Siemens-Hackathon Der Pioniergeist von München-Perlach

Von Princeton über Wien, München und Karlsruhe: Siemens hat einen „hybriden Hackathon“ mit 1.700 Teilnehmern organisiert. Rund um die Uhr haben die Entwickler an digitale Innovationen für den Technologiekonzern gefeilt.

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Für Siemens ist es der bislang größte „Hackathon“. Allein im München-Perlach wurden 1.000 Meter Elektrokabel und 15.000 Datenkabel verlegt. Quelle: PR

München Das muss er sein, der viel beschworene Start-up-Geist. Gleich hat sich Siemens-Chef Joe Kaeser zu Besuch angesagt beim ersten großen „Hackathon“ des Technologiekonzerns. Die Kleiderordnung, sagt Patrick Pernegger, ist aber locker. In Jeans und Turnschuhen wird er gleich auf der Bühne stehen und hat sich auch schon überlegt, wie er den Chef begrüßt: „Hey Joe, from CEO to CEO.“ Ein Gruß von Vorstandschef zu Vorstandschef also. Denn Pernegger ist Chef des internen, noch virtuellen Start-ups #idea Company. Normalerweise entwickelt die Einheit kleine digitale Helferlein wie Apps und Programme, die den Kollegen den Alltag leichter machen soll. Und nun hat #idea den ersten großen „Hackathon“ von Siemens organisiert.

„Hackathons“ sind seit einigen Jahren in der Wirtschaft beliebt. In der Regel arbeiten dabei teils interne, teils unabhängige Programmierer, Software-Entwickler und Projektmanager ein bis zwei Tage in Arbeitsgruppen zusammen und entwickeln bei diesen Marathon-Sitzungen gemeinsam Software. Die besten Ergebnisse werden prämiert. Ziel ist es, die Entwicklungszeiten für Softwarelösungen in sich schnell wandelnden Branchen drastisch zu reduzieren und Netzwerke zu knüpfen. Bei Siemens bekommen die Mitglieder der fünf besten Teams je 250 Euro. Zudem können sie einer Jury später ihr Projekt vorstellen. Wenn sie dabei einen Sponsor für sich gewinnen können, gibt es dieselbe Summe noch einmal obendrauf und die Chance, dass die Idee tatsächlich umgesetzt wird. Der Siemens-„Hackathon“ ist kein ganz klassischer: Er war nur intern ausgeschrieben, die Teams haben ihre Ideen teilweise vorab vorbereitet. Doch der Pioniergeist in der zentralen Technologie in München-Perlach ist groß. In den Nebenräumen sind Feldbetten aufgeschlagen für die Teilnehmer aus aller Welt, im großen Saal sitzen Hunderte von jungen Leute vor ihren Laptops, programmieren und entwickeln Ideen.

„Für uns ist der Hackathon wie ein Experiment“, sagte der Chief Information Officer von Siemens, Helmuth Ludwig, dem Handelsblatt. „Sie mischen Fantasie und Kreativität mit verschiedenen Kulturen und Talenten und sehen, was am Ende dabei herauskommt.“ Bislang sieht es gut aus: Nach den ersten Eindrücken hofft Ludwig, dass beim großen Siemens-Hackathon rund 30 Erfindungen am Ende herauskommen könnten.

Gute Chancen könnte das Projekt von George Kähler haben. Mit einem Kollegen ist der Siemens-Mitarbeiter auch in seiner Freizeit öfter auf „Hackathons“ unterwegs. Am ersten Abend hat er in Neu-Perlach seinen 29. Geburtstag gefeiert. Um die Geldprämie, die er gewinnen kann, geht es ihm und den anderen nicht. „Entscheidend ist der Spirit.“ Mit Kollegen hat er auf eigene Rechnung schon das Modell eines Bahnsitzes aus Holz gebastelt, der Werkzeugkoffer für die letzten Feineinstellungen steht noch unter dem Tisch. Ziel ist es, personalisierte Sitze auf Basis der Siemens-Internetplattform „MindSphere“ zu entwickeln. Wenn der Fahrgast in den Zug kommt, ist der Idee zufolge der reservierte Sitz schon nach seinen Gewohnheiten eingestellt, ein gebuchter Film ist abspielbereit, beim Umsteigen geht es nahtlos auf dem neuen Platz weiter.

Organisator Pernegger kann sich gut vorstellen, dass aus der Idee einmal ein echtes Start-up aus Siemens heraus entstehen könnte. Und er spricht den engagierten Kollegen – auch Kähler fügt sich mit Vollbart, in Jeans, T-Shirt und mit knallroten Turnschuhen perfekt in die Kleiderordnung ein – bei der Gelegenheit auch gleich an, ob er sich vorstellen kann, nächstes Jahr den „Hackathon“ mitzuorganisieren. Solche Veranstaltungen sind schließlich vor allem eine große Kontaktbörse.

