Umgerechnet rund 50.000 Euro kostet eine Mercedes C-Klasse mit guter Ausstattung im Reich der Mitte. Würde ein Chinese dasselbe Auto ausschließlich aus Ersatzteilen einer von Daimler autorisierten Werkstatt zusammenbauen, müsste er rund zwölf Mal so viel hinlegen – satte 600.000 Euro.
Mit solchen Rechenbeispielen, verbreitet von der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, gehen derzeit die Kartellbehörden der Volksrepublik gegen Autohersteller aus aller Welt vor. Ersatzteile, die zwölfmal so teuer sind wie eingebaute Komponenten, wie kann das sein? Schließlich kommen die Teile vom gleichen Zulieferer und gleichen sich wie ein Ei dem anderen.
Preis-Beispiele für ausgewählte Ersatzteile
VW Golf VI
Autohersteller: 321 Euro
Freier Händler: 157 Euro
+104 Prozent
Ford Focus
Autohersteller: 330 Euro
Freier Händler: 138 Euro
+139 Prozent
Mazda 6
Autohersteller: 372 Euro
Freier Händler: 290 Euro + Frachtkosten (Sonderbestellung)
Quelle: ADAC
VW Golf VI
Autohersteller: 167 Euro
Freier Händler: 101 Euro
+65 Prozent
Ford Focus
Autohersteller: 170 Euro
Freier Händler: 67 Euro
+153 Prozent
Mazda 6
Autohersteller: 178 Euro
Freier Händler: 138 Euro
+29 Prozent
VW Golf VI
Autohersteller: 289 Euro
Freier Händler: 154 Euro
+88 Prozent
Ford Focus
Autohersteller: 363 Euro
Freier Händler: 183 Euro
+98 Prozent
Mazda 6
Autohersteller: 456 Euro
Freier Händler: 290 Euro
+57 Prozent
VW Golf VI
Autohersteller: 194 Euro
Freier Händler: 120 Euro
+62 Prozent
Ford Focus
Autohersteller: 191 Euro
Freier Händler: 68 Euro
+181 Prozent
Mazda 6
Autohersteller: 362 Euro
Freier Händler: 217 Euro
+67 Prozent
VW Golf VI
Autohersteller: 311 Euro
Freier Händler: 122 Euro
+160 Prozent
Ford Focus
Autohersteller: 302 Euro
Freier Händler: 88 Euro
+243 Prozent
Mazda 6
Autohersteller: 362 Euro
Freier Händler: nicht erhältlich
Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied macht’s: Als Daimler-Originalersatzteil deklariert und verkauft, ist die Komponente um ein Vielfaches teurer als bei der Erstausstattung. Den Preis für das Originalersatzteil legt der Autohersteller fest – und streicht die teilweise gigantische Differenz selber ein.
Bisher kamen die Autohersteller damit durch, und das nicht nur in China. Doch zum 1. Oktober läuft dort ein Gesetz aus dem Jahr 2005 aus, nach dem Autoersatzteile nur von Händlern verkauft werden dürfen, die vom Hersteller autorisiert sind. Prompt tauchten Anfang August Beamte der Kartellbehörden bei Daimler in Shanghai auf, durchsuchten Büroräume und befragten Mitarbeiter. Kurze Zeit später traf es die VW-Tochter Audi, den amerikanischen Autokonzern Chrysler und den britischen Hersteller Jaguar sowie deren chinesische Joint-Venture-Partner. Der Vorwurf: Die Hersteller sollen jahrelang zu teure Ersatzteile an die Verbraucher verkauft haben und damit gegen das Anti-Monopol-Gesetz aus dem Jahr 2008 verstoßen haben.
Mit ihren Razzien bei den Westkonzernen zerren die Behörden in China Geschäftspraktiken ans Licht der Öffentlichkeit, die sich nicht auf den weltgrößten Automarkt beschränken, sondern über weite Strecken auch in Deutschland ebenso verbraucherfeindliche wie gängige Praxis sind. Denn auch hier haben die Fahrzeughersteller den Markt für Ersatzteile fest im Griff: Sie bestimmen die Preise, und sie legen fest, wer solche Teile herstellen darf.
