IT-Branche in Weißrussland Apps aus der Diktatur

Immer mehr deutsche Unternehmen setzen auf weißrussische Programmierer. Die sind top ausgebildet und kosten ein Drittel weniger als hierzulande. Wenn nur die Sprachbarriere nicht wäre.

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Vier gewinnt

Joschka Fischer speckt mal wieder ab. Nicht ein Gläschen Rotwein will der Grünen-Politiker im Sommer trinken, schreibt die Boulevardpresse. Neuerdings wird er wieder beim Joggen gesichtet. Doch diesmal funktioniert das einfacher als früher. 

Als der 63-Jährige noch als Außenminister parlierte, wachten Beamte des Bundeskriminalamts über den Fitnessparcours ihres Chefs. Heute joggt Fischer morgens allein durch die Berliner Parks – wohl begleitet von seinem iPhone in der Tasche seiner Laufhose, das Schritte zählen und den Kalorienabbau ausrechnen kann.

Zahlreiche Deutsche haben sich zum Abnehmen sogenannte Applications, kurz Apps, auf ihre Handys geladen. Die gibt es für jeden Zweck: Schrittzähler, Fitnesstrainer, Biowecker, virtuelle Yoga-Lehrer – rund 15 Milliarden Dollar werden allein in diesem Jahr weltweit mit solchen Apps umgesetzt, schätzt das US-Marktforschungsinstitut Gartner.

Nur macht sich kaum einer Gedanken darüber, woher all die erfolgreichen Apps stammen und wer das alles entwickelt hat, was immer und immer wieder aus den diversen App-Stores heruntergeladen wird.

Viaden Mobile ist nicht nur bei Pokerspielen führend

Wer es erfahren würde, könnte vor Staunen leicht vom Weg abkommen: Ein Drittel aller Fitness-Apps, die in Deutschland unter den Top 50 der populärsten iPhone-Programme rangieren, stammen von Viaden Mobile aus Minsk. Auch bei Pokerspielen ist das weißrussische Unternehmen führend.

In der letzten Diktatur Europas, wo der skurrile Dauer-Präsident Alexander Lukaschenko krampfhaft an einer Planwirtschaft wie zu Sowjetzeiten festhält, ist eine florierende App-Industrie entstanden.

Schon früher war Minsk das Zentrum der sowjetischen IT-Industrie. Die Hochschulen bilden seit Jahren ausgezeichnete Programmierer aus. Das nutzen europäische Konzerne, die in Weißrussland Software für Mobiltelefone entwickeln. Und immer mehr weißrussische Unternehmen wie Viaden setzen sich als selbstständige App-Entwickler am Markt durch.

Kein Wunder: Die Programmierer sind hoch motiviert und kreativ, die Gehälter relativ niedrig, und die Zahl der IT-Absolventen steigt stetig. Denn Jobs in der IT-Industrie sind für junge Leute oft die einzige Chance, dem Staatsdienst zu entkommen: Zwei Drittel der Weißrussen arbeiten für Lukaschenkos Staat, der im Schnitt 300 Dollar Monatslohn zahlt. Die Inflation von derzeit 34 Prozent und die jüngste Rubel-Abwertung um 56 Prozent entwerten das Geld, was die Menschen zunehmend auf die Barrikaden treibt.

Freie Marktwirtschaft auf Probe

Die IT-Branche wirkt dagegen wie eine Oase. Deren Unternehmen zahlen mindestens dreimal so hohe Gehälter wie der Staat, noch dazu stets verbunden mit einem Inflationsausgleich. So entwickelt sich der IT-Sektor nicht nur zum Sammelbecken für die junge Manager-Elite, die den Staat ablehnt – nebenbei dient er auch als eine Art Reagenzglas, in dem die freie Marktwirtschaft schon mal geprobt wird.

Im Zentrum von Minsk regiert der Stillstand. Riesige Regierungsbunker sowjetischen Baustils wachen als Trutzburgen der Vergangenheit über die Diktatur. Zwischen all dem Beton gepflegte Springbrunnen, die Suggestion der heilen Welt.

Rückkehr mit Masterplan

Die IT-Klitschen dagegen halten sich vom Zentrum der kuriosen Hauptstadt fern. Sie verstecken sich in Kellerbüros, in unverdächtigen Plattenbauten oder im Einkaufszentrum, wo auch App-Hersteller Viaden Mobile seinen Sitz hat.

Natalia Bachar kennt die Freiheiten des Marktes. Die 32-Jährige hat in Warschau studiert, eine MBA-Urkunde der renommierten Kozminski-Universität hängt an der Wand. Polens Hauptstadt ist nur eine Flugstunde von Minsk entfernt. Lange war nicht klar, ob Natalia jemals in die autoritäre Heimat zurückkehren würde.

Gemeinsam mit drei Kommilitonen aus Weißrussland schrieb sie einen Businessplan, wie man mit iPhone-Apps Geld verdient. Das war Teil ihrer Masterarbeit.

