Schleichende Auszehrung Deutsche Vorzeigebranchen akut bedroht

Hohe Kosten, neue Wettbewerber, strategische Versäumnisse, staatliche Eingriffe und Bequemlichkeit gefährden den Wohlstand einzelner Unternehmen und ganzer Regionen.

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Meyer zählt auch heute noch zu den Marktführern bei dem Bau von Kreuzfahrtschiffen. Quelle: dpa

Von Hans-Jürgen Klesse, Anke Henrich, Henryk Hielscher, Matthias Kamp, Rüdiger Kiani-Kreß, Franz W. Rother, Jürgen Salz und Peter Steinkirchner.

Die Stadtteile tragen so lustige Namen wie Untenende und Obenende, das Zentrum wird von schmalen Kanälen durchzogen. Mit Klappbrücken, Backsteinhäusern und der Windmühle erinnert das im äußersten Norden des Emslandes gelegene Papenburg an Städte in Holland. Vor dem Rathaus der 36 000-Einwohner-Stadt liegt der historische Frachtsegler „Friederike von Papenburg“. Entstanden ist der originalgetreue Nachbau in den Achtzigerjahren in der Lehrwerkstatt der Meyer Werft. Das 1795 gegründete Unternehmen ist in sechster Generation im Familienbesitz und wird von Bernard Meyer geleitet. Der unauffällige 65-Jährige genießt höchsten Respekt in der Stadt: „Das’n ganz feiner Mensch und so bescheiden“, lobt ein Taxi-Fahrer den Werftchef.

Für Papenburg ist Meyer die Verbindung zur großen weiten Welt, für den ansonsten kaum noch existenten deutschen Schiffbau so etwas wie das letzte Paradies: Meyer zählt zu den Marktführern bei Kreuzfahrtschiffen. Allein sieben Musikdampfer für jeweils 2200 Passagiere wurden in den vergangenen Jahren für den deutschen Marktführer Aida gebaut, je zehn für die US-Reedereien Celebrity und Norwegian Cruise. Sieben weitere Traumschiffe für bis zu 4500 Kreuzfahrer und im Wert von jeweils 600 bis 700 Millionen Euro sind im Bau oder stehen in den Auftragsbüchern.

Doch das Paradies ist in Gefahr – nicht nur in Papenburg. Vom Norden bis zum Süden der Republik gibt es Unternehmen, Branchen oder Regionen, in denen es heute noch brummt, die aber schon morgen Probleme bekommen können: durch zu hohe Energie- und Personalkosten, Technikfeindlichkeit und Provinzialität, Fachkräftemangel oder Internet, politische und unternehmerische Fehlentscheidungen – oder weil Produkte und Dienstleistungen zur standardisierten Massenware werden.

Branchen

„Die Commodity-Falle droht immer dann, wenn Technologien und die darauf aufbauenden Produkte einen hohen Reifegrad erlangt haben und keine wesentlichen technischen Fortschritte mehr realisiert werden“, warnt Michael Zollenkop, Principal der Strategieberatung Roland Berger und Autor der Studie „Commodity Trap“, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt. „Schrumpft der Know-how-Vorsprung bestimmter Produkte, werden die Einstiegshürden für neue Anbieter niedriger, und der Wettbewerb nimmt zu. So geraten die Margen der etablierten Anbieter immer stärker unter Druck.“ 76 Prozent der befragten Unternehmen spüren solche Auswirkungen bereits.

Das ist auch das Problem der Papenburger: Der technische Vorsprung schrumpft, andere Schiffbauer haben dazugelernt. Hinzu kommt: Weil es zu viele Frachtschiffe gibt, werden weniger Neubauten bestellt, die Werften suchen nach neuen Erlösquellen. Der Bau von Kreuzfahrtschiffen mit seiner hohen Wertschöpfung ist eine der wenigen profitablen Nischen – Meyer bekommt neue Konkurrenz. Weil auch der Wettbewerb zwischen den Kreuzfahrtreedereien härter wird, sind die nicht mehr bereit, den technologischen Vorsprung der Papenburger – ob beim lasergesteuerten Zuschnitt der Stahlplatten, der Konstruktion geschlossener Kläranlagen oder kompletter Theater inklusive versenkbarer Orchestergräben – mit entsprechend höheren Preisen für die neuen Schiffe zu honorieren.

