Bei altgedienten Bahnern gilt Alexander Hedderich als einer, über den die Großkopferten seit Jahren die Hand halten. Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn machte dem promovierten Verkehrswissenschaftler 2004 mit 39 Jahren zum obersten Konzernentwickler und ließ ihn unter dem Codewort Blue Chip den später gescheiterten Börsengang planen.
Als Mehdorn, heute Chef des unfertigen Berliner Flughafens, 2009 wegen Bespitzelung von Mitarbeitern gehen musste, beließ Nachfolger Rüdiger Grube Hedderich überraschend auf seinem Posten. Nach dem Rauswurf diverser Vorstände brauchte Grube offenbar jemanden, der das Innenleben des Schienenriesen wie kaum einer kannte. Wenig später kürte er Hedderich sogar zum Vormann von Schenker Rail, wie die Schienengüterverkehrssparte der Bahn heute heißt, und verlängerte seinen Vertrag Ende 2011 bis 2017.
Wenn Grube das mal nicht bald bitter bereut. Am kommenden Donnerstag muss er dem Aufsichtsrat turnusgemäß wieder die aktuelle Lage des Staatskonzerns darlegen. Doch anders als früher wollen Mitglieder des Kontrollgremiums, allen voran die drei Staatssekretäre aus dem Verkehrs-, dem Finanz- und dem Wirtschaftsministerium, diesmal ausdrücklich Hedderichs Performance zur Sprache bringen. „Es scheint, dass der Mann nur verspricht und nichts hält“, argwöhnt ein Bahn-Kontrolleur, der vom Bund in das Gremium entsandt ist.
Diesen Verdacht zu entkräften wird Grube nicht leichtfallen. Denn der streng vertrauliche Lagebericht zur Bahn in den ersten vier Monaten dieses Jahres, den die WirtschaftsWoche einsehen konnte, weist Hedderich vor allem als Ankündigungskünstler aus. Und dies erst recht im Lichte der ebenfalls streng vertraulichen Eckdaten der Bahn für 2012, die Grube den Kontrolleuren bereits im März präsentierte.
Am meisten stößt den Kritikern im Aufsichtsrat auf, dass Hedderich von Januar bis Ende April mit seinen Güterzügen bei einem Umsatz von 1,6 Milliarden Euro vor Abzug der Zinsen einen Verlust von rund 30 Millionen Euro machte. Dabei hatte er keine fünf Monate zuvor, Mitte Dezember 2012, behauptet, Schenker Rail werde in diesem Zeitraum ein Plus von rund 45 Millionen Euro vor Zinsen erwirtschaften. Solche rosigen Ankündigungen erstaunen aus heutiger Sicht umso mehr, als die Konjunktur bereits im letzten Quartal 2012 in Deutschland abschmierte und eine Besserung im ersten Vierteljahr 2013 schon damals nicht in Sicht war.
Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der Fehlbetrag wiegt aber noch viel schwerer. Denn zu den rund 30 Millionen Euro kommen noch die Zinsen, die Schenker Rail für Kredite bezahlen musste. Gemessen an den rund 86 Millionen Euro, die Hedderich im gesamten Jahr 2012 an Zinsen berappen musste, dürfte sich der operative Verlust im Schienengüterverkehr von Januar bis Ende April deshalb auf schätzungsweise weit mehr als 50 Millionen Euro addieren. Das ist etwa so viel, wie die Sparte im ganzen Jahr 2011, als die Bahn noch an den Spätfolgen der Wirtschaftskrise 2008/09 laborierte, operativ Miese machte.
