Trauben haben es auch nicht leicht. Von Frühjahr bis Herbst über hängen sie am Rebstock und sind mehr oder minder schutzlos Wind, Sonne, Kälte und Regen ausgesetzt. Jedes Jahr ist anders. Mal ist es zu kalt, mal zu warm, mal zu feucht, mal zu trocken. Ideale Bedingungen, so das allgegenwärtige Stöhnen vieler Winzer, gibt es nie. Doch im Keller schlägt die Stunde der Techniker. Einmal zu Most gepresst, kann mit gezüchteten Hefen, Temperaturkontrolle der Gärung und der Zugabe von Schwefel der Zucker der Trauben in Alkohol verwandelt werden. Bis ein Wein zustande kommt, der den Wünschen des Konsumenten entspricht.
Mal schlägt das Pendel in Richtung trocken, dann wieder in Richtung feinherb, mal sollen die Weine gehaltvoller, dann wieder leichter sein. Komplizierter als die Traube, scheint nur noch der genussvolle Trinker zu sein.
Für Winzer Bernhard Ott in Wagram (Niederösterreich) gab es 2009 nach dem Anquetschen seiner besten Trauben der Sorte Grüner Veltliner kein Zurück mehr. Die matschige Masse, Maische genannt, füllte er in riesige, ins Erdreich eingelassene Tongefäße, Qvevren genannt, machte den Deckel drauf – und machte erst mal gar nichts.
Vin Naturel heißt das Zauberwort der Weinbranche, das derzeit die Gemüter erhitzt. Wein, so natürlich vinifiziert, wie das schon vor mehr als 7000 Jahren passierte, als die Menschheit begann, aus Most Wein herzustellen. Es ist der romantische vorindustrielle Gegenentwurf zu einer Milliardenbranche, die aus dem als Naturprodukt inszenierten Getränk eine Massenproduktion mit allen technischen Raffinessen gemacht hat.
Der idyllischen Vorstellung von Winzern in Kellergewölben mit Holzfässern steht eine durchgeklügelte Herstellungstechnik gegenüber, die mit gezüchteten Hefen die Gärung in Gang setzt und die Aromatik bestimmt, den Prozess der Gärung mit Kühlsystemen kontrolliert, mit Holzchips das Aroma von Fässern nachahmt oder mit Zentrifugen den Weinen Wasser entzieht, um sie noch intensiver werden zu lassen.
Die besten Weine des Gault Millau 2013
2011 Goldlack Trockenbeerenauslese
Schloss Johannisberg (Rheingau)
2011 Saarburger Rausch – 1 –
Zilliken (Saar)
2002 Chardonnay Prestige Brut Blanc de Blancs
Raumland (Rheinhessen)
2011 Ilbesheimer Kalmit "Großes Gewächs"
Kranz (Pfalz)
2011 Forster Pechstein "G.C."
Dr. Bürklin-Wolf (Pfalz)
2010 Wildenstein "R"
Bernhard Huber (Baden)
2011 Rauenthaler Nonnenberg
Georg Breuer (Rheingau)
Der Naturwein erscheint dem gegenüber als idealisierte Verkörperung eines Produkts, das eben nicht des Profits zuliebe gefertigt wird, sondern aus ehrenhafter Naturverbundenheit. In Deutschland kommt die Welle erst jetzt so richtig an. „Ich wundere mich, warum das so lange gedauert hat“, sagt Bernd Kreis, ehemaliger Sommelier des Restaurants Wielandshöhe in Stuttgart und heute Inhaber eines Weinfachgeschäfts. Kreis beschäftigt sich mit Begeisterung seit Mitte der Neunziger mit dieser Art der Weinproduktion und führt sie mit Überzeugung im Programm.
In Frankreich sei der Vin Naturel viel weiter verbreitet, in Paris hätte sich eine Vielzahl von Bistros dieser Art von Weinen verschrieben.
In die Pariser Bistros würde auch Bernhard Otts Wein Qvevre gut passen. Ott verzichtet nicht nur auf Zuchthefen oder Temperaturkontrolle, er baut einen Teil seiner Ernte auch in tönernen Gefäßen aus, die aus Georgien stammen, den Qvevren. Sie sind in einem Raum seines Weinguts in die Erde versenkt. In Georgien wird diese Art der Vinifizierung bis heute praktiziert. Für Ott ist die Verwendung seiner Qvevren die logische Fortführung der Umstellung seines Betriebs auf biodynamischen Anbau.
