Die Seeleute füllten ihre Einkaufswagen, als gebe es kein Morgen. Vor allem auf frisches Obst hatten sie es abgesehen. Berge von Bananen, Dutzende Netze mit Orangen und Zitronen wanderten aus den Regalen in ihre Körbe. Rund 600 Euro kostete der Großeinkauf beim Discounter Lidl am Ende, im nächsten Supermarkt standen gut 400 Euro auf dem Kassenzettel. Die Matrosen setzten ihre Heuer in Vorräte um. Keiner von ihnen weiß, für wie viele Tage die reichen müssen.
Normalerweise folgt der Alltag der Seeleute dem hektischen Takt der Globalisierung. Rein in den Hafen, Container von Bord und dann schnell weiter, so lautet für gewöhnlich ihre Order. Nun wirkt ihr Leben wie schockgefroren. Saß die Besatzung des Containerriesen Hanjin Europe erst mehr als 14 Tage lang im Hamburger Hafen fest, liegt ihr Riesenfrachter nun seit dem Wochenende vor der Nordseeinsel Langeoog auf Reede.
Ihr Eigner, Hanjin Shipping, die größte Reederei Südkoreas, der siebtgrößte Schiffskonzern der Welt, ist pleite. Ein Rädchen in der globalen Lieferkette ist zum Stillstand gekommen. Und keiner weiß, wie es weitergeht.
Marktanteile der größten 10 Container-Reedereien
Die United Arab Shipping Company (UASC) zählt mit einem Marktanteil von 2,5 Prozent zu den zehn größten Reedereien der Welt.
Quelle: Statista, Stand: 14. März 2017
Die Hongkonger Reederei Orient Overseas Container Line (OOCL) kommt auf einen Marktanteil von 2,8 Prozent.
Auf Platz acht landet die Hamburg Süd Group, die ebenfalls auf einen Marktanteil von (gerundet) 2,8 Prozent kommt.
Auch das chinesische Transportunternehmen - Yang Ming Marine Transport Corporation - gehört zu den größten Container-Reedereien der Welt. Aufgerundet liegt der Marktanteil ebenfalls bei gerundet 2,8 Prozent.
Ein weiteres deutsches Transport- und Logistikunternehmen ist durch die Hapag-Lloyd AG mit Sitz in Hamburg in den Top 10 vertreten. Mit einem Marktanteil von 4,8 Prozent ist Hapag-Lloyd die sechstgrößte Container-Reederei der Welt.
Die Liniendienste der Reederei Evergreen Marine landen mit einem Marktanteil von (gerundet) 4,8 Prozent auf Rang fünf.
Bei einem Marktanteil von rund 8 Prozent ist die chinesische Reederei COSCO die viertgrößte der Welt.
Der Marktanteil des französischen Schifffahrts- und Logistikunternehmens CMA CGM Group liegt bei stolzen 10,3 Prozent.
Noch etwas besser ist es um die Mediterranean Shipping Company (MSC) bestellt, die in Genf sitzt. Bei einem Marktanteil von 14,3 Prozent ist sie zurzeit die zweitgrößte Reederei der Welt.
Die dänischen Containerschiffsreederei A. P. Moller-Maersk landet auf der Spitzenposition. Ihr Marktanteil ist bei 15,9 Prozent unübertroffen.
Ratlos sind nicht nur die 24 Seeleute aus Südkorea, Indonesien und den Philippinen auf der Hanjin Europe. Ratlos sind auch die Kunden, die um ihre Ladung bangen, die derzeit auf mehreren Dutzend Hanjin-Schiffen weltweit unterwegs ist. Und ratlos sind bisher auch die Häfen, die vergeblich auf eine Ansage warten, wer die Kosten für das Laden und Löschen der Container übernimmt.
Grenzenloser Glauben
Seit der Insolvenz Ende August schippern rund 97 Hanjin-Schiffe mit 500.000 Containern und Waren im Wert von 12,5 Milliarden Euro an Bord ziellos über die Weltmeere oder liegen in Häfen fest – jedes einzelne von ihnen Symbol einer Zunft, von der der Rhythmus des weltweiten Handels abhängt und die nun unter Schock feststellt, dass sie für den Fall der Pleite eines großen Mitspielers sehr schlecht vorbereitet ist.
Die Allianzen der Reedereien
Der Name der Allianz "CKYHE" setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Namen der Mitglieder zusammen: Das ist die Cosco Shipping Line aus China, die japanische K-Line, Yang Ming aus Taiwan, die koreanische Hanjin und die taiwanische Reederei Evergreen, fünftgrößte Reederei der Welt.
In der Allianz "2M" haben sich die beiden größten Reedereien der Welt zusammengeschlossen, die dänische Maersk Line und die Schweizer MSC. Damit hat 2M nicht nur die meisten Marktanteile, sondern auch die größten Schiffe. Die Allianz verfügt alleine über 25 Mega-Containerschiffe mit einer Kapazität von mehr als 18.000 Standardcontainern.
Eigentlich wollten die beiden Reedereien gemeinsam mit der drittgrößten Reederei, der französischen CMA CGM, die Mega-Allianz "P3" gründen. Doch die chinesischen Kartellbehörden legten ihr Veto gegen dieses Bündnis ein.
Einer der Partner der Allianz G6 ist Hapag-Lloyd, die größte deutsche Reederei. Sie kooperiert mit den japanischen Reedereien MOL und NYK, der Orient Overseas Container Line (OOCL) aus HongKong, der Hyundai Merchant Marine (HMM) mit Sitz in Südkorea und der singapurischen NOL. Ein Mitglied wird das Netzwerk aber wahrscheinlich bald verlieren: NOL soll vom französischen Konkurrenten CMA CGM übernommen werden. Aus G6 wird dann vielleicht G5.
Nach dem die geplante Mega-Allianz P3 am Widerstand der Chinesen platzte, schuf sich CMA CGM ein neues Netzwerk: Die Franzosen, drittgrößte Reederei der Welt, kooperiert mit China Shipping (CSCL) und der arabischen Reederei United Arab Shipping Agency Company (UASC). Gemeinsam besitzen die Reedereien aktuell sieben Mega-Schiffe, sieben weitere sind geordert. Auch die Schiffe der singapurischen NOL will CMA CGM nach der Übernahme in die Allianz integrieren.
Dabei steckt die Branche seit neun Jahren in der Krise. Im Glauben an das grenzenlose Wachstum des Welthandels haben die Reeder zu viele Schiffe gebaut, die Überkapazitäten lassen die Preise immer wieder abstürzen. Zudem hinkt die Nachfrage in Schwellenländern den optimistischen Prognosen von einst weit hinterher. Als Folge der Flaute hat Hanjin über die Jahre einen gewaltigen Schuldenberg aufgebaut, unter dem die Reederei nun zusammengebrochen ist.
"Hanjin hat hohe Außenstände bei uns"
Auch drei Wochen nach dem Aus ist längst nicht geklärt, was mit Schiffen, Ladung und Besatzungen geschieht. Mehrere Dutzend Pötte dümpeln auf hoher See, weil Häfen ihnen die Zufahrt verwehren und Hanjin verhindern will, dass Gläubiger die Schiffe beschlagnahmen. Auf denen lagert ein riesiger Schatz an Elektroartikeln, Mode und Autobauteilen, der nach und nach gehoben werden muss. Darunter befinden sich Produkte von Samsung, Siemens oder Nike.
Jene Schiffe, die bereits vor Anker lagen, als die Nachricht von der Insolvenz kam, haben Behörden und Eigner beschlagnahmt. Weitere liegen unter Embargo, weil sie die Gebühren für die Abfertigung nicht bezahlen können. Die sind zwar im Falle der Hanjin Europe offenbar inzwischen bezahlt worden, so dass der Frachter am späten Freitagabend noch auslaufen konnte – mit zunächst unbekanntem Ziel.
Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass das Schiff wie geplant nach Rotterdam weiterfährt, denn in Hamburg hatte Terminalbetreiber Eurogate die Container komplett von Bord geholt. Kunden können ihre Bestellung abholen, wenn sie die entstandenen Kosten von rund 500 Euro pro Container übernehmen und sich verpflichten, die Behälter zurückzubringen.
Eurogate versucht zu retten, was zu retten ist, die Pleite der südkoreanischen Reederei trifft den Hafenbetreiber hart. Hanjin zählte zu den wichtigsten Kunden des Unternehmens. Mittlerweile stehe bei Eurogate ein hoher zweistelliger Millionenbetrag von Hanjin offen, heißt es in Hafenkreisen. „Es ist richtig, dass Hanjin hohe Außenstände bei uns hat. Über einen genauen Betrag geben wir keine Auskunft“, sagt eine Sprecherin.
Bei einem Umsatz von rund 650 Millionen Euro ist das nicht leicht zu verkraften. Die Abfahrt des Containerfrachters ist dabei nur die halbe Lösung. Denn die mittlerweile abgeladenen Container verstopfen das Hafengelände. Zwar hat ein Teil der Kunden seine Ladung bereits abgeholt – doch nicht jeder ist bereit, dafür teils doppelt so hohe Beträge zu zahlen wie vorgesehen.
Das Schiff selbst versperrte viel länger als geplant den Liegeplatz für andere Frachter. „Das ist eine erhebliche Beeinträchtigung“, sagt der auf Schifffahrt spezialisierte Berater Jan Ninnemann. Mehrere Hundertausend Euro pro Woche kostete der Stopp des Frachters, schätzt ein Hafenkenner.
Um das Schiff loszuwerden, hatte Eurogate daher Hanjin angeboten, das Schiff nach Wilhelmshaven umzuleiten. Dort betreibt Eurogate ein Terminal im erst vor wenigen Jahren eingeweihten Jade-Weser-Port, an dem im Gegensatz zu Hamburg wenig Betrieb herrscht. Doch das Angebot habe Hanjin abgelehnt, bestätigt eine Sprecherin von Eurogate.
Moderne fliegende Holländer
Nachdem die Hanjin Europe die Anker gelichtet und Hamburg verlassen hat, ist die Hanjin-Krise für die Hansestadt indes nicht vorbei. Zum einen warten zahlreiche Kaufleute und Unternehmen weiterhin auf Ware, die auf Hanjin-Schiffen unterwegs ist. Zum anderen nimmt offenbar bereits das nächste Problem Kurs auf Hamburg: die „Hanjin Harmony“.
Die beliebtesten Flaggen der deutschen Reeder
Etwa 3200 Schiffe umfasst die deutsche Handelsflotte. Davon fahren rund 1025 Schiffe mit der Flagge Liberias. Das Land an der Elfenbeinküste fordert mindestens eine 16-köpfige Besetzung. An einem Schiff mit deutscher Flagge müssen mindestens 19 Seeleute an Bord sein.
950 der in Deutschland registrierten Handelsschiffe fahren unter der Flagge des karibischen Inselstaats Antigua und Barbuda.
Mit 370 Schiffen nimmt die deutsche Flagge nach den Daten des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie immerhin den dritten Platz der beliebtesten Flaggen ein. Doch nur 200 der Schiffe fahren nach Angaben des Verbands deutscher Reeder auch in internationalen Gewässern.
Der Inselstaat Malta ist die beliebteste europäische Flagge bei deutschen Reedern. 184 Schiffe fahren mit dem weiß-roten Banner.
171 Schiffe fahren unter der Flagge der Marshallinseln, die im pazifischen Ozean liegen.
Auch Zyperns Flagge ist bei den Reedereien beliebt: 134 Schiffe fahren unter der Flagge, die die Konturen des Staates zeigt.
Die restlichen 410 der in Deutschland registrierten Handelsschiffe fahren unter anderen Flaggen.
„Wir wissen, dass sie plant, nach Hamburg zu kommen“, sagte in der vergangenen Woche ein Sprecher der Hafenbehörde HPA. Doch man habe der Reederei bereits vor Tagen schriftlich mitgeteilt, dass eine Einfahrt nur möglich sei, „wenn für die Einfuhr und Ausfuhr schriftliche Bestätigungen vorliegen, dass die privaten Anbieter wie die Schlepper und Lotsen das Schiff bedienen“, heißt es.
Doch für die Harmony, die nach mehreren Tagen auf Reede vor Le Havre aktuell durch den Ärmelkanal schippert, gelten andere Bedingungen als für die Europe: Die Reederei Hanjin hat das Schiff nur gemietet, tatsächlich gehört es dem stadtbekannten Hamburger Reeder Peter Döhle, genauso wie drei weitere Schiffe.
Für den Schiffsvermieter ist das ein sensibles Thema. Denn die Frachter bringen kein Geld ein, und noch ist unklar, wann die Vermieter sie anderen Reedereien wieder anbieten könnten. „Wir sagen nichts“, heißt es dort nur, die zuständige Mitarbeiterin legt den Telefonhörer noch mitten in der Frage auf.
Laut einem noch nicht bestätigten Bericht des „Wall Street Journal“ erwägt Hanjin derzeit, die insgesamt 61 von Drittanbietern gecharterten Schiffe an die Eigner zurückzugeben. Dazu würde auch die „Harmony“ zählen. Das angeschlagene Unternehmen wolle seine eigene Containerflotte um mehr als die Hälfte verkleinern, um sich womöglich noch zu retten.
Die Wahrscheinlichkeit für eine Abwicklung des hoch verschuldeten Unternehmens sei aber noch immer groß, schrieb das Blatt. Der Konzern wollte sich nicht zu dem Bericht äußern und verwies darauf, dass der Sanierungsplan erst im Dezember vorgelegt werden muss.
Für die Seeleute auf der Hanjin Europe heißt das zunächst: Sie müssen weiter warten, im Meer vor Langeoog, moderne fliegende Holländer, die sie sind. Die Ungewissheit setzt sich fort.