Die Bandarbeiterin Annette Berg in der Produktionshalle des Marzipanproduzenten Niederegger in Lübeck ruft ihre Kolleginnen – nicht zum Streik, sondern zur Gymnastik. „Jetzt schalten wir alle mal die Fließbänder ab und stellen uns im Kreis auf.“ Für die nächsten zehn Minuten stehen alle roten Marzipanherzen still. „Wir strecken die Arme hoch und machen uns groß, dann die Schultern lockern!“
Die Arbeiterinnen in ihrer weißen Schutzkleidung und den Haarnetzen turnen während der Arbeitszeit, um die Rückenmuskulatur zu lockern. Die bezahlte Pause ist von der Geschäftsleitung gewollt. Die Manager haben dafür mehr als 30 Mitarbeiter zu Rückenexperten ausbilden lassen. Alle 640 Bandarbeiter machen mit, einmal pro Schicht. Im Werksslogan heißt die Veranstaltung „Marzipan-Ballett“.
Damit ist das Familienunternehmen mit seinen 800 Mitarbeitern Vorreiter unter den Mittelständlern. Nicht Altruismus hat das Unternehmen veranlasst, etwas für die Gesundheit der Belegschaft zu tun, sondern Kalkül: Gesunde Mitarbeiter sind produktiver und melden sich seltener krank. „Der Gesundheitsstand unserer Belegschaft ist um zwei Prozentpunkte auf 96,4 Prozent gestiegen“, sagt Personalchef Klaus Puschaddel. Auch die Mitarbeiterzufriedenheit, die jedes Jahr durch eine Umfrage gemessen wird, ist um 40 Prozent höher als im Vorjahr.
So nutzen Mittelständler ihre Stärken im Wettbewerb um Fachkräfte
Diese Einschätzung stimmt allerdings nur zum Teil. Auf die Frage, welche Kriterien bei ihrer Jobauswahl eine Rolle spielen, landeten ein angenehmes Betriebsklima und interessante Arbeitsinhalte an erster Stelle der Wunschliste der potenziellen Bewerber (jeweils 8,7 Punkte auf einer Skala von eins bis zehn).
Für die Studenten spielen außerdem Arbeitsplatzsicherheit (7,9 Punkte), gute Karrierechancen (7,8 Punkte) und eine gute Bezahlung (7,7 Punkte) eine wichtige Rolle bei der Auswahl ihres künftigen Arbeitgebers. Die Unternehmensgröße ist den meisten nicht so wichtig (4,3 Punkte). Auch der Standort und das Image des Unternehmens sind für viele Bewerber nicht ausschlaggebend (jeweils 6,6 Punkte).
Vieles deutet darauf hin, dass der Mittelstand und Familienunternehmen nicht stärker vom Fachkräftemangel betroffen sind als Großkonzerne. Denn fast 80 Prozent der Studenten planen, sich sowohl bei mittelständischen als auch in großen Unternehmen zu bewerben. Nur elf Prozent wollen ausschließlich bei Großunternehmen arbeiten; neun Prozent sind nur auf mittelständische Unternehmen fokussiert.
Die Studenten, die mittelständische Unternehmen als eher attraktiv bewertet haben, wurden gebeten, eine Begründung für ihre Einschätzung zu geben. Auf die (ungestützte) Frage gaben 28,8 Prozent an, dass sie kleinere und mittelständische Unternehmen besonders schätzen, weil sie familiär und weniger anonym sind und dort ein besseres Betriebsklima erwarten. Außerdem erhoffen sie sich mehr Verantwortung und Freiräume (16,4 Prozent) sowie eine größere Anerkennung ihrer Leistungen (12,3 Prozent). Elf Prozent wissen die flacheren Hierarchien und Strukturen zu schätzen. Auf diese Vorteile sollten Mittelständler und Familienunternehmen in ihrer Kommunikation mit (potenziellen) Bewerbern eingehen.
