China Olympia: Milliarden schauen auf die Randsportarten

Heute ist es wieder so weit: Dann springen, schwimmen und schießen in Peking die Olympioniken um die Wette. Milliarden schauen selbst bei Randsportarten gebannt zu – warum?

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Synchronspringen in Peking: Quelle: dpa

Der Ringsport, eine der olympischen Ur-Disziplinen, hat – abgesehen von einigen Gebieten in Unterfranken und in der Pfalz – hierzulande keine besonders große Fangemeinde. Schwer zu sagen, woran das liegt. Vielleicht an der penetranten Nähe, zu der das Ringen die Ringer zwingt. Und doch gibt es Ausnahmen, Tage, an denen das ganze Land seine Liebe zum Ringen entdeckt. Ende August 1972 war so ein Tag – die Olympischen Sommerspiele in München hatten gerade begonnen.

Der Schwergewichtsringer Wilfried Dietrich, den sie den Kran von Schifferstadt nannten, trat im griechisch-römischen Stil gegen den Amerikaner Chris Taylor an, einen zwei Meter großen und vier Zentner schweren Mann, der aussah wie ein Riesenbaby – und es geschah das Unfassbare: Der Schifferstädter, der noch im Freistil gegen den Amerikaner verloren hatte, umschloss den Koloss mit beiden Armen wie mit einem eisernen Ring, hob ihn, auf Zehenspitzen balancierend, rückwärts über sich und schulterte ihn. Es war eine Demonstration: Wie leicht das Schwere plötzlich aussah! Die Halle tobte, Dietrich sprang jubelnd wie ein kleiner Bub über die Matte, und der Fernsehzuschauer ahnte, dass ein Held, wenn nicht ein Halbgott geboren war.

Lauter Heldinnen und Helden der Leichtigkeit

Von solchen Sportlegenden erzählen wir uns noch lange, mindestens so lange wie von den sieben Goldmedaillen, die der US-Schwimmer Mark Spitz in München holte. Oder vom unwiderstehlichen Finish der Heide Rosendahl, die als Schlussläuferin der bundesdeutschen 4 x 100-Meter-Staffel gegen die ostdeutsche Rivalin Renate Stecher gewann. Oder vom Debüt der russischen Kunstturnerin Olga Korbut, die der „Spatz von Grodno“ genannt wurde und das Publikum durch ihre mädchenhafte Anmut hinriss.

Lauter Heldinnen und Helden der Leichtigkeit, die im Gedächtnis der Sportfans immer noch lebendig sind. Genauso wie der US-Hochspringer Dick Fosbury, der vier Jahre zuvor in Mexiko-City mit einer nach ihm benannten völlig neuen Sprungtechnik, dem Fosbury-Flop, den Hochsprung revolutionierte, indem er rücklings über die Latte flog. Oder der kubanische Schwergewichtsboxer Teófilo Stevenson, der gefürchtet war für seinen Punch und gleich dreimal hintereinander Gold holte, 1972 in München, 1976 in Montreal und 1980 in Moskau. Sie alle – und viele andere – gehören zum Leben des Sportfans. Mit ihnen ist er groß geworden. Unzählige glückliche Fernsehstunden hat er mit ihnen verbracht, weshalb die Erinnerung an ihre unsterblichen Taten ihn manchmal in merkwürdige Ekstase versetzt.

In den kommenden Wochen werden etliche Fernsehstunden folgen, wenn in Peking das Gesamtkunstwerk Olympia ruft. Ein Fall von Fernsehsportsucht, die alle vier Jahre grassiert? Von Medienverwahrlosung? Es ist zugegebenermaßen nicht einfach, einem Sportverächter zu vermitteln, dass es ein Vergnügen sein kann, wie gebannt vorm Fernseher zu sitzen – wenn es sein muss, auch nachts – und rund 10.000 durchtrainierten Körpern dabei zuzuschauen, wie sie im Kreis laufen, in die Luft springen, Gewichte stemmen oder sich mit und ohne Waffe schlagen.

Die Olympischen Spiele sind ein absurdes und gerade deshalb so reizvolles Spektakel. Ein Ausnahmezustand, der auch dem Turm- oder Trampolinspringer, der für sein Land Gold erringt, wenigstens für ein paar Tage Ruhm, also Medienaufmerksamkeit beschert. Vorm olympischen Gesetz sind schließlich alle gleich: Der Sieg des Kleinkaliberschützen zählt so viel wie der des 100-Meter-Läufers. Hauptsache, Medaille.

