WirtschaftsWoche Online: Herr Kaeser, war das zurückliegende Jahr für Sie ein Jahr des Aufbruchs, des Einbruchs oder des Durchbruchs?
Joe Kaeser: Ein Jahr des Einbruchs war 2014 garantiert nicht. Wir haben immerhin unseren Ertrag um 25 Prozent gesteigert, und das in einer Zeit des Umbruchs, in dem sich unser Unternehmen befindet. Das zurückliegende Jahr war aber vor allem ein Jahr des Aufbruchs mit der strategischen Neuausrichtung von Siemens.
Moment, in der Vergangenheit war immer wieder die Rede von einem massiven Stellenabbau bei Siemens. Und da soll man nicht von einem Einbruch reden können?
Zunächst mal haben wir im vergangenen Geschäftsjahr weltweit mehr als 33 000 Mitarbeiter eingestellt. Wenn es allerdings darum geht, die Bürokratie abzubauen und schneller zu werden, sind bestimmte Funktionen im Konzern überflüssig. Wo Inhalte und Aufgaben entfallen, wollen wir so viele betroffene Mitarbeiter wie möglich an anderen Stellen einsetzen.
Die neun Divisionen von Siemens
Produkte und Anwendungen: Gasturbinen, Dampfturbinen, Energiegewinnung aus Schiefergas
Umsatz 2014/2015: 13,2 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 1,4 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 10,8 Prozent
Angestrebte Marge: 11-15 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Lisa Davis
Produkte und Anwendungen: Windkraftanlagen
Umsatz 2014/2015: 5,7 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 0,16 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 2,8 Prozent
Angestrebte Marge: 5-8 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Lisa Davis
Produkte und Anwendungen: Stromübertragung, Kraftwerkssteuerung, Transformatoren
Umsatz 2014/2015: 11,9 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 0,57 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 4,8 Prozent
Angestrebte Marge: 11-15 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Lisa Davis
Produkte und Anwendungen: Gebäudesicherheit, Brandschutz, Gebäudeautomatisierung
Umsatz 2014/2015: 6,0 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 0,553 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 9,2 Prozent
Angestrebte Marge: 8-11 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Roland Busch
Produkte und Anwendungen: Software zur Steuerung von Fertigungsprozessen, Industrieroboter
Umsatz 2014/2015: 10,0 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 1,7 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 17,5 Prozent
Angestrebte Marge: 14-20 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Klaus Helmrich
Produkte und Anwendungen: Industrieautomatisierung
Umsatz 2014/2015: 9,9 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 0,536 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 5,4 Prozent
Angestrebte Marge: 8-12 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Klaus Helmrich
Produkte und Anwendungen: Hochgeschwindigkeitszüge, U-Bahnen, Straßenbahnen, Zugleitsysteme
Umsatz 2014/2015: 7,5 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 0,588 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 7,8 Prozent
Angestrebte Marge: 6-9 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Roland Busch
Produkte und Anwendungen: Finanzdienstleistungen
Angestrebte Marge: 15-20 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Ralf Thomas
Produkte und Anwendungen: Ultraschall, Computertomografen, Magnetresonanztomografen, Labordiagnostik
Umsatz 2014/2015: 12,9 Milliarden Euro
Ergebnis 2014/2015: 2,2 Milliarden Euro
Marge 2014/2015: 16,9 Prozent
Angestrebte Marge: 15-19 Prozent
Zuständigkeit im Vorstand: Prof. Dr. Siegfried Russwurm
Bei Ertragskraft und Innovationen sind Sie in den vergangenen Jahren gegenüber Ihrem US-Konkurrenten General Electric stark zurückgefallen. Einen Aufbruch stellt man sich nun wirklich anders vor.