Vorherrschaft der Hersteller
Die Folge: Wer sich eine Beule ins Auto fährt und einen neuen Kotflügel braucht, wird bei Reparaturen unverhältnismäßig teurer zur Kasse gebeten, als wenn er das Blechteil außerhalb von Vertragswerkstätten kaufen würde. Vorstöße der EU-Kommission in Brüssel, den Autoersatzteilmarkt zu liberalisieren, scheiterten bisher an der Lobby der großen Autokonzerne.
„Es ist höchste Zeit, dass die Ersatzteilvorherrschaft der Hersteller gekippt wird“, so die Verbraucherzentrale Bundesverband. „Eine Liberalisierung ist juristisch die einzig sinnvolle Lösung“, meint auch Josef Drexl, Professor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb an der Universität München.
Ursache für die übermächtige Stellung der Autohersteller im Geschäft mit Ersatzteilen auch in Deutschland ist eine Lücke im sogenannten Geschmacksmusterrecht. Das soll den Schutz von Design vor Nachahmern gewährleisten, geistiges Eigentum schützen und verhindern, dass Verbrauchern technisch minderwertige Plagiate untergejubelt werden. Doch was vom Gesetzgeber als Schutz für Verbraucher gedacht war, nutzen die Hersteller, um mit den von außen sichtbaren Teilen kräftig Kasse zu machen.
Quasi-Monopol der Hersteller
Denn Bremsscheiben, Lichtmaschinen oder Scheibenwischermotoren dürfen, weil unter dem Blech verborgen, prinzipiell auch von unabhängigen Händlern und Produzenten angeboten werden, sofern sie die technischen Anforderungen des Herstellers erfüllen. Sichtbare Teile wie Kotflügel, Außenspiegel oder Stoßstange dagegen dürfen ausschließlich vom Hersteller gefertigt und vertrieben werden.
Die Autobesitzer kostet das Quasi-Monopol der Hersteller bares Geld. Der ADAC hat 2013 ausgerechnet, dass die Preise für Karosserieteile eines VW Golf innerhalb von sechs Jahren um 40 Prozent gestiegen sind, die der Teile unter der Haube aber nur um zwölf Prozent. Außerhalb Deutschlands ist das anders. „Viele Länder in Europa haben den Designschutz im Ersatzteilmarkt durch die Einführung einer Reparaturklausel abgeschafft, weil er hier gegen Grundsätze der Marktwirtschaft verstößt und freien Wettbewerb verhindert“, moniert Hartmut Röhl, Präsident des Gesamtverbandes Autoteile-Handel (GVA).
Der Lobbyverband der freien Ersatzteilhersteller und -händler kämpft seit Jahren dafür, den Designschutz auf Ersatzteile vollständig abzuschaffen, wie das in anderen EU-Ländern wie Belgien, Großbritannien oder Spanien schon länger der Fall ist. Auch die EU-Kommission und das EU-Parlament starteten schon 2004 eine Initiative zur Einführung einer sogenannten Reparaturklausel. Die sollte alle Ersatzteile vom Designschutz freistellen.
Mehrere Abmahnungen
„Aber die Autoindustrie torpediert diese Bemühungen und hat die EU-Initiative blockiert“, beschwert sich Röhl, „eine europaweit einheitliche Regelung wird es demnach vorerst nicht geben.“ Im Mai dieses Jahres zog die Kommission ihren Vorschlag nach fast zehnjähriger Beratungszeit zurück. Blockiert wurden die Liberalisierungsbemühungen vor allem von Deutschland und Frankreich.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) verteidigt die Entscheidung. Angesichts der Gefahr der Produktpiraterie in Schwellenländern, wo Rechtsschutzsysteme gerade erst entstünden, dürfe die EU nicht signalisieren, „dass sie weitreichende Ausnahmen zugunsten des Kopierens von Kfz-Ersatzteilen schafft“, heißt es beim VDA. Auch den Vorwurf, sie würden den Wettbewerb verhindern, bestreiten die Autohersteller. Schließlich werde der Designschutz so gut wie nie eingeklagt.
