Was soll das mit dem Trinkgeld? Eigentlich muss man sagen: Es ist eine ganz schön schiefgelaufene Art der Vergütung von in Anspruch genommenen Dienstleistungen. Willkür aus Tradition.
Ursprünglich war ja mal die Idee: Ich bin mit einer Dienstleistung besonders zufrieden und möchte mich gerne mit einer freundlichen Geste erkenntlich zeigen. Also am besten mit Geld on top.
Aber da geht es ja schon los mit den Problemen. Und das sage ich als glühender Befürworter einer sehr fairen Bezahlung aller Beteiligten.
1. Es trifft oft die Falschen
Oftmals ist der oder die mit dem direkten Kundenkontakt gar nicht im Wesentlichen verantwortlich für Wohl und Wehe. Weder kann der Kellner etwas dafür, wenn das Steak zu trocken ist, noch dafür, wenn es von der Köchin auf den Punkt aus der Pfanne gerettet wurde. Und wird die geniale Köchin hinter den Kulissen jemals etwas vom Trinkgeld abbekommen? Oder verdient sie mehr per Vertrag, weil nein? Oder wird das Trinkgeld im Team geteilt? Keine Ahnung. Mal so, mal so.
Neulich kam eine Rewe-Lieferung bei mir an. Alle drei Mozzarella-Tütchen waren aufgeplatzt und die Molke suppte durch die Papptüten auf den Teppich. Ja, soll ich jetzt der armen Lieferantin das Trinkgeld kürzen, nur weil die Packer im Lager die Milchkartons und Spaghetti gleichmütig auf die „Weichteile“ geworfen haben? Nein. Obwohl die Dienstleistung unterm Strich Murks war.
Selbst im Friseur-Salon kassiert heute nicht mehr immer der persönliche Friseur ab, sondern der Kassierer. So dass der Dienstleister vom Trinkgeld gar nichts mitbekommt, außer Sie rufen durch die ganze Bude: „Sébastien, ich habe dir 5 Euro dagelassen, gell? Nicht, dass das untergeht, gell?“
2. Aus Anerkennung wurde Bestrafung
Trinkgeld wird längst erwartet, weil dringend zum Auskommen benötigt. Toll! So ist das immer, wenn man regelmäßig großzügig ist. Wie wenn die Enkel stocksauer sind, weil die Oma ausnahmsweise mal keine Toffifee mitbringt.
Das System ist mittlerweile oft darauf ausgelegt, dass die Kunden den schlechten Stundenlohn ausgleichen. Wenn Sie also mit einem Trinkgeld wirklich mal beeindrucken wollen, dann müssen Sie schon sehr tief in die Tasche greifen. Eine unheilvolle Trinkgeld-Inflation, die keinen der Beteiligten glücklich machen kann.
Der Ärger über verweigertes Trinkgeld überwiegt die Freude über ein geleistetes Trinkgeld bei Weitem. Wenn Sie im Restaurant mal nichts extra springen lassen, müssen Sie deshalb schon gute Argumente haben. Für Ihren kleinen Stehgreif-Vortrag: „Warum ich mich heute nicht zusätzlich erkenntlich zeige.“ Ewig gewartet, Kartoffelpüree war kalt, ich saß im Durchzug.
Allein die Summe auf der Rechnung zu bezahlen, wäre sonst mittlerweile peinlich. Und so war es doch nie gedacht.
3. Trinkgeld wird ausgerechnet bei Inflation weniger
Trotz Mindestlohn – das Blödeste am Trinkgeld ist: Kellnerinnen, Lieferanten, Chauffeure, Stylistinnen hängen zu einem großen Teil ihres Einkommens vom guten Willen der Kunden ab. Von deren Willkür also. Bezahlung nach Gutsherrenart: „Hach, komm, ich bin heute mal nicht so. Hier, Mädsche, steck ein.“
Wie passt das zur sozialen Marktwirtschaft? Da ist dann die Kellnerin im Vorteil, die besonders einnehmend lächeln kann und der Taxifahrer im Nachteil, der sich wegen seiner Deutschschwäche einen Smalltalk nicht zutraut.