Stabhochsprung (hier: Yelena Quelle: dpa

Was „bringt“ es dem Zuschauer, wenn er die Schönheit des Synchronspringens entdeckt, mit dem Einer-Canadier fiebert oder die erste Goldmedaille beim Schießen auf die Laufende Scheibe im Medaillenspiegel registriert? Nichts – außer der Freude am Zuschauen und ein bisschen Nationalstolz. Der Sport mag allen möglichen Zwecken dienen, der persönlichen und nationalen Selbstdarstellung oder dem Kommerz. Im Kern ist er Selbstzweck, eine „komplette Parallelwelt“, wie der Medienwissenschaftler und bekennende Sportfan Norbert Bolz sagt. Ein geschlossenes Geschehen, herausgehoben aus unserem Alltag, künstlich eingefasst von einer Arena – ein Spiel nach Regeln und Ritualen, die nur hier und nirgendwo sonst gelten und damit erst die Voraussetzung dafür schaffen, dass wir das Spektakel des Sports genießen können und von ihm mitgerissen sind.

„Agon“, Wettkampf, nannten die Griechen die Konkurrenz der Athleten im Stadion, die stets mit Sieg oder Niederlage endete. » Der Kampf Mann gegen Mann verlieh Olympia seine Dramatik, weckte kollektive Leidenschaften und brachte große Ehre: „Schöner noch, als allmächtig oder mehrfach Sieger in Olympia gewesen zu sein“, hieß eine Redensart der Griechen. Ohne „Agon“ kein Pathos – aber auch keine Schönheit des Sports. Das gilt bis heute. Der Stabhochspringer, der sich mit halsbrecherischer Artistik in die Höhe katapultiert und über die Latte wälzt; der Fechter, der nach der Parade scheinbar mühelos aus der Hocke zum Gegenangriff übergeht, der Tischtennisspieler, der seinen Gegner mit einem Stoppball auskontert – sie alle mögen ihre Gewandtheit oder ihren Spielwitz genießen, aber sie wollen nicht Schönheit demonstrieren, sondern im Wettbewerb bestehen.

Auch ein Ringkampf kann eine elegante Note bekommen

Anders gesagt: Der Sport tut nicht schön, er ist schön. Auch ein Ringkampf kann durch einen geschickten Ausheber eine elegante Note bekommen. Muhammad Ali, der damals noch Cassius Clay hieß, demonstrierte schon als 18-jähriger Olympiadebütant bei den Spielen von Rom eindrucksvoll, wie Kraft und Siegeswillen sich in Schönheit verwandeln. Von Sonderfällen wie der rhythmischen Sportgymnastik oder dem Synchronschwimmen abgesehen, ergibt sich die Schönheit des Sports fast immer aus dem Drama der Rivalität. Es zwingt die Athleten zur Überbietung des Gegners, zur Höchstleistung, zum olympischen Rekord.

„Stets der Beste zu sein und die anderen zu übertreffen“, so steht es in Homers „Ilias“. Olympia ist von Beginn an im Zeichen der Extreme. Sein Bestes soll der Athlet geben, an die Grenze des Könnens soll er gehen und dorthin vorstoßen, wo Gelingen und Scheitern nah beieinander sind. Der Gewinn ist dem Athleten nie sicher, aber – darauf kommt es an –, er handelt, als sei er ihm sicher.

Das hat etwas Großartiges, weil es uns an die schönsten Möglichkeiten des Menschen erinnert, an seine Selbstvervollkommnung im Spiel. Olympia appelliert an unseren Narzissmus – erst recht, seit die Fernseh-kameras den Sportlerkörper von allen Seiten, in Zeitlupe und Nahaufnahme, in seiner ganzen athletischen Idealität wiedergeben. „Die Bildmedien tasten die Körperoberfläche ab und heben das Profil der Muskeln hervor“, sagt der Sportwissenschaftler Gunter Gebauer, „mehr als jedes andere Medium bringt das Fernsehbild die statuarische Qualität der Athleten zur Geltung.“

Beach-Volleyball (hier: Kerry Quelle: REUTERS

Selbst wer sich nicht für Sport interessiert, kann sich den olympischen Körperinszenierungen kaum entziehen: Ob beim Delphinschwimmen oder beim Beach-Volleyball – in den Sportlerkörpern erkennt er unweigerlich sein besseres Selbst, den Supermann, der er selber gern wäre.

