Urban Mining Geld in den Wänden

Die Stadt ist die Mine der Zukunft. Denn was passiert mit den Rohstoffen, wenn ein Haus abgerissen wird? Im Idealfall entstehen neue Häuser daraus.

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Die Luft schmeckt nach Staub, es knirscht und kracht. Zwischendurch hört man, wie sich Männer irgendetwas zubrüllen. Für die Bewohner der Darnautgasse in Wien, die dem Treiben neugierig zusehen, ist es ein Ereignis. Für die Männer des Unternehmens, das hier gerade ein Haus dem Erdboden gleichmacht, ist es Alltag. Es ist ihr Job, Gebäude abzureißen.

Bevor sie mit ihren Baggern und Kränen angerollt sind, stand in der Darnautgasse 10, im zwölften Wiener Bezirk, 61 Jahre lang ein Gemeindebau. Klassische Nachkriegsarchitektur, groß, grau, wenig Charme.

Die klobigen Häuser bezeugen die Bemühungen der Stadtregierung, nach dem Zweiten Weltkrieg in kurzer Zeit viel leistbaren Wohnraum aus dem Boden zu stampfen.

Eine halbe Million Menschen, ein Viertel der gesamten Wiener Stadtbevölkerung, lebt in den Gemeindebauten. Viele verbringen ihr ganzes Leben in einer der geförderten Wohnungen. In der Darnautgasse 10 gab es 88 Wohneinheiten, verteilt auf fünf Stiegen.

Nun umgreifen die Klauen eines Baggers eine Wand mit rosafarbener Tapete. Die Greifer schließen sich, Ziegel zerbröseln, die rosa Wand fällt zusammen.

Der Haufen Geröll, der am Ende übrig bleibt, hätte vor einigen Jahren noch als Abfall gegolten. Mittlerweile sehen Architekten, Rohstoffexperten und Stadtplaner in ihm einen Schatz, aus dem sich neue Häuser bauen lassen – und aus dem künftig immer mehr Häuser entstehen müssen, denn die Rohstoffvorräte der Erde sind begrenzt. Der Report „Global Construction 2025“ schätzt, dass sich die weltweiten Ausgaben für Bauprojekte in den nächsten zehn Jahren um 70 Prozent erhöhen werden – und dann gigantische 15 Trillionen Dollar betragen sollen.

Die Idee, alte Baustoffe wieder zu nutzen, ist unter Experten als Urban Mining schon seit einigen Jahren bekannt. Doch lässt sie sich wirklich umsetzen?

Eine Spurensuche in Wien.

Stadtplan für RohstoffeIn der Darnautgasse steht Fritz Kleemann in einigem Abstand auf dem Gehsteig und sieht dem Bagger bei der Arbeit zu. Kurz vorher hat der 31-Jährige mit dem blonden Schopf noch Maßband und Hammer durch die Räume getragen. Akribisch hat er die Einzelteile des Hauses vermessen.

„Aus Sicht des Ressourcenmanagements ist es interessant zu wissen, welche Rohstoffe und welche Mengen davon in der Stadt lagern“, sagt Kleemann. Sicher ist derzeit nur: Es sind gigantische Mengen. Wer künftig auf diese Rohstoffe zugreifen will, muss wissen, wo sie liegen.

Kleemann arbeitet seit mehr als zwei Jahren am Christian Doppler Labor für anthropogene Ressourcen der Technischen Universität Wien. Anthropogene Ressourcen sind all jene Stoffe, die sich im menschlichen Gebrauch befinden. Die Forscher dort befassen sich mit Baumaterialien aus Gebäuden und Infrastruktur wie Straßen, Brücken und Telefonmasten –und damit auch mit Fragen, wo und in welcher Menge in Österreich Aluminium verteilt ist.

Kleemann ist zuständig für eine Fallstudie, die „Ressourcenpotenzial gebauter Infrastruktur“ sichtet. Was nichts anderes bedeutet als herauszufinden, wie groß die urbanen Minen sind. Dafür haben sich die Forscher vom Doppler Labor bisher 14 repräsentative Gebäude in Wien aus verschiedenen Perioden angesehen: Wohnhäuser, Geschäftslokale, Industriewerke.

