Seit sieben Jahren arbeitet Jörg Michels nun schon am Ufer des Neckars, rund 80 Kilometer nördlich von Stuttgart. Zusammen mit 160 Mitarbeitern baut der Elektroningenieur das Atomkraftwerk Obrigheim des baden-württembergischen Energiekonzerns EnBW zurück. Und doch sieht man weder dem Areal, so groß wie 20 Fußballfelder, noch dem Meiler etwas an. Das Reaktorgebäude ist noch immer unversehrt, ebenso der graue Fabrikkomplex daneben. „Wir bauen die Anlage eben von innen nach außen ab“, sagt Michels.
Eigentlich könnte der Atomkraftwerkschef von EnBW mit seiner Arbeit zufrieden sein. „Die Hälfte des Reaktorkerns ist schon weg“, sagt der 47-Jährige. Doch der Abriss wird sich noch Jahre hinziehen. Denn Michels weiß nicht, wohin mit dem Atommüll. Ein Endlager gibt es nicht, die Suche danach soll in diesem Jahr losgehen. Geplante Inbetriebnahme: nicht vor 2050. Pro Monat, der ohne eine Lösung verstreicht, zahlt EnBW allein in Obrigheim einen unteren einstelligen Millionenbetrag.
Verantwortlich für die Suche ist der Bund. Bezahlen müssen die Verzögerung die Atomkonzerne EnBW, E.On, RWE und Vattenfall. Für die Folgekosten des Atomzeitalters haben sie rund 39 Milliarden Euro in ihren Bilanzen zurückgestellt. Doch da es allen 29 abzureißenden Kraftwerksanlagen in Deutschland ähnlich geht wie der in Obrigheim, wird immer deutlicher: Der Betrag reicht nicht. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little rechnet in einer internen Kalkulation, die inzwischen kursiert, für alle Atombetreiber mit Mehrkosten für Rückbau sowie Zwischen- und Endlagerung von rund 28 Milliarden Euro.
Die Atomklagen der Energiekonzerne
E.On, RWE und Vattenfall haben gegen den 2011 beschlossenen beschleunigten Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Das Gericht will noch 2015 entscheiden. Den Konzernen geht es nicht darum, den bis Ende 2022 geplanten Ausstieg rückgängig zu machen. Sie fordern jedoch Schadenersatz, da die Bundesregierung wenige Monate vor der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima die Laufzeiten der Meiler noch verlängert hatte. Sollte das Verfassungsgericht den Unternehmen Recht geben, müssten diese den Schadenersatz in weiteren Verfahren erstreiten. Eon fordert über acht Milliarden Euro. RWE hat keine Zahlen genannt, die Analysten der Deutschen Bank gehen von sechs Milliarden Euro aus. Vattenfall will 4,7 Milliarden Euro und klagt zudem vor einem Schiedsgericht in den USA.
E.On, RWE und EnBW klagen gegen Bund und Länder wegen des nach der Atomkatastrophe von Fukushima verhängten dreimonatigen Betriebsverbots für die sieben ältesten der damals 17 deutschen AKWs plus dem damals geschlossenen AKW Krümmel. Das Moratorium lief von März bis Juni 2011 und mündete schließlich im August im endgültigen Ausstiegsbeschluss. Ursprünglich hatte lediglich RWE geklagt. Nachdem der Energieriese vor Gericht Recht bekam, zogen Eon und EnBW nach. Eon klagt auf Schadenersatz in Höhe von 380 Millionen Euro. RWE fordert 235 Millionen Euro, EnBW einen „niedrigen dreistelligen Millionenbetrag“.
E.On, RWE und EnBW klagen auf eine Befreiung und Rückzahlung der 2011 eingeführten Brennelementesteuer. Diese wird noch bis 2016 erhoben. Eon hat nach eigenen Angaben 2,3 Milliarden Euro an den Bund gezahlt, RWE 1,23 Milliarden Euro und EnBW 1,1 Milliarden Euro. Die Verfahren sind vor dem Bundesverfassungsgericht und der Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Der Generalanwalt des EuGH hält die Steuer jedoch mit europäischem Recht vereinbar. Seine Einschätzung ist für das Gericht aber nicht bindend.
E.On hat im Oktober 2014 wegen der im Atomgesetz vorgesehenen standortnahen Zwischenlagerung wieder aufbereiteter Atomabfälle, die aus dem Ausland zurückgeholt werden, geklagt. Die Klage richtet sich gegen die Länder Niedersachsen und Bayern sowie den Bund. Vattenfall hat im selben Zusammenhang gegen Schleswig-Holstein und den Bund geklagt. Auch RWE hat Klage eingereicht. Es geht um Mehrkosten für die Betreiber, nachdem es keine Transporte dieser Abfälle mehr in das Lager nach Gorleben geben soll. Die Konzerne halten Gorleben jedoch weiter für den richtigen Standort.
Am Freitag wird es fünf Jahre her sein, dass das Atomkraftwerk im japanischen Fukushima havarierte. Gut ein Vierteljahr später besiegelte die Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomkraft bis Ende 2022. Überall in der Republik lernen die Stromkonzerne nun, dass die Energiewende ihnen jenen finanziellen Spielraum raubt, mit dem sie für die Kosten der Atomenergie geradestehen wollten. Strom ist billig wie nie, Kraftwerke schreiben Verluste.
Laut Atomgesetz müssen die Betreiber den Abriss der Meiler und die Entsorgung des Atommülls bezahlen. Was aber, wenn ihnen das Geld fehlt? Eine eigens eingesetzte Kommission unter Leitung des Grünen-Politikers und früheren Umweltministers Jürgen Trittin berät diese Frage dieser Tage. Und, so ist zu hören, sie wird zu dem realistischen Resultat kommen, dass die Konzerne die Kosten nicht alleine tragen können.
Deshalb ist nun von einer Lastenteilung die Rede. Die Konzerne sollen den Abriss der Atomkraftwerke alleine bezahlen und für einen möglichst großen Teil der Entsorgungskosten für den Atommüll aufkommen. Der Steuerzahler stünde bereit, wenn die Zwischen- und Endlagerung am Ende teurer würde.
Im Entwurf zum Abschlussbericht der Kommission, der eigentlich Anfang März der Bundesregierung vorgelegt werden sollte, empfiehlt die Expertenkommission, dass die Atombetreiber bis zu 36 Milliarden Euro der Zwischen- und Endlagerkosten tragen sollen. Das ist etwa doppelt so viel wie der Anteil, den sie in ihren Atomrückstellungen dafür vorgesehen haben.
Die Summe sollen sie bis 2022 in einen öffentlichen Fonds in bar einzahlen. Im Gegenzug soll der Staat neben der Endlagerung auch schon die Zwischenlagerung des Atommülls übernehmen. Um die Finanzierung des AKW-Rückbaus sicherzustellen, verlangt die Kommission, dass die Konzerne weitere 1,3 Milliarden Euro zurückstellen.
Ist dieser Plan nun ein weiterer Sündenfall in der an ordnungspolitischen Sündenfällen reichen Energiewende? Wohl eher die Fortsetzung einer Politik, bei der Staat und Konzerne von Beginn an gemeinsame Sache machten. Dabei geht es hier nur um die Verteilung der Lasten nach dem Ende der Atomära. Die Frage ist aber auch, was die friedliche Nutzung der Kernenergie Deutschland wirtschaftlich unterm Strich gebracht hat.
Die WirtschaftsWoche hat auf Basis bisher unveröffentlichter Berechnungen der Unternehmensberatung Arthur D. Little sowie Studien anderer Experten die Rechnung aufgemacht.