Zwischen 2007 und 2010 haben wir unsere Wettbewerber bei wichtigen Kennziffern hinter uns gelassen. Es stimmt aber, dass wir es von 2010 an nicht mehr geschafft haben, von einer stark ordnungspolitisch getriebenen Unternehmung umzuschalten auf eine Wachstum und Werte schaffende Organisation. Das müssen wir jetzt nachholen. Bei Innovationen allerdings muss sich Siemens vor keinem Wettbewerber verstecken.
Sie betonen ständig, Sie wollten Siemens unternehmerischer machen. Geht das bei einem solchen Koloss überhaupt noch?
Ja, das geht. Ich weiß, dass es einigen Analysten am Kapitalmarkt zu langsam geht. Denen sage ich, dass unser Unternehmen nicht nur fürs nächste Quartal oder das nächste Jahr ausgerichtet wird, sondern für eine Generation. Die Innovationszyklen bei unseren Produkten und Lösungen liegen zwischen drei und acht Jahren. Da kann man nicht in jedem Quartal neue Rekorde vermelden. So etwas muss man sorgfältig planen und dann behutsam, aber konsequent umsetzen. Die Kunst dabei ist, die Balance zu finden zwischen sorgfältigem Abwägen und der konsequenten Weiterentwicklung des Unternehmens.
Ist der deutsche Hang zur langfristigen Planung am Ende ein Erfolgsfaktor für ein Unternehmen wie Siemens?
Ein Unternehmen, das keinen Wert für die Gesellschaft schafft, sollte eigentlich gar nicht existieren. Siemens darf existieren, weil wir einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, beispielsweise zur Gesundheitsversorgung oder für die Energieeffizienz und Infrastruktur hierzulande. Dazu darf man nicht immer nur den Kapitalmarkt im Auge haben.
Den Satz von Milton Friedman „The business of business is business“ würden Sie also nicht unterschreiben?
Den würde ich nicht unterschreiben, wenn damit gemeint ist, dass ein Unternehmen von den Eigentümern lediglich als Werkzeug für eine Kapitalmehrung Dritter eingesetzt wird und damit „Eigentum“ nur Mittel für kurzfristig angelegte Zwecke wird. Die Eigentümer bei Aktiengesellschaften sind die Aktionäre und damit in weiten Teilen professionelle Fondsmanager. Deren Kunden ist aber in der Regel nicht an der langfristigen Weiterentwicklung des Unternehmens gelegen. Vielmehr wird damit das Eigentum, also die Aktie, Mittel zur Vermehrung des ihnen anvertrauten Vermögens. Darum ist der Mitarbeiter als Aktionär so wichtig. Der ist nämlich an der langfristigen Weiterentwicklung des Unternehmens und damit am Erhalt seines Arbeitsplatzes interessiert.
„Siemens soll bei Siemens wieder über allem stehen“, sagen Sie. War das vorher nicht so?
Nein, das war in den letzten Jahren nicht immer so. Die vier Sektoren, in die die Siemens-Geschäfte unterteilt waren, haben dazu beigetragen, dass vier verschiedene Ebenen gleichzeitig Märkte und Kunden bearbeitet haben. Es gab zu wenig das eine Siemens und die eine Marke, die beim Kunden um Aufträge geworben haben.
"Die Aufspaltung des E.On-Konzerns ist der einzig richtige Schritt"
Seitdem Sie Ihren Posten im August 2013 antraten, haben Sie den Konzern regelrecht vom Kopf auf die Füße gestellt. Manchem Mitarbeiter wurde angesichts des Tempos schwindelig.
Natürlich ist es nicht immer ganz einfach, in einer solchen Umbruchphase die Mannschaft vollständig mitzunehmen. Das ist der Drahtseilakt zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren. Ich habe mir beim Umbau des Unternehmens von September 2013 bis Mai 2014 viel Zeit genommen, um mir Wünsche und Vorstellungen der Mitarbeiter genau anzuhören. Natürlich konnte ich nicht alles berücksichtigen. Aber jeder sollte Gelegenheit haben, seine Meinung zu sagen.