Doch erklärt die erotische Ausstrahlung gut gebauter Körper und ihre perfekte olympische Inszenierung allein schon die Faszination des Sports? Der in Stanford lehrende Romanist Hans Ulrich Gumbrecht hat in seinem fulminanten Essayband „Lob des Sports“ gleich mehrere gleichsam denksportliche Anläufe unternommen, um das Phänomen der Massenattraktion des Sports zu verstehen.

Eine seiner Antworten: Im plötzlichen Erlebnis von „realer Präsenz“ bannt der Sport unsere Blicke, und diese selbstvergessenen Augenblicke erleben wir als „Momente vollkommenen Glücks“. Anders als Kunst und Religion drückt der Sport nichts aus, stellt er nichts dar, schenkt er uns vielmehr den Thrill reiner Gegenwärtigkeit: „Jetzt oder nie.“ Die Zeit scheint angehalten im entscheidenden Moment, wenn sich durch einen genialen Griff der Ausgang eines Judokampfs wendet oder durch einen brillanten Spielzug das Basketballspiel kippt.

Während des Wettkampfs in fokussierte Intensität versunken

Als Kronzeugen zitiert Gumbrecht den US-Schwimmer und dreifachen Goldmedaillengewinner von 1984 und 1992, Pablo Morales, der am Fernsehschirm die Schlussläuferin der amerikanischen 4 x 100-Meter-Staffel der Frauen in Seoul 1988 verfolgte und dabei an seine eigenen Erlebnisse als Sportler erinnert wurde: „Nach dem Rennen wurde eine Wiederholung gezeigt, die sich auf Ashfords Gesicht unmittelbar vor, während und nach dem Lauf konzentrierte. Ihre Blicke folgten zuerst dem Oval der Laufbahn, fixierten dann das Staffelholz und danach die vor ihr liegende Kurve. Sie schien weder ein Bewusstsein der Menge im Stadion noch ein Bewusstsein des stattfindenden Wettkampfs zu besitzen, und ich bemerkte, wie sie in fokussierter Intensität versunken war.“

Für den Sportler wie den Zuschauer, gleich ob im Stadion oder vorm Fernseher, versinkt für die Dauer des Wettkampfs die Welt in Bedeutungslosigkeit, so die Pointe des Olympiasiegers Morales. Seltsam entrückt wirkt in Phasen höchster Anspannung daher die Staffelläuferin, die dem Ziel entgegengetragen wird. „Wie von selbst“ gelingen dem Fechter, der im Kampf ein ganzes Repertoire von Stößen und Paraden abrufen kann, in der Ausnahmesituation des Finales die schwierigsten Attacken. Automatisch glückt den Handballern in der Verlängerung die riskanteste Kombination. Die Sportler sprechen in solchen Fällen gern vom „Flow“: Sie überlassen sich der Eigendynamik des Körpers und folgen ihm, wohin er von sich aus will. Sie vertrauen der Intelligenz ihres Armgelenks, der puren Geistesgegenwart des Körpers, die über Sieg oder Niederlage entscheidet.

Oder sie verlassen sich auf ihren Partner. Ein Musterbeispiel dafür hat – unfreiwillig – der Springreiter Hans Günter Winkler gegeben, als er sich 1956 in Stockholm beim Finale verletzte und seine „Wunderstute“ Halla im zweiten Umlauf ohne Abwurf, von allein und mit der größten Leichtigkeit zum Olympiasieg eilte. Es ist der berühmteste Ritt der Sportgeschichte, der von einem utopischen Versprechen des Sports erzählt: dass die aus der Souveränität des Geistes entlassene Natur von sich aus ans Ziel kommt. Oder, wie es Hans Ulrich Gumbrecht formuliert: „Was uns an Sportereignissen begeistert und was wir an großen Sportlern bewundern, ist deren Fähigkeit, die Dinge geschehen zu lassen.“

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