Die Werft ist der größte Arbeitgeber der Region, rund 3100 Mitarbeiter sind dort direkt beschäftigt, mehrere Tausend weitere bei Zulieferern. Vor knapp einem Jahr geriet das Unternehmen wegen Lohndumpings bei einem Werkvertragspartner in die Schlagzeilen. Seitdem lässt Meyer seine Zulieferer und deren Arbeitsbedingungen vom TÜV Rheinland überprüfen, eine Sozialcharta soll solche Fälle verhindern.

Was nachträglich betrachtet wie ein Menetekel für den Anfang vom Ende des Paradieses wirkt, kostet die Werft viel Geld und geht letztlich auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit: In der jüngsten Vergangenheit kam Meyer bei lukrativen Aufträgen mehrmals nicht zum Zug, weil er beim Preis nicht mithalten konnte oder wollte. „Die Angebote lagen kilometerweit auseinander“, machten Gerüchte an der Küste die Runde. Die Rede war von Preisunterschieden von bis zu 25 Prozent.

Commodity-Falle betrifft zwei Drittel der Unternehmen

SAP Quelle: dpa

Die beiden Neubauten für TUI Cruises entstehen darum auf der STX Europe Werft im finnischen Turku – die Helsinki vor gut einem Jahr mit millionenschweren Finanzhilfen vor der Pleite bewahrte. Die zwei Aida-Dampfer der nächsten Generation baut Mitsubishi Heavy Industries in Yokohama bei Tokio. Die Reederei nimmt dafür in Kauf, ein halbes Jahr länger auf das erste Schiff zu warten und einige Reisen absagen zu müssen. Die Japaner machen bei dem Auftrag fast 430 Millionen Euro Miese.

Berger-Berater Zollenkop schätzt, dass mittlerweile fast zwei Drittel aller deutschen Unternehmen von der Commodity-Falle bedroht sind. „Betroffen sind fast alle Branchen, Automobilzulieferer ebenso wie Logistikunternehmen, Finanzdienstleister wie IT-Firmen oder Pharmakonzerne.“ Neue Marktteilnehmer, vor allem aus Asien, gefährden die Marktposition etablierter Unternehmen und erodieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. „Auf längere Sicht kann diese Entwicklung die Existenz vieler Firmen bedrohen“, sagt Zollenkop. „Retten können sich die Betroffenen entweder, indem sie ihre Wettbewerbsposition verbessern oder indem die betroffenen Unternehmen aus der Commodity-Falle ausbrechen, etwa durch Produktdifferenzierung, Ausweichen auf andere Märkte oder ein anderes Geschäftsmodell.“

Auch Deutschlands wichtigste Exporteure, die Maschinen- und Anlagenbauer, drohen in die Commodity-Falle zu tappen: Ingenieurkunst made in Germany galt jahrzehntelang weltweit als Goldstandard für innovative Technik. 2013 exportierten die rund 6200 Unternehmen der Branche Güter im Wert von rund 206 Milliarden Euro. Aber einstige Schwellenländer wie Indien und China bieten inzwischen selbst abgespeckte, aber ausreichende Technik an – weltweit und billiger. Auch in Europa finden ihre Maschinen Abnehmer.

„Rund 80 Prozent der deutschen Unternehmer haben die Gefahr dieser Good-enough-Technik noch nicht erkannt“, warnt Stefan Herr, Leiter Industry & Technology bei der Beratung Simon Kucher. Die Bereitschaft der weltweiten Käufer, für deutsche Spitzentechnik Aufgeld zu zahlen, nimmt rapide ab. Deutsche Ingenieure mit ihrem Hang zum Over-Engineering – alles, was technisch machbar ist, in ein Produkt hinzustopfen – laufen Gefahr, an den veränderten Bedürfnissen ihrer Zielgruppe vorbeizuproduzieren.

