Transfrau Sarah Ungar „Das Doppelleben hat unheimlich Kraft gekostet“

Vor einem Jahr war sie bei Thyssen-Krupp noch „Herr Ungar“ und „der Personaler“, dann wurde Sarah Ungar offiziell zur Frau. Ein Gespräch über das Leben im falschen Körper und das Outing als transsexuell im Stahlkonzern.

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„Ich hoffe, ich kann mit meiner Geschichte anderen die Angst vor einem Outing nehmen.“ (Foto: Thyssen-Krupp)

Essen Über das Gelände der Zentrale von Thyssen-Krupp, wo Fassaden aus Stahl von den Wurzeln des Konzerns zeugen, fegen eisige Winde. Haare zerzausen, die Leute ziehen die Mäntel enger um die Hüfte. Zum Gespräch treffen sich an diesem Wintermorgen vier Frauen, davon zwei Führungskräfte aus dem Personalwesen, eine Pressesprecherin, eine Journalistin. Alle tragen dicke Schals und gefütterte Stiefel. Nur Sarah Ungar ist in Pumps unterwegs. Absatzhöhen sollten im Personalwesen keine Rolle spielen, aber in diesem Fall tun sie es doch: Ungar, die die anderen um einen Kopf überragt, war vor nicht allzu langer Zeit noch als Herr Ungar im Konzern unterwegs.

Liebe Frau Ungar, Anfang des Jahres waren Sie hier bei Thyssen-Krupp noch der „Kollege“ und „der Personaler“. Haben sich Ihre Mitarbeiter schon daran gewöhnt, „Sarah“ und „Frau“ zu sagen?
Versprochen hat sich nach meinem Namenswechsel jedenfalls niemand. Ich glaube auch, dass es für viele gar keine große Überraschung war. Es gibt ja gewisse Merkmale und Verhaltensweisen, die wir Männern und Frauen zuschreiben, und da habe ich offenbar das Weibliche in gewissem Rahmen erfüllt.

Kollegen ahnten es, dass Sie eine Transfrau sind?
Es haben zumindest einige gespürt, dass da etwas war. Später sagten mir dann auch Kollegen, dass es schon vor meinem Outing äußerlich auffällig war, wie ich mich verändert habe.
Wer im falschen Körper geboren wurde und das Äußere dem empfundenen Geschlecht angleichen möchte, kann sich chirurgischen und vor allem hormonellen Behandlungen unterziehen. Wenn dann die Medikamente auf den Körper einwirken und jemand wie Sarah Ungar die Haare wachsen lässt, werden peu à peu Veränderungen sichtbar.

Und dann kam der Tag, an dem plötzlich Sarah auf Ihrem Stuhl saß. Wie hießen Sie denn als Mann?
Die Kollegen kennen den Namen natürlich. Aber wer mich nur als Sarah kennt, in dem soll gar kein anderes Bild entstehen. Deshalb bleibt’s bei Sarah.

Wie sind Sie auf den Namen gekommen?
Ich habe ja Betriebswirtschaft studiert und bin da sehr rational drangegangen. Ich habe eine Liste gemacht mit Namen, die grundsätzlich in Frage kamen. Am Ende blieb Sarah übrig, und da ich damals keine andere Sarah kannte, dachte ich: Das ist die Lücke, die ich ausfüllen möchte.
Sarah Ungar erzählt ruhig, mit sanfter Stimme. Wer ihr gegenüber sitzt, kommt nicht auf die Idee, dass sie eine Transfrau ist. Sie trägt einen Hosenanzug, dezentes Make-Up und Lippenstift. Erst im Nachhinein, beim Abhören des Tonbands, fällt auf, dass ihre Stimme doch männlich klingt. Männer haben längere Stimmbänder als Frauen. Operative Eingriffe sind zwar möglich, aber ohne Erfolgsgarantie. Dafür lässt sich mit Hilfe von Logopäden eine typisch weibliche oder männliche Stimmmelodie trainieren.

Mit Listen arbeiten auch Paare, die ein Baby erwarten. Und auch für Sie war es ja der Start in ein neues Leben, als Sie sagten: Ich verstecke es nicht länger, dass ich im falschen Körper geboren bin.
Ja, wobei das bei mir ein Veränderungsprozess war, der zwei, drei Jahre gedauert hat.