Siemens nannte das Event der vergangenen Tage den weltweit ersten „hybriden Hackathon“. 700 der weltweit 1.700 Teilnehmer aus 61 Ländern kamen an weltweit fünf Siemens-Standorten zusammen – von Princeton über Wien bis München-Perlach und Karlsruhe. Die anderen 1.000 stießen virtuell über das Internet dazu. Aufgabe war es, divisions- und hierarchieübergreifend neue Digitalprojekte für das Siemens-Geschäft zu entwickeln. So beschäftigte sich eines der 300 Teams mit einer Möglichkeit, die Türen von Behindertentoiletten via Bluetooth-Sensor des Handys zu öffnen. Eine andere Gruppe entwickelte eine Software, mit deren Hilfe Handys online den Zustand einer Maschine überprüfen können. Auch der Einsatz von sogenannter Augmented Realitiy in der Medizin, bei der Realbilder mit digitalen Projektionen verknüpft werden, war ein Thema.


Auf den Spuren von Gründer Werner von Siemens

Für Siemens war es der bislang größte „Hackathon“. Allein im München-Perlach wurden 1.000 Meter Elektrokabel und 15.000 Datenkabel verlegt. Ein kleines Hemmnis sind bei solchen Marathonveranstaltungen hierzulande die deutschen Arbeitsschutzbestimmungen. „Eigentlich wollen die Leute durcharbeiten“, sagt Veranstalter Pernegger. So gab es offizielle Pausen, in denen Netzwerke geknüpft wurden, und in den Nachtstunden konnten dank der unterschiedlichen Zeitzonen virtuell zugeschaltete Kollegen in Princeton oder Bangalore übernehmen, berichtet Mitorganisator Tony Schreiner.

Bei einem etwas kleineren Projekt hatte der Konzern im vergangenen Herbst bereits 13 Teams zu einem „Hackathon“ in das konzerneigene „Global Leadership Center“ in Feldafing am Starnberger See eingeladen. Die Programmierer beschäftigten sich dort mit Innovationen rund um das Thema künstliche Intelligenz. Das Siegerteam stattete eine Modellbahn mit einem Bilderkennungssystem aus, das Hindernisse erfolgreich erkannte, die Entfernung einschätzte und den Zug anhielt, auch bei simuliertem Nebel.

Dass sich der Siemens-Konzern derart stark für diese Art von Veranstaltung engagiert, hat einen Grund: Das Unternehmen feierte in den vergangenen Wochen im großen Stil den 200. Geburtstag des Gründers Werner von Siemens. Vorstandschef Joe Kaeser betonte dabei, dass er die Innovationskraft stärken will. Ein Mittel dabei: Bei Siemens soll mehr Start-up-Geist wehen. Dazu bündelte Kaeser unter anderem sämtliche Start-up-Aktivitäten in der neuen Einheit Next 47. In den kommenden fünf Jahren soll eine Milliarde Euro investiert werden. Für den „Hackathon“ nahm sich Kaeser Zeit und besuchte eine Stunde die meist jungen Kollegen in Perlach.

Bei der #idea Company kann jeder Mitarbeiter mitmachen, um Innovationen im Haus schneller zu erkennen und kurzfristig umzusetzen. Früher habe vieles bei Siemens etwas länger gedauert, sagt Pernegger. Inzwischen gibt es neue Freiräume. „Wir sind ein Start-up, wir haben keine Prozesse.“ Auch wenn die Einheit formal kein eigenes Unternehmen ist, hat #idea doch einen eigenen Aufsichtsrat und ähnliche Strukturen wie ein Start-up.

Auch viele andere Konzerne haben bereits „Hackathons“ organisiert. Bosch zum Beispiel veranstaltete 2014 erstmals einen „Hackathon“ in Berlin, bei dem unabhängige Software-Entwickler und Designer Apps für die Bosch-Software mySpin entwickelten. Im Jahr darauf folgte ein „Hackathon“ mit dem Schwerpunkt vernetztes Fahrzeug. „Wir nutzen so das Potenzial innovativer Ideen außerhalb von Bosch“, sagte Bosch-Geschäftsführer Dirk Hoheisel. Ähnliche Initiativen gibt es quer durch alle Branchen. So hielt Ende 2016 der Sparkassenverband einen „Hackathon“ ab, um mit Hilfe von 30 Teams Fintech-Lösungen zu entwickeln.

Siemens wiederum unterstützte kürzlich einen „Hackathon“ mit 40 Studenten der Münchener Universitäten. Sie sollten anonymisierte Daten von Siemens-Kunden analysieren und daraus Prognosen für künftige Zahlungsausfälle und Umsatzentwicklungen generieren.

Der „Hackathon“ der vergangenen Tage war aus Siemens-Sicht ein Erfolg. Wichtig ist nun, dass auch etwas für den Alltag hängenbleibt. CIO Ludwig ist überzeugt: „Zwischendurch mal mit Kollegen aus anderen Bereichen, anderen Jobs oder Ländern zu sprechen – das alleine schafft einen Perspektivwechsel, durch den Kreativität entsteht. Das kann man auf jeden Fall mitnehmen.“

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