vegetarier praktizieren eine relativ weit verbreitete und im täglichen Leben eher unkomplizierte Form des Vegetarismus. Neben rein pflanzlichen Produkten wie Obst oder Gemüse nehmen Ovo-Lacto-Vegetarier auch Eier und Milchprodukte zu sich, also Lebensmittel, für deren Gewinnung keine Tiere geschlachtet werden müssen.
Keine Milchprodukte, aber Eier (und pflanzliche Speisen) dürfen Ovo-Vegetarier zu sich nehmen. Unter anderem eine Lösung etwa für Vegetarier, die kein moralisches Problem mit dem Verzehr von Eiern haben, aber an einer Lactose-Intoleranz leiden.
Pescetarier sind Menschen, deren Ernährungsplan Fisch (je nach Ausprägung auch Weichtiere, Milch und/oder Eier) und vegetarische Kost kombiniert. Pescetarismus ist oft, wie andere alternative Ernährungsformen auch, mit einem Unbehagen der Massentierhaltung gegenüber verbunden.
Vegane Ernährung bedeutet: Weder Fisch noch Fleisch, noch Eier oder Milchprodukte stehen auf dem Speiseplan. Stattdessen gibt es Obst und Gemüse. Für die Eiweißversorgung nutzen Veganer (wie viele andere Vegetarier übrigens auch) pflanzliche Proteine, enthalten etwa in Tofu (Sojaeiweiß) oder Seitan (Weizeneiweiß - Gluten). Strengen Veganern ist der Veganismus aber mehr als eine Ernährungsform: Sie lehnen die Nutzung von Tieren (und daher auch tierischer Produkte) ab. Das heißt für einen strengen Veganer: Neben den oben aufgezählten Produkten meidet er auch Honig und Wachsprodukte, Kosmetika mit tierischen Inhaltsstoffen sowie Leder. Wer streng vegan orientiert ist, kann im Supermarkt nicht einfach zu Fertig-Produkten greifen - oft verstecken sich in der langen Zutatenliste solcher Gerichte Milchpulver, Butterreinfett oder Hühnerei-Eiweißpulver. Ein strenger Veganer braucht daher ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und Akribie.
Konkret bedeutet das: Wir nehmen über die Nahrung jede Menge Energie zu uns, die gar nicht mehr verbrannt wird. Denn Bewegung der Muskulatur ist der einzige Weg, überschüssige Energie abzuführen. Jede überflüssige Kalorie wandelt der Körper in Fettzellen um. Der Vorgang an sich ist genetisch im menschlichen Körper veranlagt und ein Zeichen dafür, das wir kerngesund sind. Um nicht zu verhungern, wird jedes Gramm zusätzliches Fett in den Muskeln, der Leber und dem Fettgewebe gespeichert.
Doch genau hier liegt auch das Problem für jene, die überflüssige Pfunde wieder loswerden wollen. Einmal aufgebaute Fettzellen lassen sich mit einer Diät, Sport oder gesunder Ernährung zwar entleeren, doch bleiben sie auch nach dem Gewichtsverlust erhalten. „Hat eine Person einmal 105 Kilogramm gewogen, hält der Körper dieses Gewicht künftig für erstrebenswert“, sagt Matthias Riedl. Der Kampf gegen das eigene Körperfett beginnt.
Diäten helfen nur kurzfristig
Sich auf eine Trennkost-, Brigitte-, Schlaf- oder Schokoladendiät einzulassen, hilft jedoch kaum weiter. Die Allensbach-Studie zeigt eindeutig, dass lediglich 20 Prozent aller Befragten, die eine Diät gemacht haben, diese auch als erfolgreich einstufen. Ebenfalls 20 Prozent sahen den Diät-Versuch als gescheitert an, 56 Prozent sprechen von „teilweise erfolgreich“.
„Diäten sind immer falsch. Die Menschen nehmen sie als eine Vorschrift war, von der sie irgendwann genug haben“, erklärt Matthias Riedl aus Hamburg. Entsprechend zeigt die Waage kurz nach einer Diät schnell wieder höhere Zahlen an als vorher: Der bekannte Jo-Jo-Effekt stellt sich ein. Im Körper läuft dabei folgendes ab: Wer sich knallhart an die Regeln einer Diät hält, nimmt weniger Energie zu sich, als er verbraucht. Aufgrund dieser gewollten Mangelernährung, zieht der Körper die fehlenden Kalorien aus dem Fett- oder Muskelgewebe ab. Allerdings wird vor allem Wasser sowie kurzfristig verfügbare Energie aus den Muskelzellen abgezapft, statt das für harte Zeiten sorgsam eingelagerte Fett. Gleichzeitig verringert der Körper seinen Grundumsatz, um ob der reduzierten Kalorienzufuhr, Energie zu sparen.
