Frau Hennig, wie kam die Idee für Ihr Experiment, vier Wochen vegan zu leben?
Ich bin nicht von jetzt auf gleich zur Veganerin geworden, sondern in drei Phasen. Zuerst wurde ich von der Fleischesserin zur Vegetarierin. Auslöser war ein Blind Date in München: Ein Frühstück in einer Bierschwemme, dem "Weissen Bräuhaus", mit traditioneller Kronfleischküche. Da gab es sowas wie Milz, Magen, Lunge, Niere, Leber...
Ein interessantes Frühstück.
Ja, aber diese Teile des Tieres sind auch Fleisch und sollten verwertet werden. Es kann auch sehr gut schmecken, wenn man es gut zubereitet. Dadurch, dass wir meist nur noch abstrakte Fleischstücke in der Theke liegen sehen oder Fertiggerichte essen, haben wir überhaupt kein Verhältnis mehr dazu, woher unser Fleisch eigentlich kommt. Ein Beispiel: Wenn man in Frankreich in ein Lebensmittelgeschäft geht, liegen dort die Poularden und abgezogenen Hasen - das ist in Deutschland für die meisten Verbraucher undenkbar.
Bettina Hennig ist Journalistin, promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin. In ihrem Buch "Ich bin dann mal vegan!" beschreibt sie ihren persönlichen Weg zu einem veganen Leben. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin gibt sie auch Schulungen und Seminare zu ihren Forschungsschwerpunkten Boulevard- und Klatschjournalismus.
Nun gab es also die geballte Ladung Innereien beim Date zum Frühstück.
Als ich die Speisekarte las, wurde mir schon gleich etwas komisch, obwohl ich bis dahin gerne Fleisch gegessen hatte - auch Innereien. Und dann fing der Mann, der mir sehr kultiviert erschienen war, an, total widerlich zu essen. Er hatte wirklich überhaupt keine Tischmanieren, da sammelte sich regelrecht der Schaum in den Mundwinkeln. Ich habe ihn nur angestarrt und da hat es plötzlich Klick gemacht. Mir wurde klar: Fleisch kann ich nicht mehr essen, man isst da ja etwas Totes. Totes Tier. Ich musste losrennen und mich übergeben.
Das war die erste Phase. Was passierte in Phase zwei?
Ich las das Buch von Jonathan Safran Foer. In seinem Buch "Tiere essen" beschreibt der amerikanische Autor Massentierhaltung, Fischfang und deren Folgen. Das machte mir die zerstörerischen Auswirkungen des Fischfangs bewusst. Es ist ein sehr emotionaler Grund: Ich liebe Seepferdchen, und durch dieses Buch erfuhr ich, dass die Schleppnetze nicht nur den Meeresgrund planieren, sondern auch Schuld an der Ausrottung vieler Seepferdchen-Arten sind. Das fand ich so furchtbar, dass ich beschloss, ich kann auch keinen Fisch mehr essen. Manche Menschen essen keinen Thunfisch, weil ihnen die Delfine leid tun - bei mir sind es eben die Seepferdchen.
Veganismus
Das Wort „vegan“ geht auf den Engländer Donald Watson zurück, der bereits 1944 „Vegan Society“ als Abspaltung der englischen Vegetarier-Gesellschaft gründete. Watson leitete den Begriff des Vegetariers nicht vom lateinischen „vegetus“ („lebendig, frisch, kraftvoll“) ab, sondern vom englischen „vegetable“ („Gemüse“, „pflanzlich“).
Seitdem hat die Ernährungsform erst langsam und in den vergangenen Jahren immer schneller einen Siegeszug hingelegt. Inzwischen gibt es jene Verbraucher, die dem Veganismus voll verschrieben sind. Sie empfinden ihn als Lebensphilosophie, die viel weiter geht als nur die Ernährung. In einer Schrift der „Vegan Society“ hieß es bereits 1979: „Es geht darum, so weit wie möglich und praktisch durchführbar, alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden und darüber hinaus die Entwicklung tierfreier Alternativen zu fördern.“
Entsprechend war der Veganismus in Deutschland anfangs stark mit der Hippie-Bewegung und der damit verbundenen politischen Haltung verbunden. Aus diesem politischen Becken haben sich die Veganen jedoch längst frei geschwommen. Inzwischen greifen auch immer mehr Menschen aus gesundheitlichen Gründen – oder einfach weil es schmeckt – zu tierfreien Produkten. Häufiger werdende Lebensmittelskandale haben das Bewusstsein der Verbraucher zusätzlich geschärft.