Feierabend – raus aus dem Anzug, rein in den Rock

Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie im falschen Körper stecken?
Dass Körper und Geist nicht zusammenpassen, das weiß ich, solange ich zurückdenken kann. Konkrete Erinnerungen habe ich aus des Phase im Alter fünf bis sieben, wo mir ganz klar bewusst war: Eigentlich gehörst Du zu den Mädchen.

Sie haben also fast 30 Jahre lang eine Art Maskerade gespielt. Dabei tragen Sie bei Thyssen-Krupp Personalverantwortung und wissen, wie wichtig es ist, dass sich Mitarbeiter mit ihren verschiedenen Eigenschaften anerkannt fühlen. Würden Sie heute sagen: Das hat mich gebremst in der Entfaltung meines Potentials?
Ja, diese Doppelleben hat unheimlich Kraft gekostet. Weil mich das natürlich im Hinterkopf beschäftigt hat. Immer habe ich mich gefragt: Merken die Leute was? Muss ich mich anders verhalten, damit nichts auffällt? Gerade in dieser Change-Phase, als ich im privaten Bereich schon als Frau leben konnte, aber im Beruf noch nicht, war das unheimlich schwierig.

Sie haben sich nicht gleichzeitig im Privaten und im Beruf geoutet?
Nein. Mich hat jeder einzelne Schritt unheimlich viel Überwindung gekostet. Ich habe mich erst im Freundeskreis geoutet, dann in der Familie, zuletzt im Beruf. Dazu muss man wissen, dass in Deutschland wirklich alles genau geregelt ist. Wer beim Amtsgericht wie ich beantragt, Namen und Personenstand zu ändern, der muss erst mal eine gewisse Zeit im sogenannten Wunschgeschlecht leben und zeigen, dass er damit zurecht kommt. Auch für die Krankenkasse sind entsprechende Nachweise wichtig.
Transsexualität hat in Deutschland noch den Status einer psychischen Erkrankung. Dafür maßgeblich ist die Einstufung als Verhaltensstörung durch die Weltgesundheitsorganisation. Doch 2017 soll eine neue Liste ohne diese Klassifikation in Kraft treten.

Wie können wir uns das vorstellen: Sie sind abends von der Arbeit nach Hause gekommen, raus aus dem Anzug, rein in den Rock?
Genau so. Wenn ich mich mit Freunden getroffen habe, bin ich erst mal nach Hause, habe mich umgezogen, mich geschminkt. Ganz konkret: Wenn ich um 18 Uhr zu Hause war, konnte ich mich frühestens um 19 Uhr mit Freunden treffen. Und wenn es länger gedauert hat im Büro, sind meine Verabredungen geplatzt. Manche Freunde kannten mich nur als Frau. Die wussten zwar um meine Situation, aber ich wollte nicht, dass sie mich in Anzug und Krawatte sahen. Das alles hat mich also schon rein organisatorisch sehr eingeschränkt.

Wieso haben Sie diesen Aufwand so lange in Kauf genommen?
Ich hatte natürlich Angst: erst, dass ich Freunde oder Familie verliere, dann, dass ich Anerkennung verliere. Dass ich vielleicht meinen Job verliere.
Sarah Ungar mag ihren Job und ihre Verantwortung. Sie ist als Personalchefin einer Tochtergesellschaft der Großanlagensparte von Thyssen-Krupp viel unterwegs gewesen, postet auf ihren Dienstreisen auch mal Fotos via Twitter mit dem Hashtag #ilovemyjob. Für sie stand viel auf dem Spiel.

Bei Thyssen-Krupp hat man unweigerlich diese Bilder einer erzkonservativen Arbeitswelt im Kopf: Malocher in Blaumännern, Glut in den Hochöfen. Wie sind Sie es dann angegangen, Ihre Kollegen über Ihren persönlichen Change-Prozess zu informieren?
Auch da habe ich Listen gemacht: mit welchen Menschen ich sprechen muss, in welcher Reihenfolge. Die habe ich dann Stück für Stück abgearbeitet. Irgendwann ist natürlich ein Leak da, dann ist man nicht mehr Herr über die Informationen.