Sie wollen genau wissen, wie gebaut wurde und welche Baustoffe die Architekten in welcher Periode verwendeten. Man kann sagen: Jeder Ziegel, jeder Meter Draht, jede Dachrinne und jedes Stück Laminatfußboden aus diesen Gebäuden landet in Kleemanns Excel-Tabelle. Am Ende wollen die Forscher hochrechnen, welche Materialien in Wiens Gebäuden verbaut sind, um sie zurückgewinnen zu können.

Erste, grobe Zahlen zu den Schätzen, die in der Stadt lagern, liefert das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft in Österreich: Durchschnittlich kommen auf einen Bewohner Wiens ungefähr 4.500 Kilogramm Eisen, 340 Kilogramm Aluminium, 200 Kilogramm Kupfer, 40 Kilogramm Zink und 2010 Kilogramm Blei.

Österreich ist ein Land, das der letzten Silbe seines Namens alle Ehre macht, zumindest, wenn es um Rohstoffe geht. Es ist das Land der Berge, das lernt jedes Kind mit der Nationalhymne. Wer Berge hat, braucht sich über Baumaterialien keine Gedanken zu machen. Kupfer aus Salzburg, Blei und Eisen aus Kärnten – Abbau und Handel garantierten schon in der Vorzeit den Wohlstand.

Auch heute noch kommen aus dem Alpenland beträchtliche Mengen an Baurohstoffen wie Kies, Sand und Granit – insgesamt etwa 110 Millionen Tonnen jährlich sind es. Das entspricht dem Gewicht von knapp 16.000 Eiffeltürmen.

Was nach dem Krieg aus der Not entstanden ist, könnte heute zu einem Wachstumsfaktor für die Wirtschaft werden. Urban Mining gewinnt für Unternehmen und Länder immer mehr an Attraktivität.

Auch in Deutschland. Bis zu 15 Millionen Tonnen Stahl, eine Million Tonnen Kupfer und eine halbe Million Tonnen Aluminium wandern in der Bundesrepublik jährlich in Kabel, Rohre und Träger. In den deutschen Gebäuden sind Metalle mit einem Schrottwert von rund 180 Milliarden Euro verbaut. Die jährlichen Abrisse setzen also Bestände mit einem beträchtlichen Wert frei.

Allein Deutschland verbaut jährlich über 550 Millionen Tonnen mineralischer Rohstoffe. Das spiegelt sich auch in der Abfallbilanz. Der Bausektor ist der mit Abstand größte Müllproduzent: Rund 52 Prozent des Mülls in Deutschland sind Bau- und Abbruchabfälle.

Das hat Folgen: Die Deponien in Deutschland sind voll mit Bauschutt. Neue zu erschließen, das ist teuer und raubt Platz.

Die letzte Ruhestätte kostetIm Zuge ihrer Recherchen haben die Forscher aus dem Doppler Labor schnell erkannt: Aus Recyclingsicht wurde früher oft viel effizienter gebaut, weil nicht wie heute verklebte Stoffe benutzt wurden, die schwer wieder zu trennen sind.

70 Jahre nach Ende des Krieges sind wieder genug Baustoffe verfügbar. Und es gibt vor allem viele unterschiedliche.

Architekten müssen zwischen Kosten, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit abwägen. Wer etwa eine Dämmschicht auf die Hausmauer klebt, muss zwar weniger heizen. Wird das Gebäude aber einmal abgerissen, ist es kaum noch möglich, die Dämmschicht und die darunter liegenden Ziegel voneinander zu trennen und zu recyceln.

Das Gebäude in der Darnautgasse ist ein alter und somit recht einfacher Bau. Ziegel, Beton und Mörtel sind die wichtigsten Materialien, auch Metall und Holz sind darin verbaut. Dennoch musste ein Trupp aus Handwerkern erst einmal Böden, Sperrgut und teilweise Holz aus dem Haus entfernen. Anders hätte das Abbruchunternehmen das Material kaum trennen können. Erst danach konnte der Baggerfahrer mit den Grobarbeiten beginnen.

Dass der Wert urbaner Rohstoffe steigt, erkennt man daran, dass die Handwerker für manche Materialien schlicht zu spät kommen. Kupfer findet sich in kaum einem Abbruchhaus mehr – es wird oft noch vor dem Abriss aus dem leeren Gebäude gestohlen.

Aber es bestehen weitere Faktoren, die einer höheren Recyclingquote im Weg stehen: Österreich ist so reich an Baustoffen, dass neue Materialien oft nur wenig teurer oder gar billiger als recycelte Baustoffe sind.