Schienengüterverkehr - Planzahlen und Kennziffern
Wie die Kennziffern im Schienengüterverkehr der Deutschen Bahn von den Planzahlen abweichen (in Prozent, Werte sind gerundet)
Quelle der Werte: Deutsche Bahn
2012
Plan 2012: 121,1 Milliarden Tonnenkilometer
Ist 2012: 105,9 Milliarden Tonnenkilometer (-13 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 35,7 Milliarden Tonnenkilometer
Ist Januar - April 2013: 34,2 Milliarden Tonnenkilometer (- 4 Prozent) gegenüber dem Plan)
2012
Plan 2012: 5,29 Milliarden Euro
Ist 2012: 4,93 Milliarden Euro (-7 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 1,76 Milliarden Euro
Ist Januar - April 2013: 1,61 Milliarden Euro (-9 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 161 Millionen Euro (Ebit)
Ist 2012: 87 Millionen Euro (Ebit) (-46 Prozent gegenüber dem Plan)
...davon in Osteuropa:
2012
Plan 2012: 21 Millionen Euro (Ebit)
Ist 2012: 8 Millionen Euro (Ebit) (-62 Prozent gegenüber dem Plan)
2013
Plan Januar - April 2013: 45 Millionen Euro (Ebit)
Ist Januar - April 2013: -30 Millionen Euro (Ebit) (-166 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 58 Millionen Euro
Ist 2012: 1 Millionen Euro (-98 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 288 Millionen Euro
Ist 2012: 371 Millionen Euro (+29 Prozent gegenüber dem Plan)
Operativer freier Cash-Flow
Plan 2012: 200 Millionen Euro
Ist 2012: 31 Millionen Euro (-85 Prozent gegenüber dem Plan)
Plan 2012: 1,04 Milliarden Euro
Ist 2012: 1,83 Milliarden Euro (+76 Prozent gegenüber dem Plan)
Eine solche Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist bei Hedderich kein Einzelfall. Das bewies er zum Schrecken der Bahn-Kontrolleure bereits Ende vergangenen Jahres, als der tatsächliche Geschäftsverlauf eklatant hinter seinen Planungen zurückblieb:
- Statt rund 160 Millionen Euro Gewinn vor Zinsen und Steuern landete der Schienengüterverkehr Ende 2012 gerade mal bei einem Plus von 87 Millionen Euro – eine Zielabweichung von beinahe 50 Prozent.
- Noch mehr gruselte es die Bahn-Kontrolleure, als sie gewahr wurden, dass von diesen 87 Millionen Euro nach Abzug der Zinsen ein operatives Betriebsergebnis von nur noch 1,2 Millionen Euro übrig blieb, 98 Prozent weniger, als von Hedderich prognostiziert. Und davon gingen dann auch noch Steuern ab.
- Eine der Ursachen des Debakels war eine schwere Fehleinschätzung Hedderichs, wie viel er in das Geschäft mit Güterwagen und Loks 2012 investieren müsste. Statt wie behauptet rund 290 Millionen Euro waren dies am Ende rund 370 Millionen, fast 30 Prozent mehr.
- Damit konnte Hedderich auch sein Versprechen nicht halten, 2012 die Finanzkraft des Schienengüterverkehrs gegenüber 2011 kräftig zu stärken. Statt einen Mittelzufluss von 200 Millionen Euro zu erwirtschaften, kratzte er ganze 31 Millionen Euro zusammen. Dadurch konnte er die Schulden nicht wie angekündigt um eine halbe Milliarde reduzieren, sondern lud weitere 300 Millionen Euro Pump auf die Bilanz.
Hedderich lehnt es ab, zu Interna konkret Stellung zu nehmen. Die gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten hätten sich deutlich ungünstiger entwickelt als vorausgesagt, heißt es offiziell aus der Bahn. Der europäische Schienengüterverkehrsmarkt sei 2012 im Zuge der Euro-Krise um mehr als fünf Prozent geschrumpft. Auch 2013 würden sich die wirtschaftlichen Rahmendaten ungünstiger entwickeln als erwartet. Insbesondere die Entwicklung in der Auto-, Stahl-, Chemie- und Papierindustrie bereite Sorgen.
Der Güterverkehr auf der Schiene gilt als das schwierigste Geschäft der Bahn. Weil viel Kapital in Form von Waggons gebunden ist, mindert eine geringere Auslastung in hohem Umfang den Gewinn.
Gefährlicher Schachzug
Vor allem aber ist die Sparte wie keine andere auf der Schiene vom Wettbewerb bedroht. Umso heftiger rächen sich deshalb Fehleinschätzungen und Managementfehler. Besonders krass zeigt sich dies im sogenannten Hinterlandverkehr, über den sich jedes Jahr Hunderttausende Container von den Häfen an der Nordsee auf der Schiene über ganz Deutschland und Teile Europas ergießen. Hier verliert die Deutsche Bahn schon seit Jahren Marktanteile an Wettbewerber wie die Schweizerischen Bundesbahnen oder TX Logistik im rheinischen Bad Honnef, seit 2011 eine 100-prozentige Tochter der italienischen Staatsbahn FS.
Ausgerechnet in diesem Geschäft unternahm Hedderich im vergangenen Jahr einen gefährlichen Schachzug, indem er die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) aus einem Gemeinschaftsunternehmen namens TFG Transfracht in Frankfurt entließ. TFG Transfracht transportiert Container aus und nach Hamburg. Die städtische HHLA störte sich immer mehr nach an ihrer Ansicht zu hohen Preisen. Zudem waren die Hamburger mit der Leistung des Joint Ventures zunehmend unzufrieden, weil es die Züge umständlich über den Güterbahnhof Maschen abwickelte, wo die Deutsche Bahn ein Terminal betreibt. Der HHLA wäre es lieber gewesen, vollständige Züge allesamt direkt von Hamburg losfahren zu lassen.