Aus Sicht der befragten Studenten könnten Mittelständler noch attraktiver werden, wenn auch die Verdienstmöglichkeiten wettbewerbsfähig sind. Das sagen 23 Prozent der Befragten. Sie glauben auch, dass Werbung, gute Öffentlichkeitsarbeit und ein informativer Internetauftritt dazu beitragen können, die Attraktivität eines mittelständischen Unternehmens zu steigern. "Daran sollten Familienunternehmen und Mittelständler arbeiten und sich – wenn nötig – professionelle Unterstützung holen", empfiehlt Dr. Peter Bartels.
Um viele Bewerbungen von hochqualifizierten Absolventen zu bekommen, sollten Unternehmen früh mit den potenziellen Bewerbern in Kontakt kommen. Das geht beispielsweise, indem sie Studenten anbieten, ihre Abschlussarbeit in Kooperation mit dem Unternehmen zu schreiben. Für über 90 Prozent der befragten Bewerber ist dieses Angebot attraktiv. Die Möglichkeit, sich intensiv kennen zu lernen, bevor ein festes Arbeitsverhältnis geschlossen wird, bieten natürlich auch studienbegleitende Praktika.
Darüber hinaus sollten Unternehmen Studenten gezielt ansprechen. Zum Beispiel über Stipendienprogramme, Recruiting-Veranstaltungen oder auf Jobmessen. "In der Kommunikation mit den möglichen Bewerbern sollten sich mittelständische Unternehmen darauf konzentrieren, die Bewerber gut zu informieren – und zwar zu den Punkten, die ihnen bei der Jobwahl am wichtigsten sind, also zu den genauen Arbeitsinhalten sowie Karriere- und Weiterbildungsmöglichkeiten", so die Empfehlung von Dr. Peter Bartels.
Allerdings müssten sich Unternehmen auch bewusst sein, sagt Bartels, dass Informationen nicht ausreichen. Sie müssen den künftigen Kollegen auch etwas bieten können: Und dazu zählen in jedem Fall ein wettbewerbsfähiges Gehalt und gute Karrierechancen.
In Konzernen ist betriebliches Gesundheitsmanagement, Fachkürzel: BGM, schon lange ein Thema, zwei Drittel der Großunternehmen verfügen inzwischen über ein Gesundheitsmanagement oder bauen es gerade auf. Im Mittelstand sieht es dagegen häufig düster aus. Zwar haben die Chefs die Vorteile einer systematischen Gesundheitsvorsorge für die Belegschaft in 80 Prozent aller Unternehmen erkannt, so das Ergebnis einer Untersuchung der Münchner Unternehmensberatung Roland Berger. Doch nur fünf bis zehn Prozent des deutschen Mittelstands beschäftigen sich systematisch mit dem Thema, hat das Bonner Marktforschungsinstitut EuPD Research herausgefunden. Mangel an Zeit, Geld und Personal werden als Hauptgründe genannt, warum nicht mehr passiert.
„Die Konzerne haben das Potenzial des betrieblichen Gesundheitsmanagements zuerst erkannt“, bestätigt Alfons Schröer, Geschäftsführer des Netzwerks „Unternehmen für Gesundheit“ in Essen. Die großen Betriebe beschäftigten immer häufiger Gesundheitsexperten oder Gesundheitsbeauftragte, die eng mit den Betriebskrankenkassen zusammenarbeiten. Andere bieten wie der Mittelständler Festo aus dem schwäbischen Esslingen freiwillige Vorsorgeuntersuchung.
„Dabei arbeiten wir mit unserem Werksarzt, aber auch mit niedergelassenen Ärzten und Sportinstituten rund um Stuttgart zusammen“, sagt Personalchef Matthias Kolb. Aber die Ergebnisse bleiben vertraulich. Rund 90 Prozent der Mitarbeiter nutzen das Angebot. „Für jeden außertariflichen oder leitenden Mitarbeiter stehen binnen fünf Jahren 1300 Euro zur Verfügung“, sagt Kolb. Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft KPMG mit Hauptsitz in Berlin hat sich als Partner Klinikketten gesucht, die deutschlandweit aktiv sind, sodass die Mitarbeiter vor Ort betreut werden können. „Doch bis der Mittelstand so weit ist, sind noch viele Schritte nötig“, sagt Schröer.