Tatsächlich haben die Hersteller in einer freiwilligen Selbstverpflichtung ein Stillhalteabkommen gegenüber freien Ersatzteillieferanten und -händlern abgegeben. Das ist aber rechtlich nicht bindend: Wer in Deutschland Kotflügel, Motorhauben oder Frontscheiben fertigt, muss trotzdem mit einer Abmahnung aus Wolfsburg, München oder Rüsselsheim rechnen. Der Hersteller kann sogar Lagerbestände und Maschinen beschlagnahmen lassen.
Auch wenn das in der Praxis selten vorkommt – von Zeit zu Zeit zeigen die Hersteller ihre Folterwerkzeuge, um allzu freche Ersatzteilhändler und -lieferanten zu disziplinieren. Ein freier Teilehändler, der aus Angst vor Sanktionen lieber nicht namentlich genannt werden will, berichtet von „mehreren Abmahnungen in den letzten paar Jahren“. Erst kürzlich habe er eine neue Unterlassungserklärung unterschrieben. VW und Daimler gelten als besonders harte Hunde. Der abgemahnte Hersteller produziert seine Teile darum vorsorglich außerhalb Deutschlands und lagert sie in Ländern, in denen der Designschutz nicht gilt.
Rechtliche Grauzone
Dort sind die Endkundenpreise für Ersatzteile nach einer Studie des Europäischen Verbands der Versicherungswirtschaft (CEA) im Schnitt um fast zehn Prozent niedriger als hier. Autoteilehändler Röhl geht noch weiter. „Der Designschutz für Ersatzteile verhindert Investitionen und den Aufbau von Arbeitsplätzen in Deutschland.“ Weil sich die Branche in einer rechtlichen Grauzone bewegt, wage kaum ein Unternehmen, sich im freien Ersatzteilmarkt zu engagieren.
Der Herstellerverband VDA lässt das Argument nicht gelten: Die Automobilindustrie müsse mit ihren Erträgen die Entwicklung der nächsten Technologie- und Designgenerationen vorantreiben und damit den Standort Deutschland sichern. Außerdem habe die Deutsche Automobil Treuhand, eine von der Branche getragene Unternehmensberatung, festgestellt, dass die Ersatzteilpreise in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt lägen.
Fest steht: Der Ersatzteilhandel ist eine tragende Säule im Geschäft der Autohersteller. Vor allem im Massensegment der Klein- und Mittelklasseautos bröckeln die Margen für Neuwagen. „Nur etwa zehn Prozent des Gewinns stammen aus dem Neuwagengeschäft, rund 35 Prozent werden mit Finanzdienstleistungen, knapp 55 Prozent mit dem Service- und Teilegeschäft verdient“, sagt Fabian Brandt, Autoexperte der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Würde der Designschutz fallen, müssten sich die Autokonzerne auf deutlich geringere Margen einstellen.
Keine Pläne für ein neues Gesetz
Trotz aller Widerstände der Autolobby will der Teilehändler-Verband GVA aber nicht locker lassen und hofft auf einen Vorstoß der neuen EU-Kommission, was allerdings dauern kann. Immerhin gab es am Montag vergangener Woche im Bundesjustizministerium eine erste Gesprächsrunde mit den beteiligten Verbänden. Große Hoffnungen dürfen sich die Ersatzteilehändler allerdings nicht machen. „Es gibt in der Bundesregierung keine Pläne, die Reparaturklausel mit einem nationalen Gesetz einzuführen, obwohl das europarechtlich möglich wäre“, heißt es im Justizministerium. „Im Wesentlichen“, berichtet ein Teilnehmer der Runde, „wurden nur die alten Positionen ausgetauscht.“
Haben die Hersteller von Berlin und Brüssel in absehbarer Zeit nichts zu befürchten, ist das in China anders. Sollte sich der Vorwurf der Wettbewerbsbehinderung bestätigen, drohen Strafen bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes. Das in Shanghai ansässige Gemeinschaftsunternehmen zwischen Volkswagen und dem chinesischen Partner FAW wurde bereits zu einer Strafe von umgerechnet rund 30 Millionen Euro verdonnert. Bei den anderen Beschuldigten sind die Verfahren noch nicht abgeschlossen.