Das Unternehmen Zöchling, das die Abbrucharbeiten an der Darnautgasse durchführt, will den Schutt dennoch wieder in den Rohstoffkreislauf einspeisen. Allerdings nicht, weil sich mit den Recyclingmaterialien viel Geld verdienen ließe.

Die Bauabfälle auf einer Deponie zu entsorgen, ist so teuer, dass die Wiederverwertung das Unternehmen deutlich billiger kommt. „Deponiere ich das Material direkt, kostet mich das für Baurestmasse 9,20 Euro pro Tonne. Die Recyclierung kostet die Hälfte“, rechnet Günter Sandhacker vor, der als Projektleiter den Abriss verantwortet. Für ihn als Unternehmer zahle sich das absolut aus. „Außerdem bräuchte ich alle fünf Jahre eine neue Deponie, wenn die alte voll ist.“

Da komme der Trend wie gerufen, meint Sandhacker, dass gerade in Großstädten wie Wien immer häufiger auf recycelte Materialien zurückgegriffen werde, vor allem beim Straßenbau. Angesichts wachsender Städte werde Urban Mining aus Gebäuden noch an Bedeutung gewinnen.

"Wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, sollten wir die Rohstoffe nutzen, von denen wir umgeben sind"

Brigitte Kranner ist ohnehin der Meinung, dass sich der Umgang mit Rohstoffen ändern muss, genau wie ihre Verwertung im Bausektor: „Ich glaube, dass es einen Rohstoffpass für Gebäude geben wird, der festhält, wie viel von welchem Stoff verwendet wurde.“

Auch für sie steht fest, dass Städte die Rohstoff-Minen der Zukunft sind: „Wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, sollten wir die Rohstoffe nutzen, von denen wir umgeben sind, statt immer neue abzubauen.“

Nach Angaben der Vereinten Nationen (VN) geht über die Hälfte des Rohstoffverbrauchs in Europa auf das Konto der Baubranche. Aber erst jenseits von Österreich oder Deutschland wird das gewaltige Potenzial von Urban Mining erst richtig offenkundig. Länder wie Indien oder China wollen denselben Lebensstandard, der in Mitteleuropa herrscht, und benötigen dafür immer mehr Rohstoffe.

Bauen für die EwigkeitWie viele Jahre wird das Haus stehen, das Willi Frötscher plant? Der Architekt zögert. Auch nach längerem Überlegen findet er keine Antwort. Frötscher soll den leeren Platz an der Darnautgasse 10 wieder in einen Wohnort verwandeln. Der Vorschlag des Wiener Architekturbüros Froetscher Lichtenwagner ging als Sieger aus dem Bebauungswettbewerb hervor. Es soll wieder ein sozialer Wohnbau werden.

Die Frage, wie lange ein Wohnhaus seinen Zweck erfüllt, scheint Unbehagen auszulösen – nicht nur bei Frötscher, auch bei anderen Architekten und Bauträgern. Sie glauben, dass sie Häuser für die Ewigkeit bauen.

„Man muss das Ganze vom Ende her betrachten“, meint hingegen Annette Hillebrandt von der Bergischen Universität Wuppertal. Die Architektin mit Büro in Köln erforscht seit Jahren, wie man mit Blick auf Urban Mining sinnvoll designen und bauen kann.

Im Mittelpunkt steht eine „recyclinggerechte Planung für ein Bauen in geschlossenen Stoffkreisläufen“. Oder anders formuliert: Wie lässt sich heute so planen, dass Gebäude später effizient, schnell und restlos in wiederverwendbare Bestandteile und Materialien übergehen?

"Man muss jetzt beginnen, recyclingfähig zu planen"

„Künftig wird es ein großer ökonomischer Vorteil sein, wenn man weiß, welche Rohstoffe in den Städten gebunden sind. Doch man muss schon jetzt damit beginnen, recyclingfähig zu planen“, findet Hillebrandt.

Eine entscheidende Rolle nimmt die Industrie ein: Während Gebäude Anfang des vergangenen Jahrhunderts noch aus einer überschaubaren Anzahl meist regionaler, sortenreiner Materialien errichtet wurden, haben mittlerweile synthetische Materialien und Verbundstoffe an Bedeutung gewonnen.

Anzahl der Häuser in Wien nach Erbauungszeitraum (Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2013)

„Diese Materialien lassen sich oft nicht wiederverwerten, nicht einmal Downcycling ist möglich“, sagt Hillebrandt. Vor allem die in der Wärmedämmung eingesetzten verklebten Verbundsysteme würden in absehbarer Zukunft zu einem Sondermüllproblem heranwachsen.