„Über kurz oder lang werden Good-enough-Produkte in vielen Bereichen die etablierte, aber komplexe Technik deutscher Maschinenbauer verdrängen“, fürchtet Ralf Russ, Geschäftsführer Industrial Software bei der Beratung Accenture. Weltweit steige die Nachfrage nach einfacheren, robusten und billigeren Produkten, und „es wird für die Deutschen keine geschützten Highend-Bereiche mehr geben“, warnt Simon-Kucher-Experte Herr. „Die Branche sollte sich darauf einstellen und einfachere und günstigere Produkte für die Bedürfnisse der Schwellenländer entwickeln“, sagt Berger-Berater Zollenkop.

Beim Softwarekonzern SAP könnten die hohen Kosten am Standort Deutschland sogar zu einer Verlagerung in die USA führen. Noch genießen die knapp 13 000 Beschäftigten am Stammsitz Walldorf jede Menge Privilegien: überdurchschnittliche Bezahlung, jährliche Beteiligung am Unternehmensgewinn, selbst das Kantinenessen ist für alle Beschäftigten kostenlos.

Doch das Paradies ist bedroht: SAP-Mitgründer Hasso Plattner ist der Laden zu schwerfällig geworden: „Hauptquartiere von Unternehmen werden gerne bürokratisch – genau so ist es uns ergangen.“ Seit geraumer Zeit hält sich daher das Gerücht, Plattner könnte eine Verlagerung des Unternehmenssitzes in die USA anstreben. Mit weitreichenden Folgen für Walldorf – angefangen beim Bedeutungsverlust der Zentrale bis zum möglichen Wegfall zahlreicher Verwaltungsfunktionen.

Zwar haben Plattner und die beiden Co-Vorstandschefs Bill McDermott und Jim Hagemann Snabe solche Pläne bisher dementiert. Wirklich beruhigt hat das aber niemanden, zumal der Amerikaner McDermott ab Ende Mai allein auf dem Chefsessel des weltgrößten Herstellers von Unternehmenssoftware sitzt. Und der hat gute Gründe, das Umzugsprojekt wieder aus der Schublade zu holen: Die USA sind der wichtigste Softwaremarkt der Welt.

Hohe Energiepreise

Andere Unternehmen geraten eher wegen Kostenerhöhungen unter Druck, auf die sie keinen Einfluss haben – zum Beispiel der Chemieriese BASF in Ludwigshafen. Noch läuft im Stammwerk, mit einer Größe von zehn Quadratkilometern das größte Chemie-Areal der Welt, alles rund. Neue Anlagen sind im Bau, etwa zur Herstellung von Kunststoff-Vorprodukten. Rund zehn Milliarden Euro investiert BASF zwischen 2010 und 2015 am Standort, 33 000 Mitarbeiter arbeiten hier, knapp 30 Prozent der Gesamtzahl.

Das könnte sich ändern. „In den nächsten fünf Jahren wird der Anteil Deutschlands an den weltweiten Investitionen von einem Drittel auf nur noch ein Viertel sinken“, kündigt BASF-Vorstandschef Kurt Bock an. Der „schleichende Auszehrungsprozess“ werde mittel- und langfristig nicht ohne Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland bleiben.

Grund ist die teure Energie. Je nach Produkt macht sie bis zu 60 Prozent der gesamten Herstellkosten aus. Bock will darum vor allem in den USA investieren. Dank der billigen Schiefergasförderung ist Energie um etwa die Hälfte billiger. In Deutschland dagegen ist das sogenannte Fracking politisch umstritten. BASFs sogenannter Cracker zur Herstellung chemischer Grundstoffe im texanischen Port Arthur wurde bereits auf Gasbetrieb umgerüstet, am Golf von Mexiko will BASF eine Ammoniakanlage bauen – ebenfalls wegen der Energiepreise. Ludwigshafen dürfte das Nachsehen haben.

Politische Entscheidungen bestimmen häufig über die Existenz ganzer Standorte, im oberbayrischen Manching zum Beispiel. Sanfte Hügel, stille Seen: Die Idylle stört bisher nur der Lärm der Eurofighter, die Europas größter Luftfahrtkonzern Airbus hier baut und Probe fliegt.