Damit kommen wir zu Phase drei, wie Sie den Veganismus für sich entdeckten.
Das dritte Schlüsselerlebnis war, dass ich durch meine Arbeit als Journalistin im Jahr 2000 Attila Hildmann kennenlernte, der damals mit seinen Kochbüchern "Vegan for Fit" und "Vegan for Fun" die Bestsellerlisten beherrschte. In "Vegan for Fit" beschreibt er eine 30-Tage-Herausforderung, bei der man einfach mal 30 Tage vegan essen soll. Bei unserem Treffen begeisterte er mich durch seine freundliche, kluge und besonnene Art. Und ich dachte mir: Warum nicht? Probierst du es einfach mal aus, es ist ja keine Lebensentscheidung.
Ist Ihnen der Verzicht auf tierische Produkte anfangs schwer gefallen?
Ich bin im Hochschwarzwald aufgewachsen, wo man sehr gut kocht, daher kann ich auch selbst gut kochen. Dann ist einem das, was Attila Hildmann in seinen Büchern erklärt, auch nicht so fern. Seine Rezepte waren mir anfangs aber zu kompliziert. Ich habe einfach erstmal Milch, Eier und Honig weggelassen, geschaut wie es so läuft - und fand es erstaunlich einfach. Es war ja alles ganz spontan und nicht so bewusst, ich bin dann halt mal vegan... Rückblickend muss ich sagen: Das war die beste Entscheidung meines Lebens.
Nach den vier Wochen Experiment sind Sie Veganerin geblieben - und sind es immer noch?
Ich bin dabei geblieben - und es beschränkt sich nicht mehr nur aufs Essen, sondern hat sich auf meine ganze Lebensführung ausgewirkt. Ich war früher Lifestyle-Redakteurin. Sie können sich vorstellen, wie man da so rumläuft - ich bin ja sogar mit einem Leder-Top zum Gespräch mit Attila gegangen. Inzwischen habe ich meine ganzen Ledersachen, teuren Leder-Designer-Taschen und was man sonst so hat, auf Ebay verkauft. Meine Daunen-Bettwäsche habe ich ausgetauscht. Ich kaufe mir auch keine neuen Lederschuhe mehr, sondern trage die anderen nun endlich mal auf, anstatt ständig etwas Neues zu kaufen. Ich achte im Alltag darauf, dass ich möglichst Dinge verwende, die nichts mit toten Tieren zu tun haben. Wenn man einmal angefangen hat, gewisse Dinge wegzulassen, ist der nächste Schritt nicht mehr so schwierig. Ich bin in zwei Tierschutzorganisationen eingetreten und mache Aufklärungsarbeit in Fußgängerzonen - es ist ein kompletter Wandel meines Lebenswandels geworden. Mein Freund sagt mir aber, wenn ich zu radikal werde.
Genussfeindlich, teuer, zeitraubend - die größten Veganer-Mythen
Viele Menschen verbinden vegane Ernährung vor allem mit Verzicht, sind von aufwändigen, zeitraubenden Rezepten abgeschreckt. Wie war das bei Ihnen?
Ich habe den Vorteil, dass ich gut kochen kann. Attilas Rezepte fand ich zuerst auch zu kompliziert - mittlerweile habe ich das Buch von vorn bis hinten durchgekocht. Ich bin auch kein Mensch, der länger als zehn oder zwölf Minuten in der Küche stehen mag. Ich war lange in Asien unterwegs und habe mir in der Anfangszeit vor allem viel Reis und Gemüsepfannen gemacht oder Salate gegessen. Ich arbeite überhaupt nicht mit Tofu oder anderen Ersatzprodukten. Man kann so viel machen, wenn man einfach mal mit offenen Augen durch die Gemüseabteilung im Supermarkt geht. Vegane Ernährung an sich ist überhaupt nicht kompliziert - das Problem für viele Menschen ist natürlich, dass sie nicht gelernt haben, zu kochen!