Gesenkte Krankenrate
Gründe, etwas für die Gesundheit zu tun, gibt es genug. Denn deutsche Arbeitnehmer fehlen immer häufiger im Job, weil sie krank sind. Im Durchschnitt waren Angestellte nach den Statistiken der Betriebskrankenkassen in Deutschland im vergangenen Jahr 16 Tage krankgeschrieben – vier Tage mehr als 2006. Die Techniker Krankenkasse kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Im Vergleich zu 2010 sind die Fehlzeiten der Mitglieder dort um vier Prozent gestiegen.
Dabei ließe sich die Krankenrate der Belegschaft mit vergleichsweise geringen Investitionen spürbar senken. Die Unternehmensberatung Mercer in Frankfurt kam in einer Untersuchung zu dem Schluss, dass die Angestellten in Firmen mit einem aktiven Gesundheitsmanagement im Durchschnitt 26 Prozent weniger häufig fehlen als ihre Kollegen in Firmen, die auf solche Vorsorge verzichten. Jeder investierte Euro für Rückengymnastik, Raucherentwöhnung oder gesunde Ernährung bringt den Unternehmen nach den Berechnung der Mercer-Berater an anderer Stelle Ersparnisse von mindestens drei, teilweise sogar bis zu zehn Euro, etwa weil sie weniger Mittel für ihre Krankenversicherungen oder die Beschäftigung von Aushilfskräften ausgeben müssen.
Bundesweit summieren sich die Kosten, die in den deutschen Unternehmen durch weitgehend vermeidbare Krankheiten wie Depressionen, Asthma, Bluthochdruck oder Rheuma bei Arbeitern und Angestellten in diesem Jahr anfallen werden, auf mindestens 20 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis einer Meta-Studie der Bertelsmann Stiftung und der Strategieberatung Booz & Company.
Und das ist erst der Anfang: Wenn nichts geschieht, werden die Kosten für die deutschen Betriebe in den kommenden Jahren explodieren, weil das Durchschnittsalter – und damit auch die Krankheitsanfälligkeit der Arbeitnehmer – steigt.
Im Betriebsalltag der meisten Mittelständler sind diese Erkenntnisse derzeit freilich noch nicht angekommen. Häufig scheitert die Einführung von Gesundheitsprojekten dort an der Einstellung des Chefs. „Gesundheitsmanagement ist kein Selbstläufer“, sagt Bernhard Badura von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Klare Vorschriften und die Ernennung eines Gesundheitsbeauftragten allein reichen nicht. „Wenn der Chef die tägliche Rückengymnastik für überflüssig hält und nur milde belächelt, werden auch die Mitarbeiter nur halbherzig dabei sein“, sagt Badura, der zahlreiche Gesundheitsprojekte in mittelständischen Unternehmen wissenschaftlich begleitet hat.
Niederegger-Personalchef Puschaddel hat inzwischen Phase zwei seines Gesundheitsplans eingeläutet: die Einbeziehung der Mitarbeiter in der Verwaltung. „Deshalb haben wir nach Rückenübungen gesucht, die man am Schreibtisch machen kann“, erzählt Puschaddel. Seitdem bekommen die Schreibtischarbeiter jeden Morgen von ihrem virtuellen Rückentrainer eine Erinnerungsmail: „Bitte wählen Sie Ihren heutigen Übungsbereich!“ Wer dann auf den Button für Schulter-Nacken-Übungen klickt, landet direkt im Trainingsprogramm. Jede der Einheiten dauert maximal fünf Minuten und umfasst drei Übungen.