Die wichtigsten Fakten zum erwarteten Hörgeräte-Verkauf bei Siemens
Die Siemens-Hörgerätesparte (Audiologische Technik) gehört neben Sonova aus der Schweiz und William Demant aus Dänemark zu den großen Anbietern der Branche. Das Geschäft hat eine lange Tradition im Konzern: Bereits vor gut 100 Jahren brachte Siemens das erste industriell gefertigte Hörgerät auf den Markt. Heute sind bei dem Tochterunternehmen mit einem Umsatz von rund 700 Millionen Euro weltweit etwa 5000 Menschen beschäftigt, davon fast 700 in Deutschland an den Standorten Erlangen und Herford (Nordrhein-Westfalen). Die Profitabilität machte Siemens-Chef Joe Kaeser zuletzt durchaus Freude - die Sparte dürfte noch besser dastehen, als die ohnehin renditeträchtige Medizintechnik von Siemens insgesamt.
Siemens konzentriert sich unter Kaesers Führung zunehmend auf das Projektgeschäft mit Großkunden. Als vielversprechende Geschäftsfelder hat der Siemens-Chef die Elektrifizierung, Digitalisierung und Automatisierung ausgemacht. Im Energiegeschäft will Kaeser zudem vom Öl- und Gasboom in den USA profitieren und hatte erst kürzlich die Milliarden-Übernahme des US-Kompressorenherstellers Dresser-Rand auf den Weg gebracht. Produkte für Verbraucher wie auch die Hausgeräte, die Siemens dem langjährigen Joint-Venture-Partner Bosch überlässt, passen da nicht mehr recht hinein. Eine Trennung von den Hörgeräten wäre nun für die Münchner der endgültige Abschied vom Endkundengeschäft mit seinen speziellen Spielregeln und Vertriebswegen. Auch in der restlichen Medizintechnik setzt Siemens auf Geschäftskunden: Röntgengeräte, Computertomographen, Ultraschallgeräte und Labordiagnostik-Systeme etwa finden ihre Abnehmer vor allem bei Kliniken, Forschungseinrichtungen und großen Labors.
Die Nase vorn soll der skandinavische Finanzinvestor EQT haben, aber auch andere Interessenten waren in Medienberichten genannt worden, darunter auch der dänische Hörgerätehersteller GN Resound. Ein anderer Spieler aus der Branche dürfte aus Kartellgründen kaum infrage kommen, hieß es in Industriekreisen.
Arbeitnehmervertreter sähen eine mögliche hohe Schuldenlast im Falle eines größtenteils fremdfinanzierten Deals mit Sorge und haben Standort- und Beschäftigungsgarantien gefordert. Sie fürchten, dass ein entsprechender Käufer einen harten Sparkurs einschlagen könnte. Dem Vernehmen nach könnte es aber auch Absprachen zwischen Siemens und einem Käufer zur Zukunft der Arbeitsplätze geben. Damit könnte Siemens auch versuchen, Negativmeldungen zu vermeiden, hieß es im „Handelsblatt“.
Nicht nur die Konjunktur, auch die Börsen erleben im Moment unsichere Zeiten. So liefen beispielsweise die Börsendebüts von Zalando und Rocket Internet eher mau, und die Zalando-Aktie notiert noch immer deutlich unter ihrem Ausgabepreis. Zuletzt hatte beispielsweise das Schweizer Biotechnologie-Unternehmen Molecular Partners seinen Gang aufs Parkett wegen eines „ungünstigen Börsenumfelds“ vorerst abgesagt.
Sie haben den Umbau des Konzerns mit „Vision 2020“ überschrieben. Warum braucht es heute diese plakativen Überschriften wie auch „Agenda 2010“, um einen mitunter mühsamen Prozess zu beschreiben?