Alternative Ernährungsformen
Flexitarier sind Menschen, die gesundheitsbewusst leben und sich auch so ernähren. Für sie gibt es nicht unbedingt grundsätzliche Bedenken, Fleisch zu konsumieren. Das kommt bei Flexitariern nämlich durchaus auf den Teller - aber nur selten. Und wenn, dann stammt das Tier meist aus artgerechter Bio-Haltung, wenn möglich aus der näheren Umgebung. Flexitarier sind nämlich oft unter den sogenannten Lohas* zu finden. Neben dem Wissen, dass eine einseitig fleischlastige Ernährung für den modernen Stadtmenschen ungesund ist (und manchmal auch der zelebrierten Vorfreude auf den Sonntagsbraten als etwas Besonderem!) sind sich Flexitarier auch der Umweltschädlichkeit extensiven Fleischkonsums bewusst.
*Menschen, die einen gesundheitsbewussten und nachhaltigen Lebensstil pflegen (Lifestyle of Health and Sustainability)
Freeganer zeichnen sich weniger durch strenge Regeln der Form "Das darf ich essen - das darf ich nicht essen" aus, als durch den Willen, mit dem Ort ihres Nahrungsmittelbezugs ein Zeichen zu setzen. Freeganer gehen nicht in den Supermarkt, sondern dahinter. Sie holen sich ihr Essen aus dem Müll der Supermärkte und Discounter und setzen sich damit gegen die Wegwerfgesellschaft und Lebensmittelverschwendung ein.
Frutarier pflegen eine besonders strenge Form der pflanzenbasierten Ernährung. Die Ernte der von ihnen gewählten Pflanzen(-bestandteilen) darf den Gesamtorganismus der Pflanze weder beschädigen noch seinen Tod zur Folge haben. Manche Frutarier verzehren Äpfel beispielsweise nur als Fallobst. Knollen etwa (wie Kartoffeln) sind nicht erlaubt: Sie sind der Energiespeicher der Kartoffelpflanze und daher für sie auf Dauer lebenswichtig.
Lacto-Vegetarier nehmen keine Eier zu sich. Milchprodukte dürfen neben Lebensmitteln nicht-tierischen Ursprungs aber verzehrt werden.
Ovo-Lacto-Vegetarier praktizieren eine relativ weit verbreitete und im täglichen Leben eher unkomplizierte Form des Vegetarismus. Neben rein pflanzlichen Produkten wie Obst oder Gemüse nehmen Ovo-Lacto-Vegetarier auch Eier und Milchprodukte zu sich, also Lebensmittel, für deren Gewinnung keine Tiere geschlachtet werden müssen.
Keine Milchprodukte, aber Eier (und pflanzliche Speisen) dürfen Ovo-Vegetarier zu sich nehmen. Unter anderem eine Lösung etwa für Vegetarier, die kein moralisches Problem mit dem Verzehr von Eiern haben, aber an einer Lactose-Intoleranz leiden.
Pescetarier sind Menschen, deren Ernährungsplan Fisch (je nach Ausprägung auch Weichtiere, Milch und/oder Eier) und vegetarische Kost kombiniert. Pescetarismus ist oft, wie andere alternative Ernährungsformen auch, mit einem Unbehagen der Massentierhaltung gegenüber verbunden.
Vegane Ernährung bedeutet: Weder Fisch noch Fleisch, noch Eier oder Milchprodukte stehen auf dem Speiseplan. Stattdessen gibt es Obst und Gemüse. Für die Eiweißversorgung nutzen Veganer (wie viele andere Vegetarier übrigens auch) pflanzliche Proteine, enthalten etwa in Tofu (Sojaeiweiß) oder Seitan (Weizeneiweiß - Gluten). Strengen Veganern ist der Veganismus aber mehr als eine Ernährungsform: Sie lehnen die Nutzung von Tieren (und daher auch tierischer Produkte) ab. Das heißt für einen strengen Veganer: Neben den oben aufgezählten Produkten meidet er auch Honig und Wachsprodukte, Kosmetika mit tierischen Inhaltsstoffen sowie Leder. Wer streng vegan orientiert ist, kann im Supermarkt nicht einfach zu Fertig-Produkten greifen - oft verstecken sich in der langen Zutatenliste solcher Gerichte Milchpulver, Butterreinfett oder Hühnerei-Eiweißpulver. Ein strenger Veganer braucht daher ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und Akribie.
Was sagen Sie zu dem weitverbreiteten Glauben, Veganismus sei genussfeindlich?
Vegane Ernährung ist einfach anders. Ich mache mir dann halt eine zerquetschte Avocado aufs Brot oder mache meinen Bohnensalat mit Tomaten und Zwiebeln an. Da braucht man einfach Mut zum Experimentieren. Man isst bewusster, langsamer und konzentrierter. Man muss bei einer pflanzlichen Kost natürlich total viel kauen, vielleicht sind Veganer deshalb schlanker (lacht). Das bedeutet auch eine Entschleunigung und einen bewussten Genuss.