Der virtuelle Vorturner begleitet die Niederegger-Belegschaft durch den Tag. Nachmittags erinnert er an die zweite, ebenfalls fünf Minuten lange Bewegungspause, einmal pro Woche kommt eine Mail mit allgemeinen Informationen über die Rückengesundheit. Ist das in der bezahlten Arbeitszeit drin? Der Zeitaufwand ist gering, die Wirkung groß. „Wir haben inzwischen deutlich weniger Klagen über Rückenschmerzen“, sagt Personalchef Puschaddel. Und im Vergleich zu anderen Unternehmen ist die Belegschaft überaus fit – trotz des relativ hohen Durchschnittsalters von 47 Jahren. Das ergaben Untersuchungen der Fachhochschule Lübeck mit den Krankenkassen Barmer GEK und AOK, die das Projekt fachlich begleiteten.
Fitnessstudio auf dem Firmengelände
Schöner Nebeneffekt: Das Engagement der Unternehmen für die Gesundheit fördert auch die Zufriedenheit der Beschäftigten. „Oftmals reicht es, die Mitarbeiter zu fragen, was sie brauchen, damit sie sich wohlfühlen“, sagt Julia Scharnhorst, Psychologin und Beraterin für Gesundheit im Unternehmen aus Hamburg. „Die Mitarbeiter müssen spüren, dass man sich um sie kümmert.“
Jens Wehmhörner, Geschäftsführer der Firma Frisia Möbelteile im ostfriesischen Leer, setzt auf diese Erkenntnis. Für 35.000 Euro spendierte er seinen 165 Mitarbeitern auf dem Firmengelände ein Fitnessstudio mit 28 Geräten. Vor einigen Monaten wurde das Betriebsfitnessstudio eröffnet, zwei Drittel aller Mitarbeiter haben die Geräte ausprobiert, viele trainieren seitdem regelmäßig. Für Wehmhörner ist das Engagement zur Herzensangelegenheit geworden „Der größte Teil der Belegschaft ist zwischen 40 und 50 Jahre alt“, sagt der Mittelständler, „noch können wir mit Sport, gesunder Ernährung und Raucherentwöhnung Erfolge erzielen, später kaum noch.“
Auch wenn der ostfriesische Möbelteilehersteller noch eine Ausnahme ist: „Hier entwickelt sich ein Riesentrend“, sagt Sebastian Campmann, Geschäftsführer des Fitnessgerätehändlers Sport-Tiedje in Schleswig. Das Geschäft vor allem mit mittelständischen Unternehmen entwickle sich gut und sei inzwischen zu einem wichtigen Geschäftsbereich herangewachsen. Allein in den vergangenen 20 Monaten hat Campmann über 200 Firmen mit 5 bis 250 Mitarbeitern mit Crosstrainern, Ergometern und Laufbändern beliefert. Nicht alle haben so viel investiert wie Wehmhörner im ostfriesischen Leer. „Knapp die Hälfte reicht bei kleineren Betrieben für den Einstieg“, sagt Campmann.
Weil das Geschäft mit den Unternehmen so gut läuft, hat Campmann inzwischen Sportwissenschaftler und Fitnesstrainer eingestellt, die die Firmenkunden an ihrem Standort beraten. Im ersten Schritt werden die Bedingungen in den Betrieben begutachtet, dann die Gesundheitsziele mit der Unternehmensspitze und den Mitarbeitervertretern diskutiert. Nach Einrichtung des Fitnessstudios in Schreibtischnähe übernehmen die Tiedje-Berater auch die Ersteinweisung an den Geräten.
Möbelzulieferer Wehmhörner freut sich jeden Tag über seinen Trainingsraum: „Unsere Leute sind jetzt einfach besser drauf.“ Sein nächstes Projekt ist schon in Vorbereitung. Wenn das Fitnessstudio weiterhin so gut angenommen wird, will er im kommenden Jahr direkt neben der Muckibude eine Sauna einrichten.