Daher spricht sich Hillebrandt für das Verursacherprinzip aus: „Der Hersteller soll die Verantwortung dafür tragen, dass es für seine Materialien eine Recyclingstrategie gibt. Es gibt vorbildliche Unternehmen in den Niederlanden, die das schon umsetzen, indem sie ihre Produkte auf Zeit vermieten und auch wieder zurücknehmen.“

Ein weiteres Modell wäre eine Art Rückbau-Hypothek. Diese müsste bereits vor dem Bau hinterlegt werden und könnte sicherstellen, dass Rückbaukosten nicht beim Steuerzahler landeten. Sollte beim Abriss des Gebäudes eine effektive und kostengünstigere Rückführung entstehen als beim Bau erwartet, erhielten die Bauherren das übrige Geld zurück.

Das sei laut Hillebrandt auch deshalb wichtig, weil die Baubranche zunehmend als Investitionssektor wahrgenommen werde. Die Investoren wollten aber in kurzer Zeit viel Gewinn machen. Dies sei nur möglich, wenn billigere Materialien verbaut würden. Die Investition solle sich möglichst schnell amortisieren, was danach passiert, interessiere die Anleger nicht.

Eine Frage des GeldesAls Mitglied einer Expertengruppe der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, DGNB, entwickelt Hillebrandt Kriterien, um die „Rückbau- und Recyclingfreundlichkeit“ von Gebäuden bewerten zu können.

Denn obwohl die Mineralbaustoff-Branche sich damit brüstet, 90 Prozent des anfallenden Baumülls wiederzuverwerten, sieht Hillebrandt Mängel: „Der Anteil ist nur möglich, wenn man Downcycling betreibt. Ein neuer Ziegelstein kann aus Qualitätsgründen nur aus maximal 10 bis 20 Prozent recyceltem Ziegelmehl bestehen.“

Die übrigen Alt-Ziegel könne man nur noch als Wegesplitt verwenden. „Das ist eine Abwertung“, konstatiert Hillebrandt. In Zukunft sollten Materialien auf derselben Qualitätsstufe einsetzbar sein, also wieder in Gebäuden genutzt werden können.

Auch Hillebrandt kritisiert den Einsatz der verklebten Produkte, die sich nicht recyceln lassen. „Konstruktionen, die man stecken oder zusammenschrauben kann, sollten den Vorzug bekommen“, sagt sie.

Ein Positivbeispiel ist etwa der Holzmassivbau, wie er in der Region Vorarlberg zu finden ist. Diese Bauweise setzt nicht nur auf sortenreine Materialien, sie sind auch ökologisch abbaubar. Eine weitere Alternative ist der Skelettbau, bei dem vor allem mit Stahl und Glas gebaut wird. Ein solcher Bau ist das Rohstofflager der Zukunft, da diese Materialien voraussichtlich sogar noch an Wert gewinnen.

Beim geplanten Wohnbau in der Darnautgasse müsste sich Architekt Frötscher nun eigentlich mit der Auswahl von rückbaubaren Materialien befassen. Doch „der Sozialbau kämpft mit beschränkten Mitteln. Wir müssen Prioritäten setzen“, sagt Frötscher. Die räumliche und atmosphärische Qualität stehe an oberster Stelle – noch vor der Frage nach den eingesetzten Materialien.

Auch die Bauherren seien mit „Beschränkungen“ konfrontiert, erklärt Patrick Walk von der Wohnungsgenossenschaft eisenhof, die für den Neubau in der Darnautgasse verantwortlich ist. Er schiebt die Verantwortung der Industrie zu: „Die Hersteller geben uns zurzeit gar keine Auswahl. Grundlegende Änderungen können nur aus der Branche kommen. Sie müsste Alternativen anbieten.“

Klar ist: Für einen nachhaltigen Rohstoffkreislauf muss man schon während der Gebäudeplanung den Abriss einkalkulieren. Architekten, Bauträger und Industrie werden also zusammenarbeiten müssen, damit Urban Mining von einer Idee zur Realität wird.

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Dieser Text entstand im Rahmen des Journalisten-Stipendiums Nachhaltige Wirtschaft. Alle Informationen zum Stipendium erhalten Sie unter diesem Link.

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