Die Möbel in dem kleinen Zimmer in Berlin-Kreuzberg wirken zusammengeklaubt, Bücher über „Das System Bahn“ stapeln sich in Holzregalen, auf dem Laptop klebt ein Aufkleber gegen das Stuttgart-21-Projekt der Deutschen Bahn (DB). Derek Ladewig, 44, arbeitet in einer Umgebung, die an ein Start-up oder eine Aktivistengruppe erinnert. Aber der ehemalige Grünen-Mitarbeiter ist seit Jahren veritabler Unternehmer, und er hat einen klaren Konkurrenten: die Deutsche Bahn.
In elf Monaten will Ladewig mit Crowdfunding-Mitteln einen Zug von Stuttgart über Frankfurt nach Berlin aufs Gleis setzen. Der wird zwar knapp eine Stunde länger brauchen als ein ICE, soll aber nur ein Drittel so teuer sein wie ein Bahncard-50-Ticket. Sein schnittiger Name: Locomore.
„Mehr Bahn“, verspricht Ladewig den Fahrgästen, Locomore soll in der Signalfarbe Orange fahren. Doch auch er weiß natürlich, das sein Zug im bundesweiten Fahrplan so gut wie untergehen wird. Die Deutsche Bahn ist in Deutschland weiter uneingeschränkter Platzhirsch – mit einem Marktanteil im Personen-Fernverkehr von sage und schreibe 99 Prozent.
Die wichtigsten Baustellen der Bahn 2015
Von Mitte Januar bis Anfang Mai wird auf der Nord-Süd-Verbindung der Oberbau, die Leit- und Sicherungstechnik und der Tunnel unter die Lupe genommen. In dieser Zeit ist die Strecke zwischen Gesundbrunnen und Yorkstraße gesperrt. Von Ende August bis Ende November wird außerdem eine Brückenkonstruktion am erst 2006 eröffneten Berliner Hauptbahnhof saniert. Fernzüge halten dann im unteren Teil des Kreuzungsbahnhofs.
Mitte Mai sollen auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwölf Weichen erneuert werden. Während der Bauzeit wird die Strecke gesperrt. Der Fernverkehr wird von Hannover über die alte Strecke nach Göttingen umgeleitet. Das dauert 30 Minuten länger.
Von Mitte April bis Mitte Mai werden auf der ICE-Strecke 44 Kilometer Schienenstrang ausgewechselt. Dazu wird die Strecke durch den Westerwald an vier Wochenenden gesperrt. Die Züge werden dann am Rhein entlang fahren. Die Fahrzeit verlängert sich um 60 Minuten.
Die Strecke bekommt von Ende Juni bis Mitte August auf 22 Kilometern neue Gleise. Fernzüge fahren einen Umweg über Venlo und brauchen dafür 45 Minuten länger. Auf der Route Köln-Siegen werden im gleichen Zeitraum 35 Kilometer Gleise renoviert. Davon sind in der Bauzeit 77 Nahverkehrszüge betroffen, die durch Busse ersetzt werden.
Von Mitte September bis Ende Oktober werden auf der Schnelltrasse Gleise und Weichen ausgetauscht. Dafür wird die Strecke zwischen Kraichtal und Stuttgart-Zuffenhausen zeitweise gesperrt. Die Umleitung über die alte Strecke kostet 40 Minuten Fahrzeit.
Von Anfang März bis April wird ein zehn Kilometer langer Streckenabschnitt saniert. Zeitweise ist eine Sperrung nötig. Die Fernzüge der Linie Nürnberg-Karlsruhe werden über Treuchtlingen umgeleitet. Das dauert 40 Minuten länger als sonst.
Auf dieser Route wird voraussichtlich noch bis August 2015 die Schienentechnik erneuert, damit Züge künftig dort mit Tempo 200 fahren können. Dabei muss ein alter Damm saniert, Gleise erneuert und neue Signalkabel verlegt werden. Ein Teil der Fernzüge muss über Augsburg umgeleitet werden. Das führt zu einer 30 Minuten längeren Fahrzeit.
Dennoch sind die Pläne von Ladewig und seinen bislang vier Mitarbeitern mehr als eine Randnotiz wert. Sie erinnern nämlich daran, wie schwer es hierzulande Bahn-Konkurrenten haben, überhaupt auf die Schiene zu kommen. Auch 21 Jahre nach Öffnung des Eisenbahnmarktes in Deutschland ist der hiesige Wettbewerb im Fernverkehr anders als etwa in Österreich oder Tschechien so gut wie nonexistent, aus gleich drei Gründen:
Beispiel Trassen: Nur alle fünf Jahre können Bahnunternehmen einen Rahmenvertrag mit DB Netz, der Netztochter der Deutschen Bahn, abschließen. Ein solcher Vertrag legt die Bahn-Konkurrenten mindestens fünf Jahre fest: So fährt Locomore ab September 2016 morgens um 6.40 Uhr in Stuttgart los, kommt mittags in der Hauptstadt an und fährt dort um 13.04 Uhr zurück. Ankunft in Stuttgart: 21.19 Uhr – und das jeden Tag bis 2020.