Und gerade jetzt, da viele die Inflation am Ende des Monats merken, knausern die Kunden aus eigener Betroffenheit mit dem Trinkgeld. Das erzählen im Service Beschäftigte. Was für ein perverses System. Aus „gut gemeint“ wird ein echtes Problem für ganze Branchen. Kellnern etwa lohnt sich so für viele nicht mehr. Obwohl Trinkgeld ja sogar steuerfrei ist. Was niedrige Löhne plus Trinkgeld als Konstrukt zementiert.
4. Trinkgeld abwählen technisch kaum möglich
Und als wäre nicht schon alles blöd genug, kommt mittlerweile die digitale Trinkgeld-Raffgier hinzu. Das geht dann so: Stellen Sie sich ein schickes Café vor, also so eins mit hellem Holz, weißen Tischplatten, mit Stullen, Cupcakes und Selbstbedienung.
An der Kasse: „Das sind dann 12 Euro 40 bitte.“
Sie: „Mit Karte bitte.“
Kassiererin bittet Sie, Ihre Karte kurz an das Lesegerät zu halten und dreht das an einem Ständer montierte iPad herum: „Bitte auswählen.“
Und dann steht da:
Trinkgeld: 10 Prozent 15 Prozent 20 Prozent
Da dürfen Sie dann etwas anklicken. Weil Sie es sind. Hier wird also zum einen erwartet, dass man bei Selbstbedienung vor dem Verzehr Trinkgeld gibt, zum anderen sind 10 Prozent von 12 Euro 40 bereits 1 Euro 24. Aufrunden auf 13 Euro wird von Ihrem Dienstleister gar nicht mehr als Option in Erwägung gezogen. 20 Prozent wären schon 2 Euro 48. Bei Selbstbedienung. Bevor man auch nur einen Schluck getrunken und einen Bissen herunterschlucken konnte, um zu beurteilen, ob das Gebotene ein Trinkgeld verdient.
So wird das Trinkgeld vom Dankeschön zur reinen leistungsunabhängigen Lohnaufstockung.
Die meisten dürften am Ende wohl 15 Prozent wählen. Motto: „20 Prozent muss nun wirklich nicht sein. Aber ein 10-Prozent-Knauser will ich auch nicht sein.“ Die goldene Mitte. Dass Sie das Trinkgeld verweigern können, steht ganz unten klein zum Anklicken. Aber das ist es eben. Es fühlt sich an wie verweigern. Zumal das Rumgeklicke zur Reduzierung des Betrags auch noch Zeit kostet.
Dass der Dienstleister kein Wort persönlich dazu sagen muss, sondern ein elektronisches Gerät hinhält, von dem sich der Kunde dann bedrängen lassen muss, verschleiert die Bettelei und macht den Kunden entweder zum Dummen oder zum Knauser.
Die Frage ist: Ist ein auf dem Display voreingestelltes Trinkgeld mit winziger Abwählfunktion noch wirklich freiwillig? Wenn nein, müsste die abgenötigte Extra-Gebühr versteuert werden.
Dass hohe Trinkgeldforderungen per iPad in den USA gut ankommen, wo Service-Angestellte mitunter nur gut 2 Dollar pro Stunde an Lohn erhalten und deshalb auf das Trinkgeld angewiesen sind, ist klar. Das Prozedere ist dort besonders prekär, aber Usus. Dort wurde Touristen aus Europa schon vor Jahrzehnten mit Kuli auf die Rechnung gekritzelt, wie hoch das Trinkgeld sein sollte.
Aber in Deutschland ist Trinkgeld nun einmal eben nicht als reguläre Bezahlung am Fiskus vorbei gedacht. Die Trinkgeld-Nötigung durch den Arbeitgeber gegenüber seinen Kunden schiebt den Kunden den schwarzen Peter für die schlechte Bezahlung zu.
Wenn den Unternehmen das Gehalt ihrer Angestellten zu niedrig erscheint, dann sollten sie endlich fair bezahlen und im Zweifel die Preise für die Kunden erhöhen. Für einen Stundenlohn, der berechenbar ist. Versteuert. Das Trinkgeld wird abgeschafft und im Gegenzug die Umsatzsteuer gesenkt. Das ist die Lösung. Gegen die Almosen.
Halten wir es wie die Japaner. Dort gilt Trinkgeld als eine Überheblichkeit. Die faire Bezahlung wird eben auf Augenhöhe vereinbart. Vorab. So macht man Geschäfte.
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Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 18. Januar 2024 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.