Wer also nach einer Diät wieder auf die ursprüngliche Ernährung umschwenkt, muss den Körper erst wieder auf den ursprünglichen Energieverbrauch trimmen. Bis dahin nimmt der Mensch noch mehr Kalorien auf, die wiederum vom Körper gespeichert werden. Ein Teufelskreis. Besonders hinterhältig wirkt dabei auch das Hormon Leptin. Es spiel bei der Regulierung des Fettstoffwechsels eine entscheidende Rolle im Körper. Es blockiert Neuronen, die appetitstimulierende Stoffe produzieren, und aktiviert Neuronen, die appetitzügelnde Botenstoffe ausschütten. Dank Leptin schwindet also unser Hungergefühl. Sobald sich allerdings Fettdepots im Körper reduzieren, nimmt auch die Konzentration des Leptin ab, damit wir wieder Hunger empfinden und ordentlich Essen – im Sinne der menschlichen Überlebensstrategie.
Auch Dünne verfetten
Abnehmen ist also eine Kopfsache. Nur wer über körperliche Probleme klagt oder sich als zu dick empfindet, wird auch an sich arbeiten. Doch je dicker unsere Gesellschaft wird, desto geringer wird das Bewusstsein für ein gesundes Gewicht. „Dicke werden vor allem in der Gesellschaft anderer Übergewichtiger noch dicker“, sagt Matthias Riedl. Grund dafür sei, dass wir uns immer stark an unserer Umwelt orientieren. Britische Studien zeigen, dass sich unsere Wahrnehmung alle zehn Jahre um etwa zehn Prozent zugunsten des Hüftspecks orientiert. Wer heute übergewichtig ist, empfindet sich also viel schlanker, als er sich vor zehn oder zwanzig Jahren empfunden hätte.
Von dieser Verfettung sind übrigens nicht nur Menschen betroffen, die offensichtlich etwas zu viel auf den Rippen haben. Auch jene „die essen können, was sie wollen“, können durch eine zu kalorienreiche Ernährung ernsthaft krank werden. Bei ihnen legt sich das Körperfett nicht an den Hüften ab, sondern sammelt sich direkt um die inneren Organe – vor allem die Leber.
„Daher sind wir heute eigentlich weg vom BMI als Größeneinheit, sondern schauen uns den Bauchumfang an“, erklärt Matthias Riedl. „Der ideale Bauchumfang liegt bei Frauen bei unter 80, bei Männern bei unter 94.“ Nimmt man diesen Maßstab, steigt die Zahl der Übergewichtigen in Deutschland nochmal an.
Was hilft?
Was also tun, im Kampf gegen den Bauch? Über alle Berufs- und Altersgruppen hinweg müsse ein umdenken stattfinden, glaubt Helmut Heseker aus Bielefeld und gibt konkrete Tipps. „Wir müssen Sport in den Alltag integrieren und ihn ebenso wichtig nehmen, wie unsere beruflichen Termine“, sagt der Mediziner. Sport müsse so selbstverständlich werden wie das Zähneputzen.
„Doch durch Sport allein wird niemand abnehmen“, sagt Helmut Heseker aus Paderborn. „Ohne eine zusätzliche Ernährungsumstellung geht es nicht. Vor allem bei den energiedichten Lebensmitteln, die uns die Hersteller heutzutage im Supermarkt anbieten.“ Zuckerhaltige Getränke oder Joghurt sind nur ein Beispiel dafür.
Der Ernährungswissenschaftler rät „Kalorien da wegzulassen, wo es nicht weh tut.“ Konkret: Hier und da auf Butter verzichten, die Soße beim Kantinenessen weglassen, nur zwei statt vier Kartoffeln essen. Durch die Reduktion der tagtäglichen Kalorien werde viel mehr gewonnen also durch eine klassische Diät.
Gesamtgesellschaftliches Problem
Bringen wir uns also durch Faulheit und zu großen Genuss um unsere eigene Leistungsfähigkeit?
So einfach darf man es sich nicht machen, findet Mediziner Matthias Riedl: „Übergewicht ist keine Privatangelegenheit, wie es die Krankenkassen gerne einstufen. Bedenkt man, dass 80 Prozent aller Krankheiten adipositasassoziiert sind, wird klar, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt.“
Damit kommen Unternehmen nicht darum herum, selbst etwas für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu tun. Ein ausgewogenes Kantinenessen, Sportangebote und ausreichend Zeit für Bewegung während des Arbeitstages sind ein Anfang. Spannend sind auch Ansätze aus Skandinavien. In Schweden bieten Arbeitgeber ihren Mitarbeitern immer wieder Fitnessverträge im Arbeitsvertrag mit an. Und wer sich regelmäßig an sportlichen Aktivitäten beteiligt, kann zum Teil sogar einen Bonus erhalten.