Von 2017 an dürfte es ruhiger werden. Weil die europäischen Verteidigungsminister sparen wollen, ordern sie weniger Kampfflieger, und bei den verbleibenden Produkten drücken sie auf den Preis. Die Abrüstung hat Nebenwirkungen: Weil dann die Produktion des Kampffliegers ausläuft, verliert die 13 000-Einwohner-Gemeinde rund 1000 der gut 4000 High-Tech-Jobs. Ein ähnliches Schicksal droht anderen Gemeinden im Süden Bayerns und Baden-Württembergs. Ob Unterschleißheim, Ulm, Donauwörth, Immenstaad oder Friedrichshafen: Alle leben zu einem Großteil von der Militärluftfahrt und vor allem von Airbus.

In vielen Fabriken enden die paradiesischen Zustände: Die Bundeswehr zahlte nach dem Prinzip „Cost plus“. Die Anbieter durften berechnen, was sie der Bau von Panzern oder Fliegern kostet, obendrauf kam ein Gewinnzuschlag. Wurde es teurer, schoss der Bund nach. Das sorgte für üppige Strukturen. „Würden wir den Eurofighter rein wirtschaftlich bauen, wäre er wohl mindestens ein Viertel billiger“, gibt ein hochrangiger Airbus-Manager zu.

Künftig wollen die Wehrbeschaffer das nicht mehr akzeptieren. Die Folge: Airbus baut Jobs ab und verlagert andere ins französische Toulouse. Der Druck dürfte auch auf Zulieferer der zivilen Produktion abstrahlen. Die arbeiten laut einer Studie der Beratung Arthur D. Little zwar profitabler, weil sie dank ihrer oft hoch spezialisierten Produkte Airbus gegen den Rivalen Boeing ausspielen konnten. Doch das ist vorbei: „Zulieferer, die ihre Preise nicht senken, sind draußen“, sagt Boeing-Chef Jim McNerney. Airbus-Lenker Tom Enders sieht das nicht anders.

Die Bedrohung ist klein, flach und schwarz, und sie passt genau in Peter Larsens rechte Hand. Der Amazon-Manager stellte Anfang April die Streaming-Box Fire TV in New York vor. Das Teil, kaum dicker als eine CD-Hülle, beamt Filme und Serien aus dem Online-Angebot von Amazon auf den TV-Schirm. Auf Fire dabei sind zum Verkaufsstart in den USA auch Micky-Maus-Konzern Disney, die Online-Videothek Netflix und der Clip-Kanal YouTube.

Nicht nur Amazon macht etablierten Sendern den Platz auf der Glotze streitig. Apple bietet eine vergleichbare TV-Box an, Google verkauft seinen High-Tech-Stecker Chromecast jetzt ebenfalls in Deutschland, Yahoo plant eigene Online-Serien.

Umsätze fließen mehr und mehr ins Netz ab

Die Lufthansa hat eine Reihe von Asienflügen von München nach Frankfurt verlegt. Quelle: dpa

Für den deutschen Privat-TV-Marktführer RTL wird es enger. Noch liefert der Sender fette Gewinne an Mehrheitseigner Bertelsmann: 5,9 Milliarden Euro setzte RTL 2013 um und erzielte einen Rekordgewinn von 870 Millionen Euro. Doch die Zeichen für den Wandel mehren sich: Allein im Februar wurden YouTube-Filmchen in Deutschland 414 Millionen Mal aufgerufen. Alarmierend für die Privatsender: Junge Zuschauer brechen mit den Sehgewohnheiten ihrer Eltern. Laut ARD/ZDF-Online-Studie schauen fast 90 Prozent der 14- bis 19-Jährigen mindestens einmal wöchentlich Videos im Internet. Zugleich sank die tägliche TV-Zeit der 14- bis 29-Jährigen um 13 auf 128 Minuten.