Vor einem Jahr heuerte das Quartett geschlossen bei Viaden Mobile in Minsk an, um die App-Idee umzusetzen. "Die Kosten sind in Minsk niedrig, das Niveau der Programmierer hoch. So können wir im globalen Wettbewerb gut mithalten", erzählt die zierliche blonde Frau, die bei Viaden Mobile für das operative Geschäft verantwortlich ist.

Natürlich ist trotzdem nicht alles rosarot in Weißrussland: "Die Konkurrenz ist grausam", sagt Natalia selbst, "wir müssen uns jeden Tag mit neuen Ideen durchsetzen."

Eine davon war der "Kluge Wecker" – in Deutschland stand er lange Zeit auf Platz eins der App-Charts: Mit Chill-out-Musik schlummert die App ihre Nutzer in den Schlaf, am nächsten Morgen weckt sie der Lieblingshit.

Sprachprobleme bei Apps

Über Nacht liegt das iPhone neben dem Kissen, misst den Schlafrhythmus, berechnet die Tiefschlafphasen und zeichnet Geräusche auf. "Morgens kannst du dann abhören, ob dein Partner geschnarcht hat, der Hund oder der Nachbar", erzählt Dmitri Dikterow, der Erfinder des Weckers.

Auch Dmitri, 32, gehört zum Warschauer Kern. Er vermarktet als Produktmanager die Gesundheits-Apps, darunter auch den Yoga-Trainer, Kalorienmesser und Fitness-Coach.

Was offenbar gut klappt. Das App-Team von Viaden ist in einem Jahr von 4 auf 30 Mitarbeiter gewachsen. Der Diktatur zum Trotz entwickelt Viaden zahlreiche Apps für den kapitalistischen Markt. Viele von ihnen tauchen weltweit unter den Top 50 bei iTunes auf. In Deutschland hat Viaden aber noch ein Sprachproblem. "Wir kommen mit den Übersetzungen nicht hinterher", gibt Dikterow zu. Weshalb die deutschen Nutzer den Apps zwar gute Bewertungen geben, aber im App-Store-Forum oft auch schmunzelnd über die Übersetzungsfehler herziehen. Dass die Sprachtalente fehlen, ist ein Standortnachteil im abgeschotteten Weißrussland.

Bei Pokerspielen, die Dikterows Kommilitonin Luba Paschkowskaja, 26, vermarktet, ist das weniger ein Problem als bei den Fitnessübungen. Die Spiele sind nicht billig, verkaufen sich aber weltweit blendend gut. Für das Minsker Unternehmen ist der App-Handel jedenfalls ein Millionengeschäft – auch wenn Apple von jedem erwirtschafteten Dollar satte 30 Cent selbst behält.

Alexei Gromakowski, dieses Jahr erst 28 geworden, ist der Vierte im Bunde und hat den Job, einen Schritt weiterzudenken. Er soll die Handy-Apps mit sozialen Netzwerken verzahnen. Bald will er zum Angriff auf Zynga blasen.

Verzahnung von Spielen in sozialen Medien

Das US-Unternehmen verdient bei Facebook Geld mit Spielen wie FarmVille, Mafia Wars oder Zynga Poker. Um mitzudaddeln, müssen die Spieler allerdings an einem PC oder Laptop sitzen. Gromakowski will nun die Viaden-Pokerspiele mit Facebook verzahnen. Den Spielern soll gar nicht mehr auffallen, ob ihre Widersacher am virtuellen Pokertisch per iPad, Android-Handy oder Büro-PC zugeschaltet sind.

Zynga dominiert das Geschäft mit den sogenannten Social Games und will dieses Jahr noch an die Börse und dabei mindestens eine Milliarde Dollar einsammeln. Dass sich ausgerechnet eine Klitsche aus Minsk erdreistet, den Internet-Riesen anzugreifen, hat bisher kaum einer wahrgenommen. Das ist vielleicht sogar ein Vorteil.

Die Viaden-Büros liegen im zweiten Stock der Shoppingmall "Brücke" im Süden von Minsk. Einen Aufzug gibt es nicht. Wände und Parkett der Großräume sind weiß, schmucke, schwarze Ledersofas setzen den Kontrast. Die Stöckelschuhe von Natalia Bachar klacken auf den Holz-dielen. Kurz vor dem Abschied sagt sie trotzig: "Uns wollten schon mehrere Giganten kaufen, aber wir lassen uns nicht kaufen."

Derlei Selbstbewusstsein ist ungewöhnlich für ein Land wie Weißrussland, das in einer schlimmeren Wirtschaftskrise steckt als Griechenland. Seit Nachbar Russland den Bruderstaat nicht länger mit billigem Gas und Öl subventioniert, steigt das Defizit in Haushalt und Leistungsbilanz. Die Devisen werden knapp, immer wieder kommt es zu Hamsterkäufen.