Locomore wartete, bis DB Netz in diesem Jahr neue Rahmenverträge verteilte. „Davor haben wir nie gewusst, ob wir unsere Trassen überhaupt im Folgejahr wieder erhalten, und wenn, ob zu gleichen Fahrzeiten“, sagt Ladewig. Für die Monopolkommission ist diese Ungewissheit eines der größten Hindernisse. In einem Sondergutachten forderten ihre Experten im Juli eine „grundlegende Reform“ der Trassenvergabe. Der Abschluss „aperiodischer“ Rahmenverträge müsse endlich möglich sein.
Gebrauchtmarkt für Züge ist sehr dünn
Beispiel Züge: Lokomotiven und Wagen sind in Deutschland so schwer zu finden wie Trüffel, es gibt so gut wie keinen Gebrauchtmarkt für Züge. In der Regel verschrottet die DB ihre alten Züge oder verkauft sie in andere Weltregionen. Siemens, Bombardier oder Stadler hätten zwar neue Züge produzieren können. Doch das hätte rund 30 Millionen Euro gekostet, für Ladewig nicht finanzierbar. Im Ausland entdeckte der Berliner dann ehemalige Intercity-Wagen der DB. Die will Ladewig zurückholen. Verträge sind kurz vor dem Abschluss.
Für die Monopolkommission ist der Engpass bei den Zügen ein Teufelskreis. Da ein Gebrauchtwagenmarkt nicht existiere, „müssen die seltenen Kaufgelegenheiten für geeignetes Rollmaterial zeitgleich mit einer Finanzierung vorliegen, für welche wiederum langfristige Trassenkapazitäten gesichert sein sollten“, kritisieren die Ökonomen. Dadurch werde der Markteintritt „fast unmöglich gemacht“.
Beispiel Finanzierung: Bei mehreren Banken hat Ladewig angeklopft und sein Geschäftsmodell präsentiert. Doch am Ende trauten sie sich nicht – selbst eine 80-prozentige Übernahme des Ausfallrisikos durch staatliche Gründungsunterstützung reichte den Instituten nicht. „Den Banken fehlt es an Erfahrung in dem Markt“, so Ladewig. Doch per Crowdfunding sammelte er schon 150.000 Euro von Miniinvestoren ein. Mehr als doppelt so viel sollen weitere Geldgeber hinzuschießen. In diesen Tagen startet ein Vorverkauf von Ticketgutscheinen über die Crowdfundingplattform Startnext.
Wer es Ladewig nachmachen will, wird es kaum leichter haben. EU-Pläne, die Schienennetze unabhängiger zu machen, haben die nationalen Regierungen gerade einkassiert. So wird in den meisten Staaten im Fernverkehr ein faktisches Monopol zementiert. Die Eisenbahn in Europa müsse „restrukturiert werden, um Investitionen und Wachstum zu erleichtern“, heißt es kritisch in einem aktuellen Positionspapier europäischer Bahnverbände.
Bis zu 300 Stundenkilometer schnell
In Italien ist dies teilweise schon gelungen. Dort investierten Ferrari-Verwaltungschef Luca di Montezemolo und Frankreichs Staatsbahn SNCF eine Milliarde Euro, um die Staatsbahn Trenitalia anzugreifen. Seit 2012 fahren die bis zu 300 Stundenkilometer schnellen Hochgeschwindigkeitszüge des Nuovo Trasporto Viaggiatori (NTV) etwa von Turin und Venedig nach Rom. Die Gewinnschwelle hat NTV allerdings noch nicht erreicht – auch in Italien gibt es Klagen über Probleme beim Netzzugang.
In Deutschland gibt es außer Locomore nur noch einen Bahn-Konkurrenten: den Hamburg-Köln-Express (HKX), an dessen Gründung auch Ladewig beteiligt war. Das Unternehmen verlängert seine Linie ab 2016 immerhin von Köln nach Frankfurt – ein kleines Hoffnungszeichen auf dem Weg zur Profitabilität. Und Motivation für den Locomore-Chef: „Wird unser erster Zug ein Erfolg, folgen andere Ziele: Köln, München, Rügen.“