Die Werbung folgt den Nutzern: Martin Sorrell, Chef des Werberiesen WPP, kündigte an: „2014 zielen wir bei Google auf Ausgaben in Höhe von annähernd drei Milliarden Dollar.“ 2013 waren es erst 2,5 Milliarden. Tendenz: steigend.

Das Internet verändert nicht nur die Strukturen der Unterhaltungsindustrie. Noch mehr unter Druck steht der stationäre Handel. Tausende Passanten schieben sich Tag für Tag durch die Kaufinger Straße in München, Deutschlands teuerste Einkaufsmeile: Bis zu 360 Euro pro Quadratmeter und Monat müssen Einzelhändler hier berappen. Hamburgs Spitalerstraße und Frankfurts Zeil folgen mit Spitzenmieten von jeweils 295 Euro pro Quadratmeter.

Paradiesische Zeiten für die Vermieter von Handelsimmobilien? Internationale Investoren scheinen davon überzeugt. Allein in den ersten drei Monaten 2014 wurden dem Immobilienberatungsunternehmen CBRE zufolge mehr als 2,5 Milliarden Euro in deutsche Einzelhandelsimmobilien investiert – 33 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Doch Experten sehen die Sause skeptisch: Der Online-Boom könnte allzu optimistische Mietkalkulationen über den Haufen werfen. Binnen weniger Jahre stiegen die E-Commerce-Umsätze in Deutschland auf 39,1 Milliarden Euro, allein 2013 um 42 Prozent. Für die Gesamtbranche meldete der Handelsverband gerade mal ein Plus von 1,1 Prozent. Das Minimalwachstum wird demnach fast nur aus den Online-Zuwächsen gespeist.

Doch wenn immer mehr Umsatz ins Netz abfließt, stellt sich für viele stationäre Geschäfte die Existenzfrage. „Der Online-Boom kann auf Dauer nicht ohne Auswirkungen auf die Ladenmieten bleiben“, sagt CBRE-Experte Karsten Burbach. In Gefahr sind weniger die prominenten Shoppingmeilen der großen Citys. Joachim Stumpf von der auf Handelsthemen spezialisierten Münchner Beratung BBE sieht vor allem jene Städte unter Druck, die über keine „Solitärlage“ verfügten: „Wer beim Wochenendeinkauf etwas erleben will, fährt in die nächstgelegene Großstadt. Und wer genau weiß, was er braucht, shoppt online.“

Kommen dann ein Bevölkerungsrückgang, ein Mangel an touristischen Highlights und eine ohnehin schwache Innenstadt hinzu, wird es eng für die örtlichen Einzelhändler – und für ihre Vermieter.

Auch Größe und gute Ergebnisse sind keine Garanten für den Erfolg von morgen. Das spürt gerade VW. Fast 1300 Gäste waren vor wenigen Wochen beim VW Group Event in Genf dabei, als die Wolfsburger neue Modelle zeigten. Nur Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch mochte nicht jubeln: „Wir sind nicht wirklich gut unterwegs – nur besser als andere“, mäkelte er in kleiner Runde. Piëch geht es auf dem Weg in die Zukunft nicht schnell genug.

Die Absatzzahlen stiegen zwar im ersten Quartal um knapp sechs Prozent auf rund 2,4 Millionen Fahrzeuge. Aber der Marsch an die Weltspitze kostet mehr Kraft als gedacht. In Asien laufen die Geschäfte ordentlich, in Westeuropa aber nur aufgrund massiver Verkaufsfördermaßnahmen. In Südamerika sank der Absatz um fast 25 Prozent, in den USA – trotz vieler Incentives – um fast sieben Prozent. In Russland sorgt die Abwertung des Rubel um fast 20 Prozent für tiefrote Zahlen. Zudem schwebt über dem VW-Werk in Kaluga wegen der Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland das Damoklesschwert der Verstaatlichung.

Überkommene Vorschriften

VW Quelle: dpa

Und dann nervt den Autoriesen auch noch Newcomer Tesla, der ein alltagstaugliches Elektroauto auf die Räder stellte und nun mit dem Bau einer Giga-Fabrik für preiswerte Lithium-Ionen-Batterien das Erfolgsmodell des VW-Konzerns bedroht, das noch stark auf dem Verkauf von Pkws mit Verbrennungsmotoren basiert.

