Europäischer Erfinderpreis Dem Tuberkuloseerreger den Saft abdrehen

Multiresistente Erreger sind eines der Hauptprobleme beim Kampf gegen die Tuberkulose. Der Belgier Koen Andries hat ein völlig neues Medikament entwickelt, mit dem diese Bakterien attackiert werden können.

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Koen Andries: „Mit 18 dachte ich, Tierarzt wäre bestimmt ein toller Beruf, aber ich hab schon im Studium gemerkt, dass ich mich mehr für die Forschung begeistere.“

Köln Wenn Koen Andries nicht im Labor steht, findet man ihn vielleicht auf der Ostsee. Gerade erst war er wieder da, um zusammen mit einem Freund vor Rügen Lachse zu fangen. Bei nichts sonst könne er so gut abschalten, verrät er. „Wenn Sie von einem Boot aus fischen, müssen Sie völlig bei der Sache sein, sonst kann es schnell mal gefährlich werden“, sagt Andries.

Alltag und Arbeit müssen also an Land bleiben. Dann lacht er: „Aber irgendwie ist es mit dem Fischen ja doch wie mit der Suche nach neuen Wirkstoffen: Für beides brauchen Sie Geduld, Glück und eine gute Strategie.“

Andries brachte für seine berufliche Laufbahn offensichtlich alle drei Faktoren mit. Denn ihm ist mit seinem Team bei Janssen in Antwerpen gelungen, worauf die Welt beinahe ein halbes Jahrhundert lang warten musste: Die Entwicklung eines völlig neuen Medikaments zur Behandlung der Tuberkulose. Das hat ihm jetzt die Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2014 eingebracht.

Die Krankheit, früher als Schwindsucht bekannt, wird durch Mycobacterium tuberculosis verursacht, seltener durch andere Mycobacterium-Vertreter. Es befällt beim Menschen am häufigsten die Lunge. Zwar ist Tuberkulose in Mitteleuropa selten geworden, doch weltweit stecken sich jedes Jahr mehr als 8 Millionen Menschen mit dem Erreger an. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben allein im Jahr 2012 etwa 1,3 Millionen Menschen an der Infektionskrankheit.

Das größte Problem: Weltweit sind multiresistente Tuberkulose-Erreger auf dem Vormarsch 2012 machten sie rund 500.000 aller Neuinfektionen aus. Besonders betroffen sind einige Teile Osteuropas und Zentralasiens. Gängige Medikamente sind gegen diese Keime machtlos, die Suche nach neuen Wirkstoffen ist entsprechend dringlich.

Dass er mit seiner Arbeit einmal Hoffnungsträger so vieler Menschen werden würde, hätte Andries zu Beginn seiner Laufbahn sicher nicht erwartet. „Mit 18 dachte ich, Tierarzt wäre bestimmt ein toller Beruf, aber ich hab schon im Studium gemerkt, dass ich mich mehr für die Forschung begeistere“, erzählt er. Nach seinem Abschluss forschte er daher einige Jahre an Schweine-Viren. Aber auch das brachte nicht die erhoffte Zufriedenheit. „Das Forschungsfeld interessierte kaum einen, und außerdem sah ich keine Chance, an der Universität eine stabile Karriere aufzubauen.“


„Ich hatte keine Ahnung“

Der Veterinärmediziner versuchte sein Glück in der Pharmaindustrie und bewarb sich auf eine Forschungsstelle bei Janssen. Im Bewerbungsverfahren fragte ihn Firmengründer Paul Janssen, ob er glaube, dass antivirale Substanzen für die Medizin der Zukunft von Bedeutung sein könnten. „Ich hatte keine Ahnung und habe das auch so gesagt. Und dass ich es alles dransetzen möchte, ihnen zur Bedeutung zu verhelfen.“

Vielleicht war es die erfrischende Ehrlichkeit des jungen Mannes, die das Unternehmen schließlich dazu bewog, ihn einzustellen. Vielleicht überzeugte aber auch sein Mut Neues zu wagen, der in der Antwort mitschwang. Andries bekam die Stelle und war in den folgenden Jahren maßgeblich an der Entwicklung antiviraler Medikamente beteiligt, unter anderem zur HIV-Therapie.

Dann wartete erneut eine Herausforderung, bei der seine Flexibilität und sein Forschergeist gefragt waren. Man übertrug Andries eine Position in der mikrobiologischen Forschung und die Aufgabe, die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs gegen Tuberkulose voranzutreiben. „Ich hatte bis dahin noch nie mit Bakterien gearbeitet“, verrät Andries. Ganz fremd sei ihm das Feld aber nicht gewesen. Schließlich lehrte er an der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Antwerpen neben Virologie und Immunologie auch Bakteriologie.

