Stellenabbau bei Siemens Eine ganze Region kämpft gegen die Sparpläne

Die geplante Schließung des Siemens-Turbinenwerks in Görlitz trifft die strukturschwache Region besonders hart. In der Stadt formiert sich daher ein breiter Widerstand gegen die Sparpläne von Konzernchef Kaeser.

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Der Siemens-Ingenieur hofft weiter auf den Erhalt des Standorts Görlitz. Quelle: dpa

Görlitz Kurz vor halb fünf verlässt Matthias Schöneich das Siemenswerk in Görlitz. Dem Pförtner nickt er im Vorbeigehen zu. In der Endfertigungshalle brennt noch Licht. Die Parkverbotsschilder vor dem Betrieb kündigen einen Schwerlasttransport am kommenden Tag an. „Dann verlässt die nächste Industriedampfturbine die Stadt. Jetzt erst recht. Zeigen wir, was wir können“, sagt der Maschinenbauingenieur.

Schöneich ist einer von 960 Görlitzer Turbinenwerkern, die vom geplanten Aus des Siemens-Standorts aus den Medien erfuhren. Die Streichung von weltweit 6900 Arbeitsplätzen erklärte der Energiekonzern mit Defiziten im Kraftwerksgeschäft. „Inzwischen hat das Unternehmen erkannt, dass es noch einen Markt gibt, bei den Preisen aber nicht mithalten kann“, sagt der Görlitzer.

Er arbeitet im Angebotsmanagement und weiß: die Auftragsbücher sind gut gefüllt und die Kunden mit der Arbeit von der Neiße zufrieden. Denn jede Industriedampfturbine ist ein Unikat und wird nach Wünschen des Auftraggebers gefertigt.

Nach der Arbeit braucht Schöneich große Schritte in die Innenstadt. „Der Christkindelmarkt ist gerade wunderschön“, sagt er und blickt auf die Fassade eines leerstehenden Hauses. Ein Banner fordert „Macht Dampf für Turbinen aus Görlitz, damit hier nicht die Lichter ausgehen“.

An der Neiße wackelt nicht nur Siemens. Im Bombardier-Werk fehlt auch die Weihnachtsstimmung. Bei den Waggonbauern laufen Umstrukturierungen. Betriebsbedingte Kündigungen hat der kanadische Schienenfahrzeughersteller nur bis Ende 2019 ausgeschlossen. Zusätzlich beunruhigt die Lausitz der Strukturwandel durch das Zurückfahren der Braunkohleverstromung.

Herrnhuter Sterne tauchen die Berliner Straße im Zentrum von Görlitz in warmes Licht. Schöneich grüßt einen Bekannten. Görlitz mit 57 000 Einwohnern ist klein genug, um sich zu kennen und groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen. In den vergangenen Jahren hat sich die Bevölkerungsentwicklung der Stadt erholt.

Seit der Wende und dem Wegfall zahlreicher Arbeitsplätze haben mehr als 15 000 Menschen die Stadt verlassen. Die Befürchtung liegt nahe, das Szenario könnte sich wiederholen. „Die größten industriellen Arbeitgeber setzen derzeit in Görlitz das Schicksal einer ganzen Region aufs Spiel“, sagt Oberbürgermeister Siegfried Deinege (parteilos).

Solche Zukunftssorgen waren Matthias Schöneich bislang fremd. Er hat in diesem Jahr geheiratet, die Finanzierung seines Hauses wird ihn noch länger begleiten. Für sein Unternehmen ist er im Team beim Europa-Marathon gestartet. Seit Jahren haben sich er und seine Kollegen erfolgreich an den Kostensenkungsprogrammen im Unternehmen beteiligt.

Wie in einer „Familie“ habe er sich gefühlt und die lässt man in schweren Zeiten nicht im Stich. Nach dem Abitur zieht er das „große Los“ und bekommt im Jahr 2000 einen der zwei begehrten Industriemechaniker-Ausbildungsplätze in Kombination mit dem Ingenieurstudium an der Hochschule in Zittau.


„Manche meinen, Görlitz sei ein gallisches Dorf“

Im dualen Studium mit dem Turbinenwerk als Praxispartner wurden in den vergangenen Jahren mehr als 100 Studenten ausgebildet. Mit Sorge sieht deshalb auch die Hochschule die Entwicklung in der Region. „Die Schließung des Siemens-Werks versetzt dem Image des Technikberufes einen schweren Schlag“, sagt Tobias Zschunke, Prorektor für Forschung der Hochschule Zittau/Görlitz.

Schweres Fahrwasser spürt auch der Mittelstand. „Die Entscheidung von Siemens stellt regionale Unternehmen, von der Reinigungsfirma über Maler, Metallbauer bis zu Unternehmen mit 100 und mehr Mitarbeitern vor große Herausforderungen“, sagt Frank Großmann, Leiter der IHK Görlitz. Manche Mittelständler hätten die gleichen Schwierigkeiten als Zulieferer oder Dienstleister von Bombardier und der LEAG zu bewältigen.

Aus diesem Grund werden viele von ihnen bei der Demonstration am 19. Januar mit den Turbinen- und Waggonbauern für die Region kämpfen. Zum Protest ist auch Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeladen.

Bereits am kommenden Montag muss das Siemens-Management zum Rapport bei Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries antreten: Die Ministerin hat die Siemens-Konzernleitung nach dem angekündigten Stellenabbau zum Gespräch nach Berlin geladen. Bei dem Treffen am Montag sollen auch Vertreter der betroffenen Bundesländer dabei sein, erklärte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums am Freitag.

Betriebsrat und IG Metall erklärten sich zu ergebnisoffenen Gesprächen mit dem Management bereit. Verhandlungen werde es aber nicht geben, solange die Schließung des Görlitzer Werks nicht vom Tisch sei, sagt Gewerkschafter Jan Otto.

In der Adventszeit sind nun leisere Aktionen geplant - mit einer Lichterkette um das Görlitzer Werk, Weihnachtsliedersingen vor der Siemens-Zentrale in München und vor dem Werktor an der Neiße, um „allen die Möglichkeit zur Besinnung und Siemens die Möglichkeit geben, ihre Planungen zu überdenken“, sagt Otto.

Schöneich hofft, dass dazu auch viele Görlitzer kommen. Die Sorge um die Region bringt die Menschen zusammen. Sich selbst nennt er „grundoptimistisch“. Der Maschinenbauingenieur will um seinen Arbeitsplatz kämpfen - auch, weil er weiß, dass es sich lohnt.

„Denn“, so sagt Schöneich, „unser Görlitzer Werk ist Nutznießer der Energiewende. Wir produzieren Industriedampfturbinen, die weltweit in Biogasanlagen, Solarthermen oder in dezentralen kleinen Kraftwerken eingesetzt werden. Unser Standort ist auf die Produkte optimiert.“

Dann lächelt er und sagt: „Manche meinen, Görlitz sei das neue gallisches Dorf“. Am „Dorf der Unbeugsamen“ im Asterix-Comic beißen sich die Römer die Zähne aus. Er dreht sich um. Weit in die Stadt hinein leuchten die großen Buchstaben des Siemens-Logos in grellem Blau. Noch brennt das Licht.

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