„Es geht nicht darum, mehr Transfrauen oder Schwule einzustellen“

Wer stand hier im Konzern ganz oben auf der Liste?
Mein damaliger Geschäftsführer. Ganz oben standen die Namen von Kollegen, bei denen ich mit eher positiven Reaktionen gerechnet habe. Mein Geschäftsführer zum Beispiel war sehr offen wir hatten ein echtes Vertrauensverhältnis.

Sie hatten sich ja vor allem vor negativen Reaktion gefürchtet.
Eine negative Reaktion, die mir lange zu schaffen machte, kam aus dem privaten Bereich. Jemand sagte anfangs „Alles kein Problem“, aber später stellte sich heraus, dass es doch ein Problem für ihn war. Ich habe gelernt, dass ich nicht jeden auf diesem Weg mitnehmen kann.

Sie können nicht jemand anders zuliebe jemand sein, der Sie nicht sind.
Ja, und ich war ja auch vorher ich. Nur, weil ich jetzt äußerlich anders auftrete, viele sagen auch: authentischer, bin ich kein anderer Mensch.

Und Sie mussten sich wirklich nie einen blöden Spruch im Job anhören? Haben nie gemerkt, dass Gespräche plötzlich verstummen, wenn Sie den Raum betraten?
Nein, wirklich nicht.

Gab es auch überraschende positive Reaktionen?
Viele. Wobei die positivste Reaktion war, wenn Kollegen eben keine große Sache draus gemacht haben. Dass sie gesagt haben: Ja, Überraschung, das ist jetzt Sarah, aber wir arbeiten so gern mit Dir zusammen, wie wir es vorher getan haben.

Kamen nach Ihrem Outing andere Kollegen in ähnlichen Situationen auf Sie zu, die sich Rat holen wollten?
Es kamen viele Kollegen mit sehr persönlichen Themen, auch aus ganz anderen Bereichen, auf mich zu. Viele haben mir auch das „du“ angeboten, weil ich jetzt so eine persönliche Geschichte mit ihnen geteilt habe. Das war schon auffällig, weil viele Mitarbeiter sonst eher ein distanziertes Verhältnis zur Personalleiterin haben. Und natürlich hoffe ich, dass ich anderen helfen kann, indem ich mit meiner Geschichte für Sichtbarkeit dieses Themas in der Öffentlichkeit sorge.
Eine Kollegin, ebenfalls Personalerin im Konzern, meldet sich zu Wort: „Ohne Sarah wäre auch das LGBTI-Netzwerk nicht so weit wie heute, sie soll mal nicht so bescheiden sein!“ Ungar war im Januar 2016 an der Gründung des Netzwerkes für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intersexuelle Mitarbeiter beteiligt. Um das Netzwerk bekannter zu machen, schrieb Ungar im Sommer ihre Geschichte in einem Blog für Mitarbeiter auf, der Beitrag erschien auf Deutsch und auf Englisch.


„Wir wollen jeden wertschätzen, so wie er ist“

Was passierte dann?
Die Resonanz darauf war für mich eine große Überraschung. Es kamen Mails von Kollegen aus der ganzen Welt, aus Australien, Brasilien, Asien, aus den USA. Es gab auch einen Artikel in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, der online sehr oft und positiv kommentiert wurde. Ich glaube, der hat in der Zeit mehr Resonanz erzeugt als die Berichterstattung über Borussia Dortmund und Schalke 04.

Das will im Ruhrgebiet was heißen! Hatten Sie vielleicht auch einfach Glück, dass Konzernchef Heinrich Hiesinger seit einigen Jahren den Kulturwandel bei Thyssen-Krupp einfordert und fördert?
Ja, vielleicht passte mein Outing thematisch gut in die Zeit. Ich hatte direkt Unterstützung von unserer Diversity-Chefin Barbara Thiel, die auch beim Personalvorstand Oliver Burkhard für die Gründung des Netzwerks geworben hat. Er hat dann ebenfalls gesagt: So etwas soll kein Problem, sondern ganz normal sein. Wir wollen jeden wertschätzen, so wie er ist.