Diesen Weg beschritt er wie viele andere Spitzenwinzer in Europa auch deshalb, weil das Klima und die konventionelle Bewirtschaftung die Winzer vor neue Probleme stellten. „Die Weinstöcke stehen zunehmend unter Stress“, sagt Ott. Der biodynamische Anbau helfe den Pflanzen.
Experiment mit Amphoren aus Ton
„Bei der Umstellung haben wir allerdings festgestellt, dass das nur der halbe Weg ist.“ In Georgien besuchte Ott zwei Winzer, die Erfahrung in der Vinifizierung mit tönernen Gefäßen haben, die zwischen 1500 und 2500 Euro pro Stück kosten und etwa 2500 Liter fassen. 15 Stück kaufte Ott. Und erzählte niemandem davon außer zwei Vertrauten. Den ersten Jahrgang ließ er in Ruhe vinifizieren, erst zwei Monate nach dem Umfüllen in die Qvevren wagte er einen vorsichtigen Test. „Heute verzichte ich fast vollständig darauf, sondern kann nach etwa sechs Monaten den Wein abfüllen.“
Etwa fünf Prozent seiner Trauben verarbeitet Ott inzwischen so, dabei soll es bleiben.
Sein Kollege Peter Jakob Kühn aus Oestrich-Winkel im Rheingau ist einen ähnlichen Weg gegangen und bekennt sich zu seinen Experimenten mit tönernen Amphoren, die mit 350 Liter deutlich kleiner sind als die Qvevren von Ott und nicht im Boden vergraben werden. Als allein selig- machende Variante sieht sie Kühn freilich nicht: „Es ist eine Spielerei und ein persönliches Gefühl für diesen ursprünglichen Weg der Weinbereitung, doch wir wollen uns nicht ausschließlich damit identifizieren.
“Die Aufmerksamkeit für seine Amphorenweine sei groß, aber seit den ersten Versuchen im Jahr 2005 ist Kühn auch klar, dass nicht alle nachvollziehen können, was ihn an der archaischen Art der Vinifikation interessiert: „Da ist man immer schnell auf der Seite der Spinner.“
Geist in der Flasche
Parallel zu den renommierten Winzern, die ihre konventionell bewirtschafteten Betriebe zu biodynamischen umbauen, wächst die Szene der Winzer, die den geistigen Überbau in die Flasche bringen wollen – notfalls mit all seinen Fehlern. Die natürliche Produktion ohne Eingriffe als Dogma des Weinbaus führt dazu, dass Fehltöne akzeptiert werden, die in einem Restaurant normalerweise zur Reklamation der Flasche führen würden. Unter dem Deckmantel der Naturverbundenheit werden Fehler kaschiert, die auch beim gutwilligsten Konsumenten den Kragen platzen lassen.
So ereiferte sich Gerhard Retter, der Sommelier und Betreiber des Restaurants Fischerklause am Lütjensee bei Hamburg, in einem Gastbeitrag der Internet-Weinpublikation „Captain Cork“: „Wird der Erdfass-Mist jetzt Mode?“ Auf Messen wie der Pro Wein in Düsseldorf oder der Vie Vinum in Wien habe er zahlreiche Amphorenweine probiert, die ihn ernüchtert hätten. „Sie sind unsauber gewesen, mit modrigen Noten.“ Retter, ein Freund des biodynamischen Anbaus, „nervt die Tatsache, dass diese Weine plötzlich aus dem Boden schießen wie Pilze im feuchten Wald“.
Der Verzicht auf Schwefel erlaubt Mikroorganismen, Fehlaromen zu bilden. Auch deshalb ist Bernd Kreis ähnlich vorsichtig. „Die Gleichung Natur gleich gut geht nicht auf“, sagt Kreis. „Schon der Begriff Vin Naturel ist mir zu angestrengt“, schließlich sei kaum nachzuprüfen, ob ein Winzer sich an seine postulierten Reinheitsgebote halte. Auch er hat zu viele schlecht gemachte Weine gekostet, von Winzern, die Fehler schicksalsergeben hinnehmen und die Plörre an den Kunden weiterreichen. „Aber Mist ist Mist.“
Cooler Vin Naturel
Ausgerechnet in der Hauptstadt der Weinnation finden die Naturweine großen Anklang. Dort gehören Bistros wie das Vivant mit seinem reichen Angebot an Vin Naturel zu den umschwärmtesten eines Publikums, das sich auf urbanes Gutmenschtum versteht: Der Bourgeois Bohemian, kurz Bobo, bringt, wie der Erfinder des Begriffs David Brooks erläutert, „Reichtum und Rebellion, beruflichen Erfolg und eine nonkonformistische Haltung“ spielend unter einen Hut.
