Einen kurzen Fußmarsch entfernt vom Paradies der Gauner sieht die Ostsee aus wie in der Broschüre einer Kurverwaltung. Feiner Sand, schroffe Dünenabbrüche, duftende Kiefern. Svetlana und Maria spazieren die unendliche Uferlinie entlang, wie sie das seit Jahren fast jeden Vormittag tun, wenn Saison ist. Die Aufgabenteilung ist klar. Maria, die Jüngere, läuft vorne am Wasser, leicht gebückt, und greift immer wieder in den Sand. Svetlana geht ein paar Meter weiter hinten, wo der Sand schon trocken ist, stromert mal nach links und rechts. Die beiden suchen nach Bernstein, so wie sich das der Nostalgiker vorstellt. Am Wasser findet Svetlana die kleinen Stücke, die fast mit jeder Flut kommen.
Weiter hinten könnten die großen liegen, vom Sturm der vergangenen Nacht. „Wenn die See rau ist, dann werden manchmal auch größere Brocken angeschwemmt“, sagt Maria. „Ganz selten!“, korrigiert Svetlana und lacht spöttisch. Viel Erfahrung klingt da mit und auch ein bisschen Enttäuschung. Die beide wissen: Was sie hier tun, ist ein kleiner Zuverdienst, das große Geschäft mit dem Gestein wird hinter den Kiefernwäldern gemacht.
Yantarnyi, Oblast Kaliningrad, Russland, Heimat des Bernsteins. Hier, am heutigen Ostseestrand, stand einst der Wald, aus dem eine seltene Baumkrankheit und die pünktliche Eiszeit vor ein paar Tausend Jahren die größte Lagerstätte des Halbedelsteins gemacht haben. Es ist der bis dato einzige Ort auf der Welt, an dem bester baltischer Bernstein industriell abgebaut werden kann. Über 90 Prozent der weltweiten Vorkommen lagern unter und um den Ort Yantarnyi, der auf Deutsch übersetzt einfach Bernstein hieße. Wer hier an der richtigen Stelle sitzt, der kann derzeit ohne großen Aufwand in kürzester Zeit sagenhaft reich werden. Denn in den letzten Jahren ist passiert, was jahrzehntelang unmöglich schien: Bernstein wurde zum begehrten Gut.
Statt drei oder fünf Euro bekam man für ein Gramm der besten Ware erst 20, dann 30 und schließlich 50 Euro. Irgendwann war Bernstein so teuer wie Gold. Und da ist der Wahnsinn losgegangen. Erst hier in Yantarnyi, dann in Shanghai, in der Ukraine, in Polen und irgendwann auch in Berlin, Alexanderplatz.
Marcel Querl wird den eisigen Wintertag im vergangenen Jahr wohl nie wieder vergessen. Er und sein Kompagnon, wie sie mit einem Miettransporter auf dem Alexanderplatz stehen. Und vor ihnen eine schier unendliche Schlange älterer Herrschaften mit Bernsteinschmuck in Händen oder Taschen. Am nächsten Tag hatten sie Heizpilze und Stühle aufgestellt, damit der betagten Kundschaft kein Unglück widerfahre. Querl ist erst 32 Jahre und hat doch schon große Erfahrungen im Handel mit wertvollen Dingen aller Art. Noch während seiner Ausbildung zum Großhandelskaufmann hatte er begonnen, sich für antike Möbel und Schmuck zu interessieren. Bald merkte er, dass am meisten Geld mit Edelsteinen zu machen ist. Und die guten Margen bei den Großhändlern liegen. Also ging er nach Antwerpen, weltweites Handelszentrum für Edelsteine aller Art.
Er lernte bei den Koryphäen des Geschäfts und machte so bald selbst gute Geschäfte. Steine einkaufen, vorschleifen und dann weiterverkaufen. „Irgendwann stand dieser chinesische Kunde vor mir, den kannte ich schon länger, der fragte nach Bernstein“, erinnert sich Querl. Bernstein? Natürlich kannte er die harzig-braunen Steine, die er als Schmuckhändler immer wieder von älteren Privatsammlern oder aus Erbbeständen angeboten bekommen hatte. Aber was wollte der Mann mit dem aus der Mode gekommenen Zeug?
Doch statt dem ersten Reflex nachzugeben und ihn abzuwimmeln, tat Querl, was bisher die Grundlage für alle seine wirklich guten Geschäfte gewesen war: Er interessierte sich für das scheinbar Uninteressante. Recherchierte in China, sprach mit ein paar anderen Händlern. Fand heraus, dass in China gerade eine immer größere Nachfrage nach dem Material entstand, für das es in Westeuropa nicht mal einen Markt gab. Recherchierte in Deutschland, sprach mit alten Kontakten und den zwei, drei Bernsteinkennern, die es gab. Fand heraus, das Bernstein vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer der beliebtesten Schmucksteine im Deutschen Reich gewesen war.
Und erkannte: In der Kombination liegt das Geschäftsmodell. Wenn er die Schmuckstücke der deutschen Rentner nach China verkaufen könnte, wäre es das Geschäft seines Lebens.
Querls Zugang mochte ungewöhnlich sein, der einzige Bernsteinhändler mit ausgeprägtem Geschäftssinn war er keineswegs. Denn als Querl das Material vor gut zwei Jahren für sich entdeckte, war der Bernstein in China längst großes Geschäft. Der Ostseenippes als Erfolgsprodukt im Fernen Osten, das klingt fürs Erste überraschend, aber das ist letztlich eine Frage der Perspektive: Wirklich exquisit ist immer nur das Exotische und Seltene. So mag die Bernsteinkette vom Rügener Fachhändler aus deutscher Perspektive ein Inbegriff der Piefigkeit sein, von China aus betrachtet, sieht die Sache ein bisschen anders aus.
Hinzu kommt, dass Bernstein als Material im Konfuzianismus ebenso wie Jade eine besondere Rolle spielt, weshalb Bernstein in China schon immer präsent war. Vor allem aber ist Bernstein selten, zumindest in seiner derzeit wertvollsten Version: im matten Hellgelb oder weiß, rein und ohne Schattierungen.
Auf der Suche nach solchen Steinen kommen Hu Ding und Ming Li schon seit Jahren regelmäßig nach Danzig. Die alte Hansestadt an der polnischen Ostseeküste ist zwar drei Autostunden und eine EU-Außengrenze von den bedeutenden Lagerplätzen des Bernsteins entfernt, trotzdem ist sie das Zentrum des Handels, zumindest des legalen.