Mit der Agenda 2010 ist Deutschland doch ziemlich gut gefahren. Manche versuchen zwar jetzt, das Rad zurückzudrehen, aber bisher profitieren wir noch davon. Der Anspruch unserer Vision 2020 ist es, ein besseres Unternehmen zu bauen. Wir wollen damit unseren Kunden, der Öffentlichkeit, den Mitarbeitern und den Aktionären eine klare Richtung aufzeigen. Das zurückliegende Jahr war für uns deshalb vor allem ein Jahr der Richtungsweisung. Wir haben es geschafft, dass heute bei Siemens keiner mehr sagen kann, er wisse nicht, wo es langgeht. Das kommende Jahr wird das Jahr der operativen Konsolidierung. Da hoffe ich, dass wir die mit allen Beteiligten und den entsprechenden Interessenvertretern fair und einvernehmlich hinbekommen. 2016 werden wir dann wieder auf Wachstumskurs gehen können.
Wird das Jahr 2015 auch das Jahr des Börsengangs der Medizintechnik?
Nein. Ich sehe bei der Medizintechnik in Zukunft einen Paradigmenwechsel. Molekularbiologie, Molekulardiagnostik, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, auch Biotechnologie können mittelfristig das Geschäft mit der bildgebenden Diagnostik, also beispielsweise mit Ultraschallgeräten oder Computertomografen, merklich verändern. Darauf müssen wir vorbereitet sein und wollen der Sparte Medizintechnik darum mehr Handlungsspielraum geben, etwa auch für mögliche Akquisitionen.
Was halten Sie von der Aufspaltung des Energieriesen E.On in zwei Teile?
Ich finde diesen Schritt sehr respektabel, im Grunde ist es der einzig richtige Schritt, sich aus einer Sackgasse zu befreien. Das Geschäftsmodell der Versorger ist durch den neuen regulatorischen Rahmen, den die Politik mit der Energiewende gesetzt hat, weggefallen. So etwas kann einem Unternehmen aber genauso gut durch technologische Veränderungen passieren. Das sind Paradigmenwechsel, die sehr weitreichend sind, weil sie ein Unternehmen in eine existenzielle Sackgasse führen können.
Sie selbst haben das Energiegeschäft als einen ganz wichtigen Pfeiler für Siemens definiert, vor allem mit Blick auf den Schiefergasboom in Amerika. Nun befindet sich der Ölpreis praktisch im freien Fall, im Energiegeschäft gibt es weltweit Überkapazitäten. Schlechtes Timing, oder?
Bei den großen Gasturbinen gibt es in der Tat deutliche Überkapazitäten. Das liegt auch daran, dass der Trend weltweit eher Richtung dezentrale und kleinteilige Energieversorgung geht. Das hat übrigens auch den Vorteil, dass man diese riesigen Überlandleitungen möglicherweise nicht mehr braucht, was manchen Ministerpräsidenten in Deutschland freuen dürfte. Ein weiterer Trend ist die Elektrifizierung der Öl- und Gasförderung. Um diesen beiden Entwicklungen Rechnung zu tragen, haben wir von Rolls-Royce das Geschäft mit kleinen Turbinen übernommen und außerdem das amerikanische Unternehmen Dresser Rand gekauft, einen Premiumanbieter für die wachsenden Öl- und Gasmärkte.
Ihr früherer Vorstandschef-Kollege Thomas Middelhoff ist zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Empfinden Sie das als gerecht?
Ich kenne die Fakten nicht gut genug. Im Gerichtssaal bekommt man ein Urteil. Ob ein Gerichtsurteil auch gerecht ist, ist oft eine andere Frage. Ich kann und will das aus der Ferne nicht bewerten.
„Handle so, als wäre es dein eigenes Unternehmen“.
Verstehen Sie, dass die Menschen sich aufregen, wenn ein Manager mit dem Hubschrauber den Stau umfliegt?