Sie haben gerade erst einen weiteren Karriereschritt gemacht und sind nun als „Talent Brokerage Expert“ dafür zuständig, die Talente des Konzerns weltweit auf die richtigen Führungspositionen zu bringen. Ist Ihre persönliche Erfahrung bei dieser Position ein Vorteil?
Vor allem meine berufliche Erfahrung! Es geht auf diesem Posten ja auch darum, Führungskräfte bei Neubesetzungen zu ermuntern, einmal rechts und links des Weges zu schauen, nicht zu festgefahren zu sein bei den Anforderungen. Und ich bin jetzt seit zehn Jahren im Personalwesen tätig, habe bestimmt 2000 Vorstellungsgespräche geführt, war an mindestens 300 Besetzungsentscheidungen maßgeblich beteiligt.

Warum hat es bei Ihrer Expertise so lange gedauert, bis Sie gesagt haben: Ich bin jetzt selbst ein Fall für mich, ich muss etwas ändern, wenn ich die Prinzipien, nach denen ich Mitarbeiter entwickle, ernst nehme?
Das war ein gegenseitiger Prozess. Ich habe durch meinen Beruf viel für mich selbst gelernt. Aber ich habe auch andersherum von meinen persönlichen Erfahrungen viel mitgenommen für meinen Beruf, zum Beispiel zum Thema Change-Prozess. Das ist hier bei Thyssen-Krupp ein Dauerthema, immer wieder fragen wir uns: Wie nehmen wir Menschen mit auf so einem Weg? Ich selbst war am Anfang mit meinem Outing viel zu schnell unterwegs, das habe ich bei einigen Freunden oder auch in der Familie gemerkt. Manchmal habe ich jemanden auf dem Weg verloren, musste noch mal ein paar Schritte zurück und mich von Beginn an erklären, damit es zusammen weiterging. Solche positiven Erfahrungen nehme ich mit in meinen Job.

Nun ist das Thema Transsexualität oder auch LGBTI ja nur ein kleiner Bestandteil gelebter Vielfalt bei Thyssen-Krupp.
Genau, bei Diversity geht es auch um Dimensionen wie Alter, Geschlecht, Qualifizierung oder Herkunft. Und das übergeordnete Thema heißt natürlich Kulturwandel. Ohne den Kulturwandel würde es unser LGBTI-Netzwerk nicht geben, aber das Netzwerk ist andersherum auch Indikator dafür, dass der Kulturwandel wirklich stattfindet. Dem Vorstand ist das wichtig, und Herr Burkhard, der auch unser Schirmherr ist, zeigt das offen.
Seit dem Sommer ist Thyssen-Krupp auch Mitglied der Stiftung „PrOUT at Work“, die ein Arbeitsumfeld schaffen möchte, das offen ist für alle Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität. Ungar erinnert sich noch daran, wie sich ein Geschäftsführer der Stiftung bei der ersten Anfrage zwar positiv, aber deutlich überrascht zeigte: Man habe zwar eine Reihe potentieller Mitgliedsunternehmen auf der Liste, aber nicht gerade Thyssen-Krupp. Von anderer Seite hörte sie dann, dass der Ansatz, das Thema LGBTI explizit in den Leadership-Prinzipien zu berücksichtigen, unter deutschen Dax-Konzernen wohl einmalig sei.

Herr Burkhard möchte seine Unterstützung für Sie auch im kommenden Jahr sehr öffentlichkeitswirksam zeigen – wenn Thyssen-Krupp mit einem Wagen beim Christopher Street Day in Köln mitfährt.
So ist es. Wir arbeiten gerade daran, einen Wagen und das Drumherum zu organisieren. Das gibt natürlich schöne Bilder – aber das Ganze ist weder Lippenbekenntnis noch Marketinginstrument. Es geht ja nicht darum, jetzt mehr Transfrauen oder Schwule einzustellen. Diese Leute sind aber schon da und verschwenden bislang möglicherweise viel Energie darauf, das zu verstecken.

Nun hebt das Netzwerk hervor, was eigentlich normal sein sollte, wie Sie selbst sagen. Braucht denn wirklich jede kleine Gruppe ein solches Netzwerk?
Mein Wunsch wäre es, dass wir als Netzwerk überflüssig wären. Aber es gibt immer noch viele Kollegen, die zum Beispiel ihre Homosexualität verheimlichen. Ich hoffe, ich kann ihnen die Angst vor einem Outing nehmen, denn für mich gilt: Ich bereue es nicht.

Liebe Frau Ungar, vielen Dank für das Gespräch.

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