Exotische Gewürze, Kräuter oder Mandelmus - ein häufiges Gegenargument von Nicht-Veganern ist, dass vegane Ernährung so wahnsinnig teuer sei. Stimmt das Ihrer Erfahrung nach?
Absolut nicht. Ich schlage immer die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ich sowas höre. Manche Zutaten sind vielleicht teuer, nehmen wir etwa Mandelmus: Das Glas kostet zehn Euro. Aber drei oder vier Tiefkühlpizzen kosten auch zehn Euro. Und das Glas löffeln Sie ja nicht mit einem Mal leer, sondern geben ein bisschen davon zur Verfeinerung an die Speisen. Weil ich dieses Kosten-Argument sehr häufig gehört habe, habe ich über meine Lebensmittelausgaben auch mal Buch geführt: Ich gebe jetzt wesentlich weniger aus als früher. Wenn man auf Angebote und saisonale Gemüse achtet, kann man sehr gut sparen. Und die gleichen Leute, die sich darüber beschweren, dass vegane Ernährung so wahnsinnig teuer sein soll, treffe ich am Wochenende an der Tankstelle, wo sie sich mal eben für fünf Euro ein Fertiggericht kaufen.
Und was ist mit dem Vorwurf, dass Veganer ihre Mitmenschen für ihre Lebensweise missionieren wollen?
Sowas taucht oft in Internetforen auf, aber ich habe das Gefühl, dort benehmen sich sowieso alle schlecht. Ich möchte nicht missionieren, die Mühe mache ich mir gar nicht. Wenn jemand Fleisch essen will, soll er das tun. Die Verantwortung dafür liegt bei jedem selbst, und die kann ich anderen Menschen nicht abnehmen. Ich habe im Gegenteil oftmals eher das Gefühl, dass ich missioniert werden soll, wieder Fleisch zu essen.
In diesen Ländern leben die meisten Vegetarier und Veganer
Norwegen: 4 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Datenquelle: Statista
Niederlande: 4,5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Australien: 5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Schweiz: 5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Italien: 6,7 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Brasilien: 8 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Israel: 8,5 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Deutschland: 9 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Taiwan: 10 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Indien: 40 Prozent der Bevölkerung sind Vegetarier oder Veganer
Sie haben in Ihrem Buch ein Bullshit-Bingo zusammengestellt von Vorwürfen und typischen Fragen, mit denen man als Veganer immer wieder konfrontiert wird. Was war das Haarsträubendste?
Ich war in meinem Umfeld schon als Vegetarierin exotisch - und dann wurde ich auch noch Veganerin. Die erste Frage, die man da meist hört, ist: "Was darf man denn da überhaupt noch essen?" Da frage ich mich immer, liebe Leute, habt ihr so wenig Fantasie, so wenig Ahnung von Lebensmitteln? Das ist ja eine Katastrophe! Ich habe in meinem Buch von Artischocken, Avocado und Auberginen über Lupinen bis zu Zwetschgen und Zucchini eine Liste von bestimmt 200 Lebensmitteln erstellt, die man essen und auch toll kombinieren kann, ohne tot umzufallen. Und es schmeckt herrlich!
"Für Männer ist Fleischkonsum eine Potenzprojektion"
Ein beliebtes Totschlag-Argument immer wieder: "Pflanzen haben doch auch Gefühle!"
Oh Gott, ja. Nein, haben sie nicht, man kann sie bedenkenlos essen. Pflanzen haben kein zentrales Nervensystem. Im Gegensatz zu Menschen oder Tieren führen sie keine Partnerschaften, sie haben keine Sympathien, Antipathien oder Mitleid. Pflanzen können nicht lügen, Pflanzen können nicht hassen. Sie sind dafür gemacht, dass man sie isst.
Mein Lieblingsargument ist auch: "Der Mensch braucht Fleisch". Wenige sprechen mich auf Milch oder Eier an, aber: "Der Mensch braucht Fleisch", daran ziehen sich viele hoch. Es stimmt einfach nicht. Der Mensch ist von seinen Anlagen her sogar Frutarier, unser Gebiss und Verdauungssystem sind darauf eingestellt, Pflanzen zu verwerten. Fleisch ist optional, wir können es essen, fallen aber nicht um, wenn wir es nicht tun. Es gibt eigentlich keinen Grund, Fleisch zu essen, wenn man nicht gerade auf einer einsamen Insel oder in der Arktis bei den Inuit lebt.