Einige vielversprechende Substanzen waren bereits gefunden, als Andries seine neue Aufgabe übernahm, allesamt Chinolin-Derivate – Abkömmlinge einer Chemikalie, die in Chinarindenbäumen vorkommen und in geringen Mengen bei der Verarbeitung von Steinkohle entstehen. Darunter befand sich ein Stoff mit der Nummer R207910, das heutige Bedaquilin. Doch das Projekt stagnierte. Die Wirksamkeit ließ sich nicht klar nachweisen, der Wirkmechanismus war unbekannt und mit den Chemikalien, die kaum wasserlöslich sind, ließ sich auch nur schwer arbeiten.

„Mich persönlich interessiert hauptsächlich, ob ein Medikament hilft, aber um eine neue Substanz zulassen zu können, müssen wir auch wissen, wie sie wirkt“, sagt Andries. Er fand einen Weg, die Chemikalien besser in Flüssigkeiten zu lösen, um sie so leichter verabreichen zu können und bewies 2005 ihre Wirksamkeit in Mäusen.


Keine gravierenden Nebenwirkungen zu befürchten

Und er klärte den Wirkmechanismus auf: Bedaquilin greift in den Stoffwechsel der Bakterien ein und dreht ihnen quasi den Saft ab. Genauer gesagt, attackiert es die so genannte ATP-Synthase, ein Enzym, das alle Tiere, Bakterien und Pflanzen besitzen, und das den wichtigsten Energieträger lebender Organismus produziert, ATP (Adenosintriphosphat). Ohne diesen Stoff kann kein Organismus überdauern.

„Wenn wir den Tuberkulose-Erreger in der Kulturschale dem Bedaquilin aussetzen, sieht es zunächst so aus, als ob das Bakterium in Schockstarre fällt“, erklärt Andries. „Es ist gerade so, als ob es merkt, dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmt, und alle Prozesse herunterfährt, die Energie verbrauchen.“ Der Erreger hört zum Beispiel auf, sich zu vermehren. Schließlich, wenn dem Mycobakterium die Energie ausgeht, stirbt es.

Bedaquilin ist das erste Antibiotikum überhaupt, das einen Erreger an dieser empfindlichen Stelle attackiert. Als Wirkstoff gegen Tuberkulose funktioniert es, weil sich die menschliche ATP-Synthetase von der des Bakteriums unterscheidet. Bedaquilin stört den menschlichen Energieproduzenten daher nicht. „Wir müssen deshalb keine gravierende Nebenwirkungen befürchten“, sagt Andries. Vor Resistenzentwicklung müsse man jedoch grundsätzlich auf der Hut sein, verrät er. Daher sei immer eine Kombinationstherapie mit mehreren Wirkstoffen angeraten.

Ende 2012 wurde Bedaquilin als Tuberkulose-Medikament in den USA zugelassen, im Frühjahr 2014 auch in Europa. Zunächst dürfen allerdings nur Patienten behandelt werden, die mit multiresistenten Erregern infiziert sind, und bei denen die herkömmliche Kombinationstherapie keinen Erfolg verspricht.

„Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn die eigene Arbeit solche Früchte trägt“, schwärmt Andries. „Das ist doch der Traum eines jeden Wissenschaftlers, etwas zu bewegen und Spuren zu hinterlassen.“ Auf seinen Lorbeeren ausruhen will sich der Belgier sich indes noch lange nicht. Jetzt gelte es, den Wirkstoff noch eingehender zu prüfen und seine Zulassung weiter voranzutreiben – damit er irgendwann allen Tuberkulose-Patienten zur Verfügung steht.

Außerdem hofft er auf völlig neue Wirkstoffkombinationen. Indische Forscher haben ebenfalls eine neue Substanz gegen Tuberkulose in der Pipeline. Sollte diese sich in der Kombination mit Bedaquilin bewähren, hätten Mediziner im Kampf gegen die Infektionskrankheit eine noch schärfere Waffe in der Hand.

Und ganz nebenbei hat der Forscher schon ein weiteres Bakterium im Visier, dem er an den Energiestoffwechsel will: Mycobacterium leprae, der Erreger der Lepra. Gegen diesen Mycobacerium-Vertreter ist Bedaquilin nämlich ebenfalls aktiv.

Seine größte Hoffnung ist aber, dass der Erfolg seines Teams Schule macht. „Ich wünsche mir, dass künftig noch mehr Wissenschaftler und Unternehmen bereit sind, viel Arbeit, Zeit und Geld in die Entwicklung neuer Wirkstoffe zu stecken – auch wenn sich die Investition rein ökonomisch gesehen vielleicht nie bezahlt macht“, sagt Andries. Denn dann, so glaubt er, hätte die Menschheit wirklich etwas gewonnen.

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