Es kommt auf die Alternativen an. Wir haben auch Firmenflugzeuge. Die nutze ich aber in der Regel nur für innereuropäische Flüge, weil man durch fest vorgegebene Flugpläne, Einchecken und die Sicherheitskontrollen viel Zeit verliert. Für Interkontinentalstrecken nutze ich in der Regel Linienflüge. Da breche ich mir keinen Zacken aus der Krone, die ich nach Meinung einiger angeblich trage.
Wie schafft man es, als Top-Manager nicht abzuheben?
Das fängt bei der grundsätzlichen Einstellung an. Für mich gilt die Maxime „Handle stets so, als wäre es dein eigenes Unternehmen“. Wenn ich das Firmenflugzeug nehme, frage ich mich jedes Mal, ob ich es auch tun würde, wenn es meine eigene Firma wäre. Ansonsten kann ich nur jedem Manager empfehlen, öfter mal in den Fabriken und bei den Menschen im Unternehmen vorbeizuschauen.
Muss ein Top-Manager sich an gesellschaftspolitischen Debatten beteiligen?
Ja, als Unternehmenslenker muss man sich in die gesellschaftspolitische Debatte einbringen. Die materiellen Fehlentwicklungen der Energiewende zum Beispiel hätte die deutsche Wirtschaft verhindern müssen. Hier hat sich die Wirtschaft offenbar zu wenig im Vorfeld eingebracht, uns eingeschlossen. Das Problem mit dem Einmischen als Top-Manager ist allerdings, dass man sich sehr schnell Kritik einhandelt, etwa nach der Devise: „Der soll erst mal sein eigenes Unternehmen in Ordnung bringen.“
Ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema ist die Frauenquote. Wie fördern Sie bei Siemens weibliche Führungskräfte?
Man muss früh damit anfangen und vor allem nicht nur Frauen im Job fördern, sondern Vielfalt insgesamt. Wir verfolgen einen globalen Ansatz bei der Nachwuchsförderung. Siemens ist in 134 Ländern dieser Welt vertreten und macht in 212 Ländern Geschäfte. Dadurch haben wir einen gigantischen Talentpool.
Die einzige verbliebene Frau im Siemens-Vorstand hat ihren Schreibtisch im texanischen Houston.
Houston ist das weltweite Zentrum der Öl- und Gasindustrie. In Deutschland wurde die fossile Energieerzeugung durch die Energiewende radikal zurückgedrängt. Da muss man als Unternehmer dann sehen, wo in der Zukunft die Märkte für diese Geschäfte sind. Bei der fossilen Energieerzeugung ist das vor allem auch Nordamerika. Deshalb führen wir das Geschäft von dort aus. 2016 werden in den USA voraussichtlich mehr Gasturbinen verkauft werden als in den kommenden zehn Jahren in ganz Europa.
War Ihr Besuch im Frühsommer beim russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Fehler, oder würden Sie es jederzeit wieder so machen?
In der Rückschau würde ich sagen, dass man in der Bewertung des Umfelds eines solchen Besuchs vorsichtiger sein sollte.
Aber Ihre damalige Einschätzung, bei dem Konflikt handle es sich um „kurzfristige Turbulenzen“ war falsch, oder?
Die Formulierung im Interview des „Heute Journals“ wurde später von anderen völlig aus dem Zusammenhang gerissen und damit in der Bewertung verzerrt. Ich hatte gesagt, Siemens blicke auf eine 160-jährige Geschichte in Russland und habe zwei Weltkriege überstanden. Mir ging es dabei also um eine zeitliche Einordnung, nicht um eine Relativierung der Ereignisse.
Wenn Sie den Blick nach Westeuropa richten, denken Sie, dass das Schlimmste der Krise hier überstanden ist?
Es war und ist doch im Grunde eine Innovations- und Schuldenkrise in Ländern, die schon vor Jahrzehnten ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten und jetzt zum Teil schmerzhafte strukturpolitische Anpassungen vornehmen müssen. Ländern wie Irland ist das gut gelungen. Spanien und Portugal arbeiten immer noch hart daran. Einige andere sind offenbar strukturell noch nicht weit genug gekommen.
Zwischen China und Amerika
Ist die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, der EZB, gefährlich oder in der gegenwärtigen Situation sinnvoll?
Ich denke, dass die EZB nach dem Vorbild der USA durch eine gezielt lockere Geldpolitik für Nachfrage sorgen kann. Allerdings darf das nicht zu einer verdeckten Sanierung europäischer Banken führen, indem man ihnen beispielsweise fragwürdige Wertpapiere abkauft.
Wo ist die wirtschaftliche Aufbruchstimmung größer? In den USA oder Asien?
Amerika profitiert von einer nahezu einmaligen Konstellation. Das Land ist die größte Volkswirtschaft der Welt und geopolitisch betrachtet sehr sicher. Auch deshalb investieren wir dort strategisch. Dazu kommt, dass die USA durch die richtigen politischen Weichenstellungen bei der Energieversorgung nahezu autark sind und außerdem über fast beispiellose Kompetenzen bei Software und Mikroelektronik verfügen. Reiche Volkswirtschaften zeichnen sich aus durch Rohstoffe, starke private Nachfrage und Technologie.
Was Sie für Amerika beschreiben, gilt mit Abstrichen auch für Asien. Besteht die Gefahr, dass Europa irgendwann bestenfalls noch ein Touristenziel und Museum für reiche Asiaten und Amerikaner ist?
Wenn wir nicht aufpassen, besteht die Gefahr in der Tat, dass wir zwischen den zwei wirtschaftlichen Machtblöcken China und Amerika am Ende ein nicht existierendes wirtschaftspolitisches Europa haben. Darüber müssen wir uns in Europa klar sein und handeln.
Wie?
Die Regierungen in Europa müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so setzen, dass Unternehmen sich ausreichend bewegen können, um innovativ und global wettbewerbsfähig zu sein. Das fängt bei einer sinnvollen Versorgung für eine alternde Bevölkerung an, geht bei Investitionen in die Infrastruktur weiter und hört bei einer vernünftigen Energiepolitik sicher noch nicht auf.
Nun gibt es ja auch in Asien nicht nur Licht, sondern auch Schatten. In China lässt die wirtschaftliche Dynamik nach. Steht das Land wirtschaftlich auf der Kippe?
Nein. China ist dabei, mithilfe von Reformen die Volkswirtschaft zu stärken. Das braucht aber Zeit, weil diese Reformen Restrukturierungen mit sich bringen, und die sind zum Teil schmerzhaft. Chinas Regierung hat das Land in den vergangenen Jahrzehnten mit gewaltigen öffentlichen Investitionen industrialisiert. Das ging lange gut. Inzwischen sind aber in traditionellen Industrien, die vor allem auf dem Land für Jobs gesorgt haben, große Überkapazitäten entstanden. Dazu gehören die Stahlindustrie, die Rohstoffförderung und auch die Zementindustrie. Die müssen jetzt modernisiert werden, was deutliche Auswirkungen auf Arbeitsplätze haben kann.
Sie sind jetzt seit mehr als 30 Jahren bei Siemens. Können Sie immer noch für Aufbruch stehen?
Ja, das kann ich. Denn mich treibt an, dieses Unternehmen der nächsten Generation in einem besseren Zustand zu übergeben. Dafür stehe ich gerne jeden Morgen auf.
Wie tankt ein Top-Vorstandschef auf? Wie werden Sie die Weihnachtstage verbringen?
Eigentlich bin ich immer vollgetankt. Ich freue mich aber jetzt darauf, den Gedanken mal wieder freien Lauf lassen zu können. Dazu ist sonst kaum Zeit. Sich einfach mal hinzusetzen, ein Buch zu lesen, etwas aufzuschreiben, so kommen Kreativität und Emotionalität zurück. Es macht Spaß, nicht so diszipliniert sein zu müssen und sich mal einfach treiben lassen zu dürfen.