Also gaben die Hanseaten ihre Anteile an TFG Transfracht an die Bahn ab und erwarben im Gegenzug den vollen Zugriff auf die Güterbahnen Polzug und Metrans, an denen die Bahn ihrerseits beteiligt war. Beide Unternehmen bedienen vor allem die osteuropäischen Länder, wo Hedderich im vergangenen Jahr weit hinter seinen Planungen zurückblieb.
Ursache für all die zahlreichen Fehleinschätzungen Hedderichs dürften neben der Konjunktur die Probleme sein, die der radikale Umbau der Schienengüterverkehrssparte zur sogenannten Netzwerkbahn bereitet. Künftig, so Hedderichs Idee, sollen Güterzüge, die bisher ohne Unterbrechung vom Ausgangsort ans Ziel fuhren, auch einzelne Waggons für andere Bestimmungsorte aufnehmen. Dazu müssten auch solche Züge an Terminals zerlegt und neu zusammengesetzt werden. Ziel ist ein fester Fahrplan wie im Schienenpersonenverkehr. Bis 2014 will Hedderich das neue System einführen. In der Praxis habe er jedoch „die zeitlichen Abläufe völlig unterschätzt“, sagt ein Insider. Die Ergebnisse des Umbaus dürften sich frühestens in zwei Jahren zeigen.
Mächtige Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG
Offenbar fügt sich Hedderich dabei auch zu sehr den Wünschen der mächtigen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG (früher Transnet und GDBA), die verhindern will, Standorte zusammenzulegen, wo mehr Mitarbeiter als nötig stationiert sind. Dadurch verlören Bahner, die zur EVG-Klientel gehören, an anderen Standorten ihre Jobs.
Die betonte Rücksichtnahme auf die EVG gibt einen Hinweis, wie Hedderich es bei der Bahn so schnell so weit bringen konnte. So stieg der in Wetzlar geborene Hesse 1999 als einer zum Unternehmen, der bis dahin forsch gegen den Verbleib des Schienennetzes unter dem Dach des Staatskonzerns focht. „Ein vertikal integriertes Schienenverkehrsunternehmen“ wie die Deutsche Bahn besitze „stets Anreize, seine nur im Transportbetrieb tätigen Konkurrenten bei der Vergabe infrastruktureller Leistung zu diskriminieren“, hatte er in seiner 1996 veröffentlichten Dissertation geschrieben. Diese „Wettbewerbsverzerrung“ sei nur durch eine „Trennung von Infrastruktur und Transportbetrieb“ zu beseitigen, Verluste von Vorteilen des Verbundes würden durch „Effizienzsteigerungen“ durch Wettbewerb „überkompensiert“. Mit dieser Ansicht lag er goldrichtig beim früheren Thyssen-Chef Dieter Vogel, der bei Hedderichs Amtsantritt dem Bahn-Aufsichtsrat vorstand.
Doch dann kam Ende 1999 Mehdorn, biss Vogel 2001 ob dieser Meinung weg, taufte das Eisenbahngeschäft „Rad-Schiene-System“ und erklärte den Verbleib des Netzes bei der Bahn zur Konzernräson. Daraufhin schwor Hedderich seiner Überzeugung ab. Er habe „viel hinzugelernt“, sagte er und wurde Mehdorns rechte Hand. Auf diese Weise verschaffte er sich zugleich die Unterstützung der Eisenbahnergewerkschaft im Aufsichtsrat, auf deren Wohlwollen er deswegen nun auch angewiesen ist.
Wie sich Hedderich auch in Grubes Herz zu graben versteht, daran erinnern sich die obersten Konzernführungskräfte der Bahn noch allzu gut, die am 13. Dezember 2012 in der Fischauktionshalle in Hamburg zusammengekommen waren. Als sich das Treffen dem Ende zuneigte, ergriff Hedderich das Wort und feierte euphorisch das Rekordergebnis der Bahn 2012. Unangenehm hängen blieb bei einigen Bahn-Managern allerdings die Hymne, die Hedderich auf seinen Chef anstimmte.
Für das gute Ergebnis, „lieber Herr Grube, danken wir Ihnen, und dass Ihr Vertrag verlängert wurde, darüber freuen wir uns alle“, sagte Hedderich, so ein Teilnehmer. Dafür gab es höflichen Applaus.