Es gilt freilich nicht nur als cool, Vin Naturel zu trinken, er schmeckt vielen auch einfach besser. Für Bernd Kreis, der Paris regelmäßig besucht, ist der Erfolg leicht zu erklären: „Diese Weine finden schneller Freunde unter Menschen, die zuvor keinen oder nur sehr wenig Wein tranken“ – und deren Geschmacksbild noch nicht geprägt sei von traditionell hergestelltem Wein: Die Sanftheit und Geschmeidigkeit des Vin Naturel komme den Erwartungen von Anfängern entgegen.
Weitere Titel, die der Gault Millau verliehen hat
Antje Kirsch vom „Caroussel“ in Dresden
Thomas Sommer vom "Schloss Lerbach" in Bergisch Gladbach bei Köln
Michael Käfer, der vom Bundestag in Berlin über das Oktoberfest bis in die BMW Welt von München gastronomisch engagiert ist
René Frank vom "La vie" in Osnabrück
Ingo Holland vom "Alten Gewürzamt" in Klingenberg am Main.
Naturwein schmeckt anders, Amphorenwein erst recht. „Das ist ein sehr individueller Geschmack“, sagt Bernhard Ott, eine „eigenständige Kategorie“, die auch für den neugierigen Weinliebhaber interessant sei: Im besten Fall kämen all die Charakteristika des Bodens, der Traube und des Wetters stärker zur Geltung als bei den Weinen, die Ott in klassischer Manier produziert.
Mit den Geschmacksbeschreibungen tun sich die Experten noch schwer. Ist er frei von Fehltönen, entzieht sich Amphorenwein dem üblichen Vokabular der Weinkritik. Allein das für Weißwein typische Aroma von Früchten auf der Zunge, sei anders, sagt Bernd Kreis. Es erinnere an Most, und die vordergründigen Geschmäcker tendierten eher in Richtung Apfel. Die Gärung in nicht hermetisch abgedichteten Gefäßen bringt die Weine früher mit mehr Sauerstoff in Berührung, die Oxidation macht sich bemerkbar. Mehr noch in den Amphoren, die mit ihrem dünneren Ton oberirdisch stehen.
Um sich in die Welt der Amphoren- und Qvevren-Weine hineinzutrinken, braucht der Kunde nicht nur Offenheit, sondern auch Geld. 45 Euro kostet Otts Qvevre, Kühns Amphoren-Wein ebenfalls. Weder für Ott noch für Kühn sind sie – obwohl mit die teuersten Flaschen im Angebot – ein wirtschaftliches Standbein. Eine komplette Umstellung der Produktion wie beim italienischen Winzer Josko Gravner, dem Wegbereiter der Amphoren-Vinifikation, kommt für beide nicht infrage.
Auch Peter Jakob Kühn sieht dazu keinen Anlass. An mangelnder Neugierde liegt es nicht: So hat er 2002 damit begonnen, als ersten Schritt vor der Amphorenvergärung den Wein aus Most und einem Teil Maische zu vergären: „Dafür wurde ich abgestraft von Weinkritikern.“ Heute sei das Verfahren anerkannt – und zudem historisch beglaubigt, denn schon 1833 sei für hochwertige lagerfähige Weine die Maischegärung „gang und gäbe gewesen“.
Für Bernhard Ott ist sein Qverve weder simple Ergänzung noch Ersatz für seinen hoch erfolgreichen Grünen Veltliner: „Das eine ist die Pflicht, das andere die Kür.“ Letztere polarisiere und bilde eine Art Vorhut. „So kann ich die Weine der anderen Lagen weiter in Ruhe individualisieren, denn der Versuchsballon ist unterwegs.“ Ein Versuchsballon aus Ton.