Jeden Mittwoch verabreden sich junge Leute per Facebook, um auf öffentlichen Plätzen schweigend in die Hände zu klatschen – stiller Protest gegen Lukaschenko, der sein Land mit Vollgas an die Wand fährt. Jedes Mal lässt er Hunderte Teilnehmer verprügeln und einknasten. Um dem zu entgehen, haben sich die Weißrussen eine neue Protestform ausgedacht: Jeden Abend um sechs Uhr lassen sie den Wecker ihrer Handys klingeln.

Auch Mitarbeiter von Sam Solutions waren bei den Demos dabei. Aber bislang ist zum Glück keiner im Knast gelandet, sagt Andrei Bakhirev, Gründer und Geschäftsführer. "Als privates Unternehmen haben wir einen Vorteil", sagt der 47-Jährige mit dem feinen Sinn für Ironie, "wir müssen unsere Mitarbeiter nicht entlassen, wenn sie demonstrieren."

Sam Solutions arbeitet als Auftragsprogrammierer für Konzerne wie Siemens, SAP oder die Deutsche Telekom. Kritik am Staat kann sich Bakhirevleisten: Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, lebt in Lettland, und sein 1993 gegründetes Unternehmen ist in Gilching bei München registriert, obwohl fast alle der 600 Mitarbeiter in Minsk programmieren.

Alltagsverbesserer: Sam-Solutions-Gründer Andrei Bakhirev

"Unseren Kunden ist wichtig, dass sie mit einem deutschen Unternehmen arbeiten statt mit einem weißrussischen", sagt Bakhirev.

Trotzdem wollen seine Kunden immer wieder von ihm wissen: Ist Weißrussland stabil genug, um dort verlässlich arbeiten zu können? Und stets folgt dieselbe lapidare Antwort: "Das Land ist leider stabil."

Eine funktionierende Marktwirtschaft wird es in Weißrussland frühstens in zehn Jahren geben, glaubt Bakhirev. Er ist ein zupackender Mann mit Bogner-Jacke und Sportschuhen. Standortvorteile sieht der Wirtschaftsinformatiker dennoch: "Da die wichtigsten IT-Unternehmen der Sowjetunion ihren Sitz in Minsk hatten, lehren sie an unseren Universitäten schon seit den Achtzigerjahren Programmiersprachen." Das Ausbildungsniveau sei in Minsk daher höher als in den meisten EU-Staaten oder in Russland. Und wer nicht für den Staat arbeiten, dafür aber Geld verdienen will, "der hat keine Alternative zum IT-Studium".

Früher Berufsbeginn: Für Informatikstudenten bereits ab dem dritten Studienjahr

Gut 12 000 Informatiker verlassen jedes Jahr die Universitäten Weißrusslands. Die Zahl der Absolventen steigt, doch IT-Unternehmen wie Sam Solutions könnten gut noch mehr Nachschub gebrauchen: "Wir haben derzeit 50 freie Stellen, obwohl wir vierstellige Gehälter zahlen", sagt Bakhirev. "Die meisten IT-Studenten stehen schon ab dem dritten Studienjahr bei einem Unternehmen unter Vertrag."

So fern die Freiheit für die weißrussische Gesellschaft auch sein mag – im virtuellen Raum ist sie spürbar. So arbeiten die Tüftler von Sam Solutions etwa gerade an einer mobilen Plattform für den Alltag der Zukunft: Die App baut teilweise auf dem Prinzip des Netzwerks Foursquare auf, wo sich Nutzer mit Freunden über ihre jeweiligen Standorte austauschen und gegenseitig Tipps geben.

Mithilfe der Sam-Solutions-App sollen sich Handynutzer von ihrem aktuellen Standort aus dann auch noch über Rabatte bei McDonald’s, den besten Friseur und die nächste Zahnarztpraxis informieren, wobei die Unternehmen für ihre Erwähnung zahlen müssen.

Die Geschäftsidee für diese App stammt von einem deutschen Unternehmen, dessen Namen Bakhirev nicht nennen will. Seine IT-Leute basteln schon an der Testversion. "Geld werden wir damit vorerst nicht verdienen", gibt der Sam-Chef freimütig zu, "aber solchen Lösungen gehört die Zukunft."

Die Chancen dafür stehen gut. Der Diktator Lukaschenko lässt die IT-Branche nach wie vor in Ruhe. Der 56-Jährige ist gelernter Kolchosbauer. Was eine App ist, versteht er nicht. Deshalb gab es bisher auch keine Zwangsverstaatlichungen.

Die Nachfrage nach Apps aus Weißrussland steigt dagegen rapide an. Allein Viaden Mobile hat weltweit mehr als 2,5 Millionen Fitness-Apps verkauft. Niemand weiß, wohin die E-Business-Erfolge Weißrussland führen werden – auf keinen Fall aber zurück in die Sowjetunion.

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