Aber noch ein ganz anderer Spruch, der Vegetariern und Veganern gern entgegen geschleudert wird: "Hitler war auch Vegetarier." Ich weiß gar nicht, was mir das sagen soll! Es soll wohl sowas heißen wie "Hitler war ein schrecklicher Massenmörder, und in diese Richtung willst du auch gehen?" Das ist doch völlig absurd!
Fleischkonsum ist besonders bei Männern auch ein Statussymbol - wer das größte Steak verdrückt, wird bewundert. Können Sie das erklären?
Aus meiner Erfahrung würde ich sagen, dass das vor allem bei deutschen Männern so ist. Schaut man etwa nach Indien, sieht man: 40 Prozent der Menschen dort sind Vegetarier - auch Männer, und die sind gesund, groß gewachsen und so weiter. Ich glaube, das ist eine Potenzprojektion. Männer haben es heutzutage wirklich schwer. Viele befinden sich in einer Identitätskrise: Wer bin ich, wo gehöre ich hin, wie gehe ich vernünftig mit Frauen um - viele Männer sind da sehr verunsichert. Es gibt für sie nur noch wenige Refugien, in denen sie sich als Mann fühlen können. Selbst im Fußballstadion, wo sie früher noch ordentlich grölen konnten, sind jetzt immer mehr Frauen dabei und die wissen jetzt auch, was "Abseits" ist. Ich glaube, Fleisch ist für viele das letzte Ding, bei dem sie sich noch als Mann fühlen können. Sie fühlen sich so verbunden mit dem vermeintlichen Urvater, der in männlicher Runde das Wild erlegt hat.
Man hört immer wieder von Veganern, die bei Ärzten auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen. Mussten Sie sich auch gegen Vorwürfe wehren, Ihrem Körper eine Mangelernährung anzutun?
Zum Glück nicht. Ich habe von meinen Ärzten immer positive Reaktionen bekommen. Man sollte nicht nur als Veganer regelmäßig ein Blutbild machen lassen, ich mache das natürlich auch immer brav. Meine Ärzte hatten Tränen in den Augen vor Glück, als sie mein Blutbild gesehen haben. Ich rede ja nicht über mein Alter, aber mein Blutbild ist viel besser als das, was für mein Alter typisch ist - top Cholesterinwerte, super Vitamin-D-, B12- und Eisen-Werte. Die Nährstoffe finden Sie nicht in Fertigpizza, Burger, Fritten oder Chips, die sind eben in dem ganzen Gemüse, das ich esse. Das einzige, was ich über Nahrungsergänzungsmittel aufnehme, ist Vitamin B12. Meine Ärzte wollen mich am liebsten auf Kongresse mitnehmen und mich vorführen, um anderen Ärzten zu zeigen, dass es Veganern sehr gut gehen kann.
Könnten Sie sich vorstellen, irgendwann wieder Fleisch zu essen?
Nein. Es ist völlig absurd für mich, Fleisch zu essen, richtig eklig. Wenn ich jetzt an einer Fleischtheke vorbeigehe, kann ich gar nicht mehr abstrahieren. Ich sehe kein Filet, sondern ich sehe den toten, herausgetrennten Muskel. Ich finde es spannend, dass die meisten Menschen, die ja Fleischesser sind, das so verdrängen können.
Gibt es da vielleicht wirklich eine Art psychologischen Mechanismus, den Vegetarier und Veganer verloren haben?
Dazu hat die amerikanische Psychologin Melanie Joy, Autorin des Buchs "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen", etwas Interessantes geschrieben. Sie prägte den Begriff des "Karnismus", eine unsichtbare Ideologie, die in fleischessenden Kulturen verbreitet ist. Dieses dominierende Überzeugungssystem ermöglicht es den Menschen, Fleisch zu essen, weil ihnen eingeredet wird, es als normal, notwendig und natürlich anzusehen. Es hilft dabei, etwas das einen eigentlich berühren sollte - da stirbt ein Tier, und ich esse es - zu verdrängen. Die Gesellschaft fördert also, dass man von eigentlichen moralischen Werten wie: "Du sollst nicht töten" abrücken und sagen kann: "Tiere essen ist ganz normal". Vegetarier und Veganer machen diese Ideologie sichtbar, weil sie ihr nicht mehr unterliegen.