In einem Monat ist Weihnachten! Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Bei der Heimfahrt vor Weihnachten gibt es für Bahnfahrer ja eine lange Tradition: das adventliche Stehen im Toilettenbereich. Weil das billiger ist. Der anstehende Konsumterror wird schließlich schon teuer genug.
Wobei: Eine Platzreservierung in einem ICE kostet ab 15. Dezember 4,50 Euro. Ich finde, da kann man nichts sagen. Für den Ärger, den man sich damit einhandeln kann, muss man bei anderen Unternehmen deutlich tiefer in die Tasche greifen.
Wie schafft die Deutsche Bahn es, das hohe Level an Unzufriedenheit bei den Fahrgästen rund um das Thema Reservierung seit Jahren relativ stabil zu halten oder gar leicht zu erhöhen - und das bei zuletzt gerade einmal 12,5 Prozent Preissteigerung für einen freigehaltenen Sitz?
In aller Bescheidenheit - ich weiß es: indem die Bahn die Arbeit auf die Fahrgäste abwälzt. Letztendlich steuert die Bahn in der ausgeklügelten Kunden-Verprellungs-Logistik nur drei Dienstleistungen bei:
Die umgekehrte Wagenreihung
Hier agiert das Unternehmen absolut zuverlässig. Das räumen mittlerweile auch Bahnhasser ein. Und dafür muss mitunter immerhin ein ganzer Doppelzug mit einem Dutzend Wagen umgedreht werden. Zugeben passiert das nicht ganz uneigennützig: Fahrgäste mit Reservierung, die im Winter bei plötzlich angezeigter umgekehrter Wagenreihung von Gleis-Abschnitt A nach F hasten müssen, brauchen es an Bord weniger warm. Und im Sommer nehmen sie mehr Getränke im Bordbistro ab.
Die ausgeschalteten Reservierungsanzeigen über den Sitzen
Hier ist die Technologie in der Vergangenheit vorangeprescht, da reibt man sich nur die Augen. Wo früher der Zugchef noch mühevoll die kleinen Zettel in den Plexiglashalterungen vertauschen oder vernichten musste, lassen sich heute sämtliche Anzeigen mit einer einzigen fehlerhaften Dateneinspielung bequem aus dem Schaffnerabteil löschen. Dank der Diskette. Darum beneidet uns die Welt. Und das spart dem Zugchef Rennerei, was nebenbei den Teppich schont. Nachhaltiger geht´s nicht.
Der verpasste Anschluss-Zug
Die unangefochtene Königsdisziplin. Ich würde wetten, die Fahrdienstleiter werden hierfür heimlich in Hannover ausgebildet. Hier kommt der ICE aus dem Süden nämlich meistens auf die Minute zu spät. Der besondere Thrill: Oft sieht man den reservierten Hamburg-ICE noch am Gleis stehen, spürt aber genau: Den schaffe ich nicht mehr.
Das kriegen Sie auf keiner Autobahn!
Ein sozio-logistisches Schauspiel
Was den Rest der Reservierungs-Prozedur angeht, lässt der Staatskonzern allerdings seine Kunden für ihn schuften. Die Folge: ein grandioses sozio-logistisches Schauspiel. Hier werden verkrustete Gesellschaftsstrukturen für die Dauer einer Bahnfahrt aufgebrochen. In keinem Flugzeug kann es passieren, dass am Ende allen Stühle-Rückens jemand ohne Sitzplatz dasteht. Bei der Bahn schon.
Da vertreibt der 16-Jährige mit der Fahrkarte wedelnd die Dame mit Hut und Dackel. Da räumt der Vorstandschef mit Plauze den Platz für die Friseuse mit Erdbeerkaugummi. Da hat der Neonazi in Nadelstreifen dem Schwarzafrikaner mit Baseball-Kappe zu weichen.
Gewissensfrage: Darf man eine Mutter mit Kind verscheuchen? Gut, attraktive Mütter bitte ich stets ohne Umschweife, ihr Kind zu schnappen und das Feld zu räumen. Hübsche Menschen werden Tag ein Tag aus schon genügend privilegiert in unserer grenzenlos sexualisierten Gesellschaft.
Aber sonst? Darf man? Die Antwort: ja aber hallo! Denn Mütter mit Kindern brechen niemals überstürzt zu einer Reise mit dem Fernzug auf. Niemals. Das belegen mehr als 4000 Studien aus der ganzen Welt. Es ist ihnen also problemlos zuzumuten, ihrerseits Plätze zu reservieren. Was soll der Geiz?
Doch ich bin ein Mensch mit zarten Nerven. Und ich lasse mir nicht gerne in einem vollgestopften Großraumwagen schlechte Argumente von jungen Müttern mit weinenden Babys um die Ohren hauen. Deshalb ersann ich einst vor Jahren eine List:
„Spendieren Sie mir einfach das Geld für meine Reservierung und ich gehe im Restaurant-Wagen etwas trinken.“ Moralisch sauber - und ich garantiere Ihnen: Schneller kriegen Sie Ihren Sitzplatz nicht geräumt.
Die Problematik der Bahn-Comfort-Plätze
Und dann die Bahn-Comfort-Plätze. Das sind für Vielfahrer freigehaltene Sitzplätze. Sie sind stets leer, wenn der Zug leer ist, und gerammelt voll, wenn der Zug gerammelt voll ist. Mit diesem System hat die Bahn ihre Kunden massenhaft zu notorischen Verbrechern erzogen. Denn: Wer ist privilegierter Vielfahrer und für wen ist der ICE-Sitz nur eine soziale Hängematte auf Rädern? Leider sieht man den Menschen ihre Niedertracht nicht an. Also fragte ich anfangs stets laut in die Runde: „Hat hier jemand keine BahnCard mit Comfort-Status?“ Doch plötzlich schliefen alle, mussten dringend telefonieren, waren taubstumm etc. Deshalb schwenkte ich auf eine andere Taktik um. Ich konzentrierte mich auf Personen, die unmöglich Vielfahrer sein konnten: Teenager, japanische Liebespärchen mit großen Trolleys über den Köpfen oder beschwipste Hausfrauengruppen. Die überrumpelte ich mit sonorer Stimme und mit scharfem Blick: „Haben Sie eine BahnComfort-Karte?“ Sie glauben nicht, wie unverfroren Japaner und Hausfrauen lügen können!
Aber soll ich etwa durch die Reihen gehen und die Fahrkarten kontrollieren? So weit kommt´s noch. Ich meine, ich würde es ja machen. Allein es fehlt mir die Zange.
So folgte ich jüngst einer Schaffnerin bei ihrem Kontrollgang und lugte von hinten über ihre Schulter auf die gezückten BahnCards. Die Fahrgäste staunten nicht schlecht, als sie plötzlich von hinten ein lautes „AHA!“ hörten. Ich durfte mir dann einen Platz aussuchen. Aber die meisten Vielfahrer trauen sich das ja nicht.
Übrigens: Für internet-affine Fahrgäste, die keinen Sitzplatz mehr ergattern konnten, hat sich die Bahn ein besonderes Schmunzel-Schmankerl überlegt: die Online-Reservierung bis kurz vor Abfahrt. Reservieren Sie einfach mit ein paar Klicks einen Sitzplatz im fahrenden Zug ab dem kommenden Bahnhof und beeindrucken sie den anderen mit folgendem Satz: „Ich sage es Ihnen schon jetzt, damit Sie Zeit haben, in Ruhe zusammenzupacken: Ab Göttingen hätte ich gerne Ihren Platz.“
Mehr geht für 4,50 Euro nun wirklich nicht.