Ende der Solidarität Wirtschaftskrise macht Arbeitnehmer einsam

Wenn der Arbeitsplatz in Gefahr ist, wird das Betriebsklima schnell eisig. Dann werden aus Kollegen Konkurrenten, in den Büros herrscht der Stress - und an den Arbeitsgerichten stapeln sich die Klagen.

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In der Wirtschaftskrise sind die Arbeitnehmer oft auf sich allein gestellt. Quelle: Reuters Quelle: handelsblatt.com

DÜSSELDORF. Die Angst geht um in Deutschlands Unternehmen, die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Ralf Müller (Name geändert) kennt dieses Gefühl. Und er spürt auch, wie die Sorgen das Miteinander mit den Kollegen vergiftet. Es sind die Leute, mit denen der 31-jährige Kaufmann bislang gut zusammengearbeitet hat. Doch das ist jetzt vorbei. Er sagt: "Jeder ist sich selbst der Nächste."

Der Arbeitsmarkt steckt tief in der Krise, und das Klima in den Unternehmen hat sich deutlich verschlechtert. Die Arbeitslosenzahlen sind bislang - auch dank Kurzarbeiterregelung - zwar nur gering gestiegen, doch die Stimmung in den Betrieben und Konzernen ist fast überall auf dem Gefrierpunkt. Die Arbeitgeber verschärfen den Ton und aus Kollegen werden Kontrahenten.

Ralf Müller erfährt es jeden Tag - und will sich wehren. Gegen "haltlose Anschuldigungen" und "aggressive Mobbingattacken". Er ist sich sicher, dass ihm wichtige Unterlagen bewusst nicht oder viel zu spät gezeigt werden, damit er in Meetings mit veralteten Zahlen eine schlechte Figur abgibt. Reden kann und will er darüber mit niemandem. "Die Kommunikation unter Kollegen wird von allen vornehmlich vermieden."

Es herrscht das große Schweigen

Der Dortmunder Arbeitspsychologe Michael Kastner kennt dieses Phänomen. Trotz Gesprächsbedarfs wird geschwiegen. "Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust lässt neue Fronten entstehen und Kollegen werden als Gegner wahrgenommen." Klar, dass ein klärendes Gespräch mit dem vermeintlichen Rivalen schwer fällt.

Solidarität wird zunehmend unwichtig. Kastner: "Das Kollektiv müsste eigentlich signalisieren: 'Wir stehen zusammen.' Tatsächlich aber herrscht Konkurrenzkampf." Mitarbeiter rechnen die Sozialpläne durch. Wer ist wie lange im Unternehmen und hat Kinder? Wer darf bleiben, wer muss gehen?

In einer solchen Situation wird das Verhalten eines jeden Arbeitnehmers von den Kollegen misstrauisch verfolgt. Gespräche mit dem Vorgesetzten nähren schnell den Verdacht, hier wolle sich jemand in den Vordergrund spielen, als unentbehrlich empfehlen. Gleichzeitig wird selbst konstruktive Kritik im Umgang mit dem Vorgesetzten vermieden oder in Watte gepackt. Beim Chef anecken will keiner.

Oft wird auch freiwillig Mehrarbeit geleistet. Ein Ingenieur aus einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen, der ebenfalls anonym bleiben möchte, berichtet, dass viele Kollegen statt der vertraglich vereinbarten 40 Wochenstunden 45 oder gar 50 Stunden im Betrieb blieben. Motto: Wer früh geht, verliert! Wer hingegen abends noch eine Stunde dranhängt, zeigt vermeintlich mehr Engagement als sogenannte Low Performer, die sich genau an ihre Vertragsarbeitszeit halten.

Und so herrscht in vielen Büros der Stress. Entscheidend dabei ist aber oftmals nicht die tatsächliche Kündigung. Belastender ist meist die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Wie der britische Soziologe Brendan Burchell in einer Studie der Universität Cambridge aufzeigt, ist dafür der Dauerstress verantwortlich, der Arbeitnehmer in Krisenzeiten bei jedem Fehler um ihren Job bangen lässt. Wer hingegen gekündigt würde, hätte zwar traurige Gewissheit, sei aber nach wenigen Monaten wieder deutlich stabiler. "Das Gefühl, der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert zu sein und die Kontrolle verloren zu haben, das ist psychisch außergewöhnlich belastend", bestätigt Psychologe Kastner.

Die Zahl der psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen, steigt in Deutschland seit Jahren. 2008 fielen deshalb laut AOK 80 Prozent mehr Krankheitstage an als noch 1995.

Arbeitgeber suchen nach Fehlern

Arbeitsrechtlerin Ulrike Barkow stellt fest, "dass in vielen Unternehmen bei Arbeitnehmern nach Fehlern gesucht wird und dass es vermehrt zu Abmahnungen kommt, die außerhalb der Krisenzeit nicht ausgesprochen würden". Von dieser Fehlersuche bedroht sind oft langjährige, gut bezahlte Mitarbeiter. Weil der Arbeitgeber diese nur sehr schwer vor die Tür setzen kann, wird nach Gründen für eine verhaltensbedingte Kündigung gesucht. Wer zu spät ins Büro kommt oder trotz Verbot im Gebäude raucht, bietet leichtfertig Angriffsflächen. Expertin Barkow sagt: "Wir geben Arbeitnehmern den Rat, sich genauestens an die Regeln im Betrieb zu halten."

Dass die Auseinandersetzungen in Unternehmen schärfer werden, zeigt auch ein Blick an die Arbeitsgerichte. Dort kämpfen Arbeitnehmer verzweifelt um ihre Jobs, weil sie glauben, keinen neuen zu finden. Und Arbeitgeber wollen Personal abbauen, um ihre Kosten zu senken. Gegenüber 2008 nahm die Zahl der Arbeitsrechtsklagen in Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr um 11,5 Prozent zu. Allein im September 2009 kamen 9 551 neue Klagen hinzu. Um diese Flut zu bewältigen, will das NRW-Justizministerium 15 neue Stellen für Arbeitsrichter schaffen. Zudem wurde der geplante Abbau von 20 Stellen für Richter am Arbeitsgericht verschoben.

Wer auf Jobsuche ist, hat es doppelt schwer. Stellen sind rar, und die spärlichen Angebote oft nicht akzeptabel. Der Münchener Wirtschaftsingenieur Maik Beckmann (Name geändert) hat seit dem Frühjahr gut 100 Bewerbungen geschrieben - ohne Erfolg. Auch, weil er Dumpinglöhne nicht akzeptieren will. Er bewarb sich bei einem Unternehmen der Medizintechnik. Seine Schmerzgrenze lag bei 38 000 Euro pro Jahr. Doch das Angebot des Arbeitgebers lag deutlich darunter. Als Beckmann ablehnte, bekam er zu hören: "Wir finden schon jemanden, der verzweifelt genug ist."

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