„Manchmal hilft nur eine radikale Änderung des Geschäftsmodells, um aus der Defensive herauszukommen“, sagt Berger-Berater Zollenkop. VW muss sich sputen, um den technologischen Wandel zu meistern und auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Vorstandschef Martin Winterkorn hat das erkannt: „Denken und Handeln im Konzern müssen neu justiert werden“, fordert er. Die Modellzyklen sollen kürzer werden, die konsequente Modularisierung von Fahrzeugen und Fabriken durch die Baukastenstrategie dabei helfen, das Paradies zu verteidigen.

Wie Regionen auf-, aber auch wieder absteigen können, zeigt das Ruhrgebiet. Für die einstige Herzkammer der deutschen Wirtschaft begann der Abstieg mit dem Einsetzen der Globalisierung. Billige Kohle und Stahl aus Südamerika und Asien untergruben die Wettbewerbsfähigkeit. Staatliche Milliardenhilfen konnten den Trend nicht aufhalten. München und Umland könnte es irgendwann ähnlich ergehen. Noch gilt die Region als Paradies Deutschlands. Eine geschickte Politik, auch mutige Entscheidungen haben die Region vorangebracht. Bei Lebensqualität und Wirtschaftskraft landet Bayerns Landeshauptstadt in Rankings stets vorne. Doch wer oben steht, muss besonders aufpassen.

Die Wohnungsnot ist nur eines von vielen Problemen, mit denen München kämpft. In vielen Stadtteilen fehlen Kindergarten- und Krippenplätze, Gymnasien und Realschulen platzen aus allen Nähten, der öffentliche Nahverkehr ist überlastet.

Der Bau einer zusätzlichen S-Bahn-Linie wird seit Jahren diskutiert, droht aber am Finanzierungs-Hickhack zwischen München und Berlin zu scheitern. Die wohlhabenden Familien im schicken Stadtteil Haidhausen freut’s: Sie wehren sich in Bürgerinitiativen gegen den Bau.

Die satte Bräsigkeit der heimlichen Hauptstädter im Süden verhindert auch andere Infrastrukturerweiterungen. Den Bau einer dritten Startbahn am Flughafen haben die Münchner vor zwei Jahren bei einer Volksbefragung abgelehnt. Die Lufthansa zog schon erste Konsequenzen: Eine Reihe von Asienflügen wurde von München nach Frankfurt verlegt. Bislang war der Airport einer der Jobmotoren der Stadt.

Kaum weniger groß war der Jubel, als 2013 die Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2022 abgelehnt wurde. Die Schickeria in den Bars und Bistros an der Maximilianstraße hat keine Lust auf Baulärm und Belästigungen. Dabei hätten die Spiele für einen Modernisierungsschub der Infrastruktur sorgen können. Die Erfolge der Vergangenheit, so klagen manche, hätten bei vielen Münchnern zu Selbstgefälligkeit und Bequemlichkeit geführt.

Noch geht es ihnen besser als dem Rest der Republik. Die Metropole gilt als sicher, mit LMU und TU haben zwei der besten Hochschulen Deutschlands ihren Sitz in München, mit dem FC Bayern sogar der weltbeste Fußballclub. Sechs der 30 Dax-Konzerne haben hier ihre Zentralen, es herrscht praktisch Vollbeschäftigung.

Doch will die Isar-Metropole langfristig erfolgreich bleiben, müssten sich Stadt und bayrische Landesregierung von einigen überkommenen Vorschriften trennen und Reformen anstoßen. So hat Bayern als einziges Bundesland kein eigenes Ladenschlussgesetz. Wer in München nach 20 Uhr einen Liter Milch kaufen will, muss wie vor 20 Jahren in Köln oder Berlin zur nächsten Tanke oder zum Bahnhof fahren. Und bezahlbarer Wohnraum ist auch deshalb knapp, weil nirgendwo in der Stadt höher als die 1488 errichtete Frauenkirche gebaut werden